Mittwoch, 21. Dezember 2011

Handreichung zur Kirche für Journalisten

Liebe Kollegen, die ihr über die Schweizer Christen schreibet. Vermeidet den Unsinn, von der "Schweizer Kirche" zu schreiben und nur die Papstkirche zu meinen. Merkt auf! Dreierlei christliche Konfessionen kennt die Schweiz: die römisch-katholische (A: seit 325), die evangelisch-reformierte (B: seit 1523) und die christkatholische (C: seit 1873). Nur A anerkennt den Papst, nur A und C haben Bischöfe. Die Bischöfe von A sind in der Schweizerischen Bischofskonferenz zusammengefasst. Für C reicht ein Bischof für die ganze Schweiz. Die Landeskirchen (Kantone) von B sind föderal organisiert im SEK, "Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund", und haben eine Art siebenköpfigen "Bundesrat" mit Frauenmehrheit (!) und einem Präsidenten, der bleibt. Es ist derzeit Gottfried Locher, und wenn er sich "Bischof" von B nennt, dann will er provozieren! Der Sprecher der Bischofskonferenz ist Abt Martin (twitter!) von iSiedeln. Die Gurus von A heissen Priester, werden geweiht, dürfen weder Frauen sein noch welche heiraten.
In C dürfen auch Frauen Priesterweihe erhalten (geiles Thema!). In B werden die Orts-Gurus Pfarrer genannt, sie dürfen auch Frauen sein und auch heiraten. Sie werden nicht geweiht, sondern ordiniert (zu VDM = Verbi Divini Minister) durch die Landeskirchenleitung und dann installiert durch den Dekan ("Bezirksoberpfarrer", Leiter des Pfarrkapitels) nach Wahl durch die Kirchgemeinde. Alle diese Kirchen, die als öffentlichrechtliche Körperschaften nach Schweizer Staatskirchenrecht verfasst sind, haben demokratische Strukturen. A findet das nicht lustig. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist in jedem Kanton unterschiedlich geregelt. Das einzige Verbindende der drei Kirchen ist die Bibel und die gemeinsame Feier des eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettages seit 1832. Denn A und C feiern die Messe mit Eucharistiefeier (Hostie, Oblate), B feiert Gottesdienst manchmal mit Abendmahl (Toastbrot mit Traubensaft). Dies das Wichtigste. Haltet diese Lehren in Ehren. Studiert sie immer, bevor ihr zu Kirchlichem schreibt, auf dass eure Ignoranz verborgen bleibt.

Gedruckt in "reformierte presse"Nr. 48 2.12.2011 (online ref.ch)

Freitag, 9. Dezember 2011

Ulrich Ochsenbein (1811 - 1890): Vater des modernen Bundesstaates

Ulrich Ochsenbein ist eine prägende Figur der freisinnigen Regeneration und des frühen Bundesstaates. In diesem Post findet der Leser keine Eigenleistungen sondern nur gezielte Verweise auf die besten Informationsquellen im Netz. Nebst dem HLS , der "Encyclopedia Brittanica" und Wikipedia (auch alemannisch) ist hier vor allem die kürzlich veröffentlichte Biografie des Schweizer Journalisten Rolf Holenstein zu erwähnen. In 45 Sekunden orientiert dieses Video. Das Schweizer Radio kürzlich hat einen "Doppelpunkt" (8.12.2011, 20.03 Uhr, DRS 1) diesem herausragenden Schweizer der Regenerationszeit gewidmet. Zu seinem 200 Geburtstag hat sein Heimatort Nidau dem grossen Sohn einen Parcours gewidmet (Regionaljournal 11.11.2011). 1848 - 56 gehörte er dem ersten Bundesrat des Bundesstaates von 1848 an (Details zu seiner Wahl).

Flyer der Veranstaltung in Nidau

Interpellation von Philippe Messerli (EVP/Nidau)

Amazon-Kundenrezensionen


Notiz in "Journal 21"

Blocher referiert über Ochsenbein in Aarberg


Blocher referiert über Ochsenbein in Herrliberg (tele-blocher)

Dienstag, 6. Dezember 2011

Theologische Stellungnahme zum kirchlichen Gastrecht für die Occupy-Bewegung am Zürcher Stauffacher

Himmelshoergeraet I, 2007, Oel/Leinwand, Bild von Verena Mühlethaler

Pfrn. Verena Mühlethaler rechtfertigt das kirchliche Gastrecht der Occupy-Bewegung am Stauffacher

Folgende Erklärung wurde in der Zürcher City-Kirche "offener St.Jakob" am 26. November 2011 von Pfarrerin Verena Mühlethaler vorgetragen. Die Veröffentlichung in diesem Blog erfolgt mit der Einwilligung von Pfarrerschaft und Kirchenpflege der Kirchgemeinde Aussersihl.


Darf die Kirche politisch sein?
Das war eine der wichtigen Frage, die unser Entscheid, der Occupy-Bewegung Gastrecht zu gewähren, ausgelöst hat. Die Antworten gingen da ziemlich auseinander. Dazu möchte ich kurz Stellung nehmen.

Neben Gottesdienste feiern, Seelsorge, Bildung und sozialer Unterstützung (Diakonie) hat die Kirche meiner Meinung nach einen politischen Auftrag in unserer Gesellschaft.

Was meine ich mit politisch? Ich meine damit etwas ganz Grundsätzliches, wie es in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes „Politika“ zum Ausdruck kommt: Das meint alle Angelegenheiten, Tätigkeiten und Fragestellungen, die das Gemeinwesen („polis“, die Stadt), also die Allgemeinheit betreffen.

Der Grund, warum unsere Kirchen in diesem eben skizzierten Sinne einen politischen Auftrag hat, ist in der Bibel zu finden. Sie ist die Grundlegung und Richtschnur der Kirche. Die Bibel ist, nicht nur ein religiöses, sondern auch ein eminent politisches Buch ist. Ich möchte das an ein paar Beispielen ausführen:

Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch alle Schriften, die in der Bibel versammelt sind. In der Thora, dem Gesetz von Moses, stehen neben kultische auch Wirtschafts- und Sozialgesetze, die vor allem zum Schutze der Ärmsten da sind: den Sklaven, den Witwen, Waisen und Ausländer.

Deutlich wird das bei den Propheten: Das waren keine Wettervorhersager, sondern sie haben die gesellschaftlichen Missstände klar - und oft wortgewaltig – beim Namen genannt. Der Prophet Amos z.B. kritisiert, dass die wirtschaftlich Schwachen gepfändet, versklavt und unterdrückt werden, während die Reichen üppige Gelage feiern. Sie taten das im Namen jenes Gottes, für welchen die Armen und Unterdrückten Priorität haben. Des Gottes der will, dass in seinem Volk Recht, Gerechtigkeit und Güte verwirklicht werden.

Jesus stellte sich in diese Tradition. In seinen ersten öffentlichen Worten zitiert er den Prophten Jesaja und sagt: „ Der Geist Gottes ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen und das Jahr auszurufen, in dem alle von ihren Schulden befreit werden sollen“ (Lk 4, 18). Er nannte das auch das Reich Gottes. Ein Reich, in dem Gerechtigkeit und Frieden verwirklich sind. In der Bergpredigt sagt er, wir sollten uns nicht zu sehr um unseren eigene Bedürfnisse kümmern, sondern nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit suchen. Das Teilen und die gegenseitige Solidarität sind neben der Liebe Kennzeichen dieses Reiches. Diese Vision können wir ohne Gott nicht verwirklichen. Aber ebenso wenig kann Gott diese seine Vision ohne uns verwirklichen.

Unsere Kirche schafft das nie und nimmer alleine. Und darum freue ich mich sehr darüber, dass weltweit Menschen aufstehen und laut ein Halt rufen: So kann es nicht mehr weiter gehen. Und nach neuen Wegen suchen, wie der entfesselte Markt, insbesondere der Finanzmarkt, sich wieder mehr in den Dienst der Gesellschaft, nämlich der gerechten Verteilung des Wohlstanden, stellen kann. Und ich bin dieser Bewegung insofern dankbar, als dass sie unsere Kirche aus ihrer bürgerlichen Selbstgenügsamkeit aufweckt und sie an ihren eigenen, wichtigen Auftrag erinnert.

Schliessen möchte ich mit den Worten des Präsidenten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), Gottfried Locher: 

„Ohne Aussagen zum Hier und Heute ist das Evangelium von Jesus Christus kraftlos. Das Heil liegt nicht nur in der Zukunft, es beginnt jetzt: Christinnen haben sich gesellschaftlich einzumischen“


Presse: "Le Temps" (Genf), "Die Zeit" (Hamburg), Tristan Cef in "Tribune de Geneve" (Genf) via "Polit-blog", ref.ch, reformiert. de, " "Langenthaler Tagblatt", "Tages-Anzeiger", "wochenzeitung" "NZZ (16.11.2011)", "NZZ (28.11.2011)" "tele züri",

Predigten von Verena Mühlethaler im Netz:
Heiligabend 2011

Dienstag, 29. November 2011

Ein vergessener Mahner: Sigmund Widmer (1919 - 2003)

Dem "Stapi" Sigi Widmer einen Platz in der Willensnation zu sichern, scheint mir wichtig, denn er verkörpert idealiter den zwinglianischen Miliz-Bürger der vor 68er Jahre. Es ist kein Zufall, dass dieser Mann der bedachten Mitte 1982 aus dem Stadtpräsidium Zürichs schied (um der "bürgerlichen Wende" unter Thomas Wagner Platz zu machen), weil er den "Geist" der "Jugendbewegung der 80er" weder verstehen noch billigen konnte. Ich hole ihn hier aus der Versenkung, weil demnächst Texte von ihm hier wieder zugänglich gemacht werden sollen. Texte deren fundierte Eindringlichkeit vor dem Hintergrund der derzeitigen Vorgänge in der Welt an Aktualität gewonnen haben.

Sigmund Widmer war ein Vorbild meiner Jugend, in dem er Geschichte studierte, lehrte und auch machte als Offizier und Politiker. Seine Illustrierte Geschichte der Schweiz (1.Auflage 1965) bei Ex-Libris zeigt sein Engagement als kundiger Popularisator der vaterländischen Geschichte: sei war mein grosse Weihnachtsgeschenk 1977. Nach seinem Rücktritt 1982 wurde er Kolumnist im Züri-Leu. Der Chef-Redaktor Karl Lüönd druckte ihn in der erklärten Absicht "die linken Intellektuellen" zu ärgern. Tatsächlich wurden die Ausführungen des Mannes nur noch belächelt, auch wenn sie, gerade bezüglich seiner Skepsis gegenüber der Waldsterben-Hysterie im Nachhinein wahrhaft prophetisch waren.

Einen letzten Kampf focht Sigmund Widmer in der Zeit der Diskussion der Holocaust-Gelder. Er fühlte sich als durchaus kritischer Historiker von der Zeit überrollt und versuchte den Schaden von der Schweiz abzuwenden. Wir werden darum hier den einen oder andern Text von Sigmund Widmer demnächst einrücken.

Donnerstag, 17. November 2011

Fight for your right to Party

Folgende Carte Blanche aus dem Mamablog von Julian J. Schärer übernehmen wir aus folgenden Gründen: 1. Es meldet sich eine Jugend zu Wort mit dem Willen zur Verantwortung, 2. Der Text hat etwas im besten Sinne "bekenntnishaftes", 3. es scheint am Ende die Sehnsucht nach einer generationen-übergreifenden "Liturgie" auf, die sich aus dem herrschenden Mainstream des individualistischen Konsumismus abheben will.


»Fight for your Right to Party» sangen die Beastie Boys. Heute bedeutet Party für viele einfach nur noch zerstören aus persönlicher Wut.

Früher wurde dafür gekämpft, das man Partys feiern durfte. Heute sind Partys für viele einfach nur ein Ventil für Wut und Zerstörung: «Fight for your right to party» ist ein Song der Band Beastie Boys (im Bild oben).

Ich bin 19 Jahre alt und ein Wohlstandskind. Ich hatte nie echte Probleme oder Ängste und dafür bin ich dankbar.

Trotzdem, oder gerade deswegen, zieht es mich Wochenende für Wochenende an Partys. Auch und besonders an exzessive und illegale. Die ganzen Strapazen des mühsam und sinnlos erscheinenden Schulalltags, die nervigen Gesichter von Lehrern und Mitschülern, der sonst omnipräsente Weltschmerz gehen vergessen. Ich suche nicht Krawall, sondern ausgelassene Momente mit Freunden und Fremden, den Rausch und das Versprechen der Nacht, an einem Ort zu landen, den ich noch nicht kenne, Grenzen zu überschreiten, die mir bis dato unbekannt waren. Dieses Gefühl, wenn jegliches Streben vergeht, wenn bloss Glück und Zufriedenheit bleiben.

Allzu oft bleibt dieser Moment aus. Weil ich mir die Party nicht leisten kann oder zu jung bin, um reinzukommen. Weil die Leute bescheuert, unsympathisch, aggressiv sind. WeilTürsteher, Polizisten und besoffene Stressköpfe dich doof anmachen. Oder am schlimmsten: Die Musik so scheisse ist, dass es einer akustischen Vergewaltigung gleichkommt. Danach ist der Heimweg hart und einsam, es bleibt nur die Hoffnung auf das nächste Wochenende.

Mamablog

Ein Jugendlicher bewirft nach einer Party in Zürich Polizisten.

Fight for your right to party? Die hohen Ansprüche eines Wohlstandskindes machen vor Partys nicht Halt. Wo diese nicht erfüllt werden, lauert Frustration. Und die kennt viele Wege, um sich ihre Bahn zu brechen. Ich persönlich nehme keine Eisenstangen zur Hand oder werfe Steine und Armeemesser, wie andere Vertreter meiner Generation. Aber ich kenne jene, die es tun, und es hat selten ausschliesslich mit fehlenden Freiräumen zu tun, auch selten mit fehlendem Wohlstand, sondern mehr mit individuellen Problemen. Unter dem Beastie-Boys-Deckmantel wird der persönlichen Wut freien Lauf gelassen.

So sehr ich illegale Partys schätze, ich finde dieses Verhalten einfach nur kriminell. Natürlich spielt Gruppendynamik bei den Ausschreitungen eine Rolle. Aber ich und die «Szene», welche solche Veranstaltungen organisieren, wir müssen uns eingestehen, dass wir die falschen Leute anziehen. Diesbezüglich herrscht eine fatal naive Toleranz. Man denkt, es sind doch nur ein paar Spinner. Leben und leben lassen, wir wollen schliesslich auch illegale Partys feiern. Aber langsam denke ich, dass darunter noch eine grössere, gesellschaftspolitische Frage lauert.

Wir sind alle überfordert. Für die Politik sind die Krawalle ein Anlass, ihre Lieblingsbegriffe Kuscheljustitz und Integration in die Runde werfen, die Medien schlachten das Ganze aus und die Intellektuellen können sich mit ihren Kommentärchen dazu rühmen. Für Jugendliche wie mich sind sie nur ein weiterer Grund, neue Partys zu feiern. All dies zusammen ergibt diese Suppe von Gesellschaft, die mir einfach nicht schmeckt.

Wenn ich mich unter Freunden und Bekannten umhöre, stimmt mich das wenig optimistisch. Alles und jeder ist unverbindlich, spontan und von Kopf bis Fuss durchindividualisiert. Ein geschlossenes Agieren wird so fast unmöglich. Ich wünsche mir mehr Zusammenhalt und Organisation. Die Schnittmenge von Konsumenten und Produzenten muss sich vergrössern. Das würde von Wertschätzung zeugen. So dass alle als Gleichgesinnte, ohne Gesindel, die Musik, dieses Gefühl feiern können, das uns doch alle verbindet. Auch generationenübergreifend.

Auch wenn die gewalttätigen Chaoten nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen, müssen wir uns fragen: Wollen wir diese Gewaltbereitschaft noch länger hinnehmen? Dieser Verantwortung kann sich meine Generation nicht entziehen.

Wir danken Julian J. Schärer für diesen Beitrag.


Freitag, 4. November 2011

Lübbe: Das Recht der Religionen

aus der FAZ 26.04.2011

Der folgende Artikel nimmt Bezug auf die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Diese sind bezüglich des Staatskirchenrechtes den schweizerischen nicht unähnlich. Darum und weil Lübbe lange Jahre in Zürich wirkte, wo er jetzt auch wohnt, sei der Artikel - der in einer etwas zweifelhaften Umgebung vorgefunden wurde - in die Willensnation eingefügt.

Von Professor Dr. Hermann Lübbe: Emeritierter Professor für Philosophie und Politische Theorie (Universität Zürich) und Senior Fellow an der Universität Essen.

Lauter und häufiger hört man wieder in Deutschland Stimmen, die eine radikale Trennung von Staat und Kirchen verlangen. Die „Staatsleistungen“ an die Religionsgesellschaften seien endlich abzulösen, wie es die Verfassung selber verlange. Auch von den Kosten der Pfarrerausbildung an den Theologischen Fakultäten der staatlichen Universitäten seien die Länder zu entlasten. Den Einzug der Kirchensteuern sollten künftig die Kirchen selbst bewerkstelligen. Die Anrufung Gottes sei im Verfassungsrecht unpassend. Die Europäische Union habe doch darauf in ihrer Grundrechte-Charta, entgegen bischöflichen Wünschen, gleichfalls verzichtet. Wieso sei in Deutschland immer noch, sogar im Grundgesetz festgeschrieben, der Religionsunterricht „ordentliches Lehrfach“, dem einzig durch Berufung durch das Menschenrecht der Religionsfreiheit zu entkommen sei? Andere große und wichtige Länder der westlichen Wertegemeinschaft kennten doch dergleichen auch nicht – Frankreich zum Beispiel oder auch die Vereinigten Staaten.

Mit Argumenten wie diesen wird schließlich das ganze traditionsreiche deutsche Staatskirchenrecht in Frage gestellt. Die Kirchen ihrerseits fühlen sich kulturkämpferisch von einem neuen Laizismus attackiert, der wieder einmal die Religion vollständig in das Privatleben zurückdrängen möchte. Überreste laizistischer Orientierung gibt es tatsächlich. Wichtiger sind andere Gründe, die das Verhältnis von Staat und Kirchen neuerlich zum Problem haben werden lassen.

Worum handelt es sich? Zunächst: Die Präsenz der Kirchen in der kulturellen und politischen Öffentlichkeit hat sich durch die Kirchenaustritte geändert, und zwar dramatisch. Die Bewegung verläuft seit einem halben Jahrhundert kontinuierlich. Austrittsschübe gab es um 1970 und um 1990 mit jeweils nachfolgender Beruhigung. Die Protestanten sind von den Austrittsschüben am stärksten bedrängt. Aber die Katholiken folgen ihnen mit einigem Abstand in verblüffender Parallelität. Um 1950 waren noch gut 95 Prozent der Deutschen zugleich Kirchenmitglieder. Inzwischen sind es nicht einmal mehr 70 Prozent. Die Zahl der Städte wächst, in denen der Anteil der kirchenverbundenen Einwohner auf weniger als 50 Prozent gesunken ist. Das ist sogar ein europäischer Trend. Zu Beginn des Jahres 2011 gab der Wiener Erzbischof bekannt, in der Hauptstadt Österreichs betrage der Anteil der Katholiken gerade noch 40 Prozent.

Anders als Deutschland kennt Österreich einen staatlichen Kirchensteuereinzug nicht. So oder so: Die wichtigsten Einnahmen der Kirchen, die Steuern eben, sinken ihrerseits mit den Mitgliederzahlen. Kirchenleistungen, die unabhängig von den Mitgliederzahlen zu erbringen wären, werden mitunter unfinanzierbar. Die Absicht, Kirchensteuern zu ersparen, ist eines der stärksten Motive für den Kirchenaustritt – häufig in Verbindung mit der bemerkenswerten Auskunft, Christ könne man auch außerhalb der Kirche sein.

Das Motiv, Steuern zu sparen, entfiele bei einer staatlichen sogenannten Widmungssteuer, wie sie zum Beispiel Italien eingeführt hat. Diese Steuer verpflichtet die Bürger, den Steueranteil, den sie der Kirche nicht mehr zukommen lassen möchten, alsdann einer anderen gemeinnützigen Körperschaft zuzuwenden. Es hat seine Evidenz: Allein schon die Kirchensteuerfrage wird eine Revision des geltenden Staatskirchenrechtssystems erzwingen.

Schon hat man in den Kirchen hören können, komplementär zu den schwindenden Steuereinnahmen müssten dann eben Staatsleistungen umso wichtiger werden, deren sich die Kirchen in Deutschland erfreuen können – zum Teil in kontinuierlich gewährleistetem Ausgleich staatlicher Einziehung kirchlichen Vermögens, der Klöstergüter zum Beispiel, im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss des Jahres 1803. Das sind die „besonderen Rechtstitel“, die das Grundgesetz im fortgeltenden Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung erwähnt. Indessen: Derselbe Verfassungsartikel verlangt, die historisch begründeten Staatsleistungen zugunsten der Kirchen abzulösen, und es ist kein Zufall, dass inzwischen öffentlich verlangt wird, diesen Verfassungsauftrag endlich zu erfüllen.

Wieso geschah das bislang nicht? Formell fehlt es an einem Bundesgesetz, das nach dem Wortlaut der Verfassung „Grundsätze“ für die fragliche Ablösung aufzustellen hätte. In der Realität ließe sich freilich mit diesem unerfüllten Verfassungsauftrag gut leben, und für die Kirchen gilt das zumal. Jetzt also wird öffentlich an diesen Auftrag erinnert, und es handelt sich dabei nicht um eine juristische Konsequenzmacherei, die verlangt, dass doch, was seit mehr als neunzig Jahren von der Verfassung verlangt wird, endlich auch zu geschehen habe. Die Kirchenaustritte haben den Kreis der Wähler anschwellen lassen, die als Steuerzahler für jene Staatsleistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden möchten.

Gewiss: Die „Rechtstitel“, die die Staatsleistung der Kirchen historisch legitimieren, sind gut beurkundet. Aber ihr Alter macht sie allmählich kraftlos. Man stelle sich eine Haushaltsdebatte in einem Parlament vor, in der die Verteidiger traditioneller Leistung zugunsten kleiner Kirchenstiftungen, argumentativ bedrängt, schließlich auf den Paragraphen 35 des Reichsdeputationshauptschlusses als letztinstanzliche Verpflichtungsgrundlage verwiesen. Man hätte mit verständnislosem Kopfschütteln, ja mit Gelächter zu rechnen.

In der politischen Quintessenz heißt das: Der verlässlich realisierbare materielle Wert vieler Anspruchsgrundlagen der Staatsdotationen nimmt fortschreitend ab. Die Kirchen könnten gut beraten sein, den noch realisierbaren Wert der verfassungsgemäßen Ablösung dieser Dotationen alsbald in Anspruch zu nehmen.

Auch subtiler als Geld wirkende Faktoren gibt es, über die das geltende Staatskirchenrecht dazu beiträgt, die öffentliche kulturelle und politische Präsenz der Kirchen zu schwächen, anstatt zu stärken. Das gilt auch für den Religionsunterricht, den das Grundgesetz in öffentlichen Schulen als „ordentliches Lehrfach“ festschreibt. Zugleich aber gewährleistet die Verfassung, ungleich wichtiger, die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und damit das Recht religionsmündig gewordener Schüler, sich vom staatlichen Religionsunterricht abzumelden. Gelegentlich taten das viele, heute eher nicht mehr.

So oder so sind die Religionsunterrichtsdissidenten verpflichtet, an einem Ersatzunterricht teilzunehmen, der vielerlei und jedenfalls „Ethik“ bietet. Das hört sich gut an. Auch unsere Religionen und Konfessionen halten uns zur Beachtung der Regeln guten Lebens an, und das sollte auch für diejenigen gewährleistet bleiben, die im Übrigen auf Religion keinen Wert mehr legen.

Religion nach freiem Belieben, Ethik unbedingt – so also wollen es bei uns Verfassung und Unterrichtsgesetze. Tatsächlich ist, wenn man am staatlichen Religionsunterricht festhalten möchte, eine andere Gewichtung von Religion einerseits und Ethik andererseits rechtlich nicht möglich. Aber diese Regelung beschädigt zugleich öffentlich die Wahrnehmung dessen, worum es sich bei der Religion überhaupt handelt. Unser Staatskirchenrecht fördert die Neigung, die Religion hauptsächlich noch wegen ihres moralischen Mehrwerts zu schätzen.

Ein Anzeichen dieses Vorgangs, der die religiöse Kultur tiefreichend schädigt, ist der inflationäre Gebrauch des Wertebegriffs in der Politik. In den kanonischen Schriften unserer religiösen und ethischen Überlieferung kommt der Begriff Werte gar nicht vor. Er entstammt der Ökonomie. „Wert“ – das ist ein Begriff für unsere umständehalber stets schwankende Schätzung von Gütern und Tugenden. Und der Wert des Kulturguts der Religion sinkt, wenn sie in unserer Religionsunterrichtsgesetzgebung hauptsächlich ihrer ethischen Gehalte wegen verpflichtend gemacht wird.

Dabei ist es nicht schwer, sich daran zu erinnern, worum es sich bei der Religion weit über Moral hinaus und sogar vorrangig handelt. Die drei ersten der Zehn Gebote der mosaischen Gesetzestafel haben mit Moral nicht das mindeste zu tun, die Hochfeste des christlichen Kirchenjahres von Weihnachten über Ostern bis Pfingsten ebenso wenig, und sogar das Grundgesetz schützt den christlichen Sonntag und nicht einen Wertebekenntnistag als Tag der „seelischen Erhebung“.

Gottesliebe ist als religiöses Gebot aus dem kategorischen Imperativ nicht ableitbar, und besser als bei Immanuel Kant, der über die religiösen Riten der Tibeter zum Beispiel in verblüffender, aber im Aufklärungszeitalter verbreiteter Weise spottete, ließe sich bei Friedrich Schleiermacher lernen, worum es sich bei der Religion weit über die Moral hinaus handelt.

Einst hat das Staatskirchenrecht vor allem die Aufgabe gehabt, in strikter Parität die Rechte und die öffentliche Präsenz der Großkirchen unserer nachreformatorischen, konfessionellen Traditionen gesetzlich zu festigen und zu sichern. Heute erweist sich die Fähigkeit des Staatskirchenrechts als unzureichend, die unaufhaltsamen Pluralisierung religiöser Kulturen zu verarbeiten. Der Versuch, die muslimischen „Religionsgesellschaften“, soweit sie überhaupt schon rechtlich konstituiert sind und somit auch eindeutig identifizierbare Mitgliedschaften kennen, analog zu den Kirchen zu kulturell und politisch repräsentativen Körperschaften des öffentlichen Rechtes erheben zu wollen, ist in absehbarer Zeit weder aussichtsreich noch sinnvoll.

Die Orientierung am Staatskirchenrecht bei Bemühungen, den auch für muslimische Kinder schulrechtlich verbindlichen Religionsunterricht endlich effektiv anzubieten, beschädigt sogar die Geltung des Staatskirchenrechts durch den Erweis seiner einschlägigen Untauglichkeit.

Die vermeintlich gute politische Meinung ist, die muslimischen Kinder aus der „Koranschule im Hinterhof“ zu emanzipieren und mit Hilfe der Staatsschule an den Segnungen der Aufklärung teilhaben zu lassen. Verkannt wird darüber in schwerwiegender Weise die Rolle, die die Religionen in Aufklärungsprozessen tatsächlich spielen. Religionen machen politische Aufklärung dauerhaft nicht über eine staatliche Unterrichtung über sie. Staatlich verbindlich gemachter und akademisierter Religionsunterricht erscheint vor diesem Hintergrund eher als ein Relikt aus der Vormodernität einer kleinen Zahl paritätisch privilegierter Vorzugskonfessionen.

Die Grenzen des Staatskirchenrechts spiegeln sich auch im jüngeren Umgang mit Religionsgemeinschaften, die im Unterschied zum inzwischen machtvoll präsenten Islam sehr klein sind. Für die Zeugen Jehovas zum Beispiel gilt das. An Wahlen pflegen diese Zeugen in ihrer Rolle als Bürger bekanntlich nicht teilzunehmen. Man versteht durchaus, dass zuständige Landesbehörden fanden, hier mangle es an „Staatsloyalität“, was mit dem begehrten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts unverträglich sei. Andererseits ist die Teilnahme an Wahlen keine gesetzliche Bürgerpflicht. So entschied das Bundesverfassungsgericht dann zugunsten der Zeugen Jehovas. Ernst Wolfgang Böckenförde hatte schon 1999 befunden, dass, wenn der Umgang der Zeugen Jehovas mit dem Wahlrecht ausschlösse, sie zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu machen, doch auch „für die katholische Kirche bis zur Erklärung der Religionsfreiheit des 2. Vatikanischen Konzils, wäre sie nicht schon Körperschaft gewesen, eine Anerkennung“ als solche nicht hätte erfolgen dürfen.

Es erübrigt sich, mit analogen Geschichten fortzufahren. In ihrer Summe machen sie die Sachzwänge sichtbar, die rechtspolitisch einen Wandel des privilegierenden Staatskirchenrechts zu einem allgemeinen Religionsrecht nahelegen. Der vormalige nordrhein-westfälische Kultusminister Paul Mikat (CDU) hatte diesen Wandel schon vor dreißig Jahren angekündigt, und der Grazer Jurist Wolfgang Mantl prognostizierte kürzlich vor dem Hintergrund eines instruktiven Berichts über die älteren und konsolidierteren Erfahrungen Österreichs mit der religionsrechtlichen Integration des Islams, die „Pluralisierung religiöser Assoziationen“ werde „früher oder später . . . zur US-amerikanischen Situation der Minimierung des staatlichen Interesses an der öffentlich-rechtlichen Körperschaftsverfassung der Religionsgemeinschaften führen“. Für ideelle Gruppierungen, also Weltanschauungsgemeinschaften und religiöse Assoziationen, biete sich doch „die Rechtsform des Vereines“ an.

In der Tat kennt das amerikanische Religionsrechtssystem die Schwierigkeiten nicht, die unserem Staatskirchenrecht zwangsläufig aus der rasch fortschreitenden Pluralisierung des religiösen Lebens erwachsen. Selbstverständlich kann man die für Amerika schon immer typische strikte Trennung von Staat und Kirche nicht einfach auf europäische Verhältnisse übertragen. Aber es lohnt sich, bei den Erörterungen über die Zukunft des Staatskirchenrechts europäischer Tradition die Vorzüge gegenwärtig zu halten, die mit einer konsequenteren Trennung von Staat und Kirche gerade auch für die öffentliche Präsenz der Religion in Kultur und Politik verbunden sein können.

Die amerikanische Verfassung verbietet strikt die Gewährung staatlich etablierter Privilegien zugunsten der Religionen, Konfessionen und ihrer Kirchen. Andererseits erwarten die Bürger von ihren Präsidenten religiöse Bindung und Prägung, und ohne diese Prägung wären sie kaum in ihr Amt gewählt worden. Ist der Präsident ein Christ – und das waren die Präsidenten der Vereinigten Staaten bislang ausnahmslos -, so legt er beim Amtseid die Hand auf die Bibel. Sogar öffentlich darf er in Amtsausübung beten. Betanlässe gibt es in der Politik fortdauernd reichlich – den frommen Wunsch „God bless you!“ zum Beispiel am Ende von Staatsbesuchen in katastrophenbedrängten armen Ländern. So tat es Clinton mehrfach in Afrika. Auf jeder Dollar-Note sogar wird inschriftlich Gottvertrauen bezeugt. „Zivilreligion“ nennt man das.

Demgegenüber wirkt bei uns das öffentliche Leben politisch hochsäkularisiert und das christliche Leben hochverkirchlicht. Just die Privilegien, die das Staatskirchenrecht den Kirchen gewährt, sind besonders wirksame Faktoren dieser Verkirchlichung. Die gemeine christliche Prägung unserer Kultur wird demgegenüber öffentlich bis in die Politik hinein eher zögerlich, ja gelegentlich beflissen zurückhaltend bekundet. Sogar in der Rechtsprechung in Religionsangelegenheiten wirkt sich das aus.

Der „Kruzifix-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 belegt das eindrucksvoll. Die Richter-Mehrheit, die diesen Beschluss trug, war sichtlich bemüht, das Schulkreuz in seinem Symbolsinn kirchennah als verbindliches Zeichen eines zentralen und verpflichtenden Glaubensgehalts zu interpretieren. Das Kreuz verlange mehr als eine grundrechtlich unschädliche „Anerkennung“ des Christentums als eines „prägenden Kultur- und Bildungsfaktors“, so hieß es in der Urteilsbegründung. Entsprechend sei seine Anbringung in öffentlichen Schulräumen mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit der Schulpflichtigen unverträglich.

Ebendas kann man auch anders sehen – wie die beim Kruzifix-Beschluss unterlegene Richter-Minderheit, welche fand, unbeschadet des sich kirchenintern mit dem Kreuz stets verbindenden Glaubensanspruchs sei es doch weit über die Grenzen der Kirchenräume hinaus ein omnipräsentes Symbol „der christlich geprägten abendländischen Kultur“. Von den Wirkungen und Manifestationen dieser Kultur sich vollständig fernhalten zu sollen, könne auch dem Staat realistischerweise nicht angesonnen werden. Sähe man es nicht so, wären schließlich auch noch die Kreuze aus zahllosen Landes- oder Gemeindewappen zu entfernen oder Kreuze, die Dissidenten, ja auch Muslime oder Juden sich bislang auf Urkunden, Amtsschreiben oder in Gestalt von Bundesverdienstkreuzen gefallen lassen müssen, darüber hinaus sogar auch noch die Mutter Gottes im Dienstsiegel der staatlichen Ludwig-Maximilians-Universität auf den Doktor-Urkunden schiitischer Ärzte aus Teheran, die in München ihr Studium abgeschlossen haben.

Wäre das alles ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit und damit verfassungswidrig, so wären es schließlich die zahllosen Kreuze auf unseren Friedhöfen auch noch, soweit es für sie nach Lage der Dinge bei der Erfüllung gesetzlicher Bestattungspflicht auch für Nichtchristen in Einzelfällen keine Alternative gibt. Sogar die zumeist von Angehörigen privatrechtlicher Vereine errichteten Gipfelkreuze wären eine Verfassungsbeschwerde wert, nämlich dann, wenn für ihre Kosten (was häufig vorkommt) auch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln der Gemeindekasse geflossen wären.

Es hat seine Evidenz: Die fraglichen kulturellen Bestände verlangen eine andere Art der Beschreibung. In ihrer Summe repräsentieren sie bis in die öffentlichen Räume hinein eine religiös mitgeprägte Mehrheitskultur, die Angehörigen religiöser Minderheiten gar nichts aufdrängt. Sie verlangt lediglich den Respekt ihrer faktischen Mehrheitspräsenz: So lebt man hier eben seit langem – mit Kreuzen im Wappen von Trier, Wien oder Schwyz, mit der kulturellen Dominanz christlicher Feiertage im Kalender und auch noch mit einer staatlichen Denkmalpflege, die unbeschadet der Gleichverteilung des Grundrechts der Religionsfreiheit gemäß der Prägung unserer Landschaften und Altstädte disproportional häufig mit der Restauration von Klöstern, Kathedralen und Dorfkirchen beschäftigt ist.

Wahr ist, dass unsere Kultur sich gegenwärtig einschließlich ihrer religiösen Herkunftsprägungen dramatisch wie nie zuvor wandelt und pluralisiert. Die Freiheit der Religion macht es möglich. Aber ein Recht religiöser Minderheiten auf paritätische Präsenz im öffentlichen kulturellen Raum folgt aus dieser Freiheit nicht. Im staatskirchenrechtsfreien amerikanischen Exempel heißt das: Man verstünde durchaus, wenn dort gern auch einmal die Muslime – immerhin etwa drei Prozent der Bürger des Landes – Zeugen des Beginns der Präsidentschaft eines ihrer Gläubigen würden, bei welchem die Schwurhand beim Amtseid, statt wie bisher auf der Bibel, auf dem Koran läge. Aber die Kultur, die im Rahmen gleich verteilter Bürgerrechte mit ihren Pluralisierungsfolgen unverändert vorherrscht, beruht nun einmal auf Mehrheit, die dauert – von strikt herrschender Religionsfreiheit begünstigt und von keinem auf Paritätsgewährleistung verpflichteten Staatskirchenrecht ernsthaft bedrängt.

Samstag, 29. Oktober 2011

Der Souverän will keine "Konfessionslose"


„Wahltag ist Zahltag“ spricht der Volksmund. Es soll hier darum der elektorale Erfolg des nicht gewählten Präsidenten der Zürcher Sektion der „Freidenker“ und Frontmannes der „Konfessionslosen“, Andreas Kyriacou („klinischer Linguist“, „Neuropsychologe“, Doktorand, Unternehmer oder je nachdem auch „Berater für Wissensmanagement“) untersucht werden. Zur Vorgeschichte: Andreas Kyriacou politisierte auch bei den Grünen des Kantons Zürich, wo er in verschiedenen Vorständen (Stadt, Kanton, Nationalpartei) anzutreffen ist. Die Wahl in den Zürcher Kantonsrat verpasste er aber auf der Liste der Grünen Partei, während die "Piraten" immerhin das beachtliche Resultat von 0,58 % (Nullkommafünfacht) erreichten. Nachdem er als Schulpfleger resignierte, verlegte er, der auch im Vorstand der Secod@s mitwirkt, seine Aktivitäten auf die „Freidenkerei“. Eine gute Wahl, denn der überalterte serbelnde Verein (gegr. anno 1908) schaffte es ab 2008 mit rührigem Aktivismus der neuen Geschäftsführerin Reta Caspar (NZZ-Porträt) sich in den Medien überaus effektvoll darzustellen („Club“, „Arena“, „Beobachter“, „NZZ am Sonntag“). Auch Andreas Kyriacou ist ein Meister der PR. Er durfte im „Mamablog“ und im edleren „NZZ-Votum“ für seine Anliegen der religionsfreien Gesellschaft werben. Ja die NZZ adelte den Freidenker-Präsidenten, der auch in der „Zeit“ von einer Journalistin porträtiert wurde (als Werbung zum denk-fest der Freidenker), in dem sie ihm als „Bildungsexperten“ die Spalten der renommierten Seite „Bildung und Gesellschaft“ (NZZ vom 26.Oktober 2011: „Missionarischer Alleingang“) füllen liess. Dies weil die Freidenker gegen das neue, mühsam geschaffene Fach „Kultur und Religion“ ein Sperrfeuer der Kritik erhoben. Kyriacou beschloss nach der Nichtwahl auf der Liste der Grünen und ermutigt durch mediale Aufmerksamkeit, eine Allianz der "Rationalisten". Zu der schon gut eingeführten "Alternativen Liste" (Grosser Erfolg Volksabstimmung gegen die Pauschalbesteuerung) wollte er mit dem Treibsatz der trendigen "Piraten" (in Winterthur schon ein Sitz im Gemeindeparlament, gemeinsames Ziel: "Laizismus") die Sache der Konfessionslosen verknüpfen.

Wie gesagt: Wahltag ist Zahltag. Es lohnt sich anhand der Panaschierstatistik die Wirkung Kyriacous im Parteispektrum zu prüfen. Wir stellen die Panaschierstimmen Kyriacous jenen der am meisten als „konfessionell“ exponierten Kandidatin einer Kleinpartei: der in den Nationalrat gewählten Winterthurer Stadträtin Maja Ingold (EVP) sowie dem berühmtesten Zürcher Kandidaten Christoph Blocher (SVP) gegenüber.

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(Grafik zusammengestellt aus der Panaschierstatistik des Statistischen Amtes des Kanton Zürichs)

Die grafische Darstellung zeigt überdeutlich: der konfessionslose Kyriacou holte am meisten Panaschierstimmen bei den "Progressiven" links der GLP (Grüne, SPS), dort ist er - wenig überraschend - "wählbarer" als Chrisoph Blocher. Aber selbst bei bei diesen Parteien überwogen die Panaschierstimmen für die gestandene bürgerliche Politikerin der EVP haushoch. Einzig auf seiner eigenen Liste schlug Kyriacou (erwartungsgemäss) Christoph Blocher und Maja Ingold. Immerhin holte er mehr Panaschierstimmen auf der SVP Liste als Christoph Blocher. Was aber deutlich sichtbar wird: die Wahlempfehlung für Christoph Blocher des NZZ-Chefredaktors und Konsorten (Filippo Leutenegger &Co.) wurde deutlich gehört. Die FDP ist die einzige Partei, die - SVP inklusive!! - Christoph Blocher elektoral mehr honorierte, als die trockene, pragmatische Maja Ingold. Die Sache der "Konfessionslosen" ist aber trotz grossen medialen Lärms beim Stimmbürger - wie auch die Piratenpartei - als Spinnerei von Extremisten erkannt worden: Chancenlos. Noch am 1. Oktober 2011 schmeichelte sich der "Rationalist" Kyriacou auf dem Blog des Ständeratskandidaten der Grünen mit folgenden Worten ein:

Die Listenverbindung Konfessionslose, Piraten & AL hat den Sitz fast auf sicher. Wer auch immer aus dieser Listenverbindung das Rennen macht, die oder der Gewählte wird in Bern mit grösster Wahrscheinlichkeit zuallererst bei der grünen Fraktion anklopfen. Die Listenverbindung hat also das Potential, die Grünen auf schweizerischer Ebene zu stärken – und innerhalb der Fraktion das rationalistisch tickende Lager…

Die Zürcher Grüne Liste schafft es auch ohne Steigbügelhalter, den vierten Sitz zu halten.

Seit dem 24. Oktober wissen wir: weder gelang es seiner Listenverbindung den einen Nationalratssitz zu erobern, noch gelang es den Grünen ohne Unterstützung Kyriacous und seiner "Rationalisten" den vierten Sitz im Kanton Zürich zu sichern. Kyriacou scheitert auf der ganzen Linie. Schade um die AL (Alternative Liste), eine Partei die Erfahrung und kluge Köpfe hat. Aber man soll eben nicht im Trüben fischen wollen. Was ich schon immer vermutete: diese "Rationalisten" sind besoffen von der "Vernunft" aber sie haben wenig "bon sens" und schon gar keinen "common sense".



(bildquelle: Konfessionslose.ch offizielles Foto),

Dienstag, 25. Oktober 2011

#occupyparadeplaz in der reformierten presse

Liebe Besetzer des Lindenhofs, folgende Kolumne erschien am vergangenen Freitag, den 21. Oktober in der "reformierten presse", dem Organ, das alle Pfärrer, Kirchenpfleger, Kirchenleitungen und Angestellten der reformierten Landeskirchen (in allen Kantonen) der Schweiz zu sehen bekommen.
Hier im Blog ist auch die in der Kolumne erwähnte Karte beigefügt. Damit es alle sehen und lesen und nachvollziehen können. Zürich ist die Wiege der Reformation, wo der "Geist des Kapitalismus" (Max Weber) flügge wurde. Vielleicht kann hier aus den Aschen des alten Finanzplatzes ein neuer Phönix auferstehen.

Die Spitze von Manhatten 1703, einst "Neu-Amsterdam" dann "New York" mit der Wall-Street






Seit letztem Wochenende wird auch in Zürich demonstriert. Eine ältere Frau, die am Fusse des Bachtels vor allem der Kontemplation lebt, ist auch aufgebrochen und hat sich unter die demonstrierende Jugend gemischt. Ein grosser Umbruch sei im Gange, beschied sie mir. Ist Religion doch kein Opium, wenn diese Frau die Klause der Kontemplation verlässt und sich unter die Jugend mischt? Ist es Abrahams alter Ur-Durst nach Gerechtigkeit, der sich hier Bahn bricht und über den Atlantik wieder nach Zürich zurückbrandet? „Wall-Street“ ist zur Chiffre für das börsentechnische Babel geronnen. Die „Märkte“ sind der Moloch unserer Tage. Die „unsichtbare Hand“ - von Adam Smith als gütige Linke des Schöpfers gedacht - ist zur scheffelnden Schaufel ruchloser Gierhälse verkommen. Was sagen wir Reformierte dazu? Steht hier nicht die jüdisch-christliche Tradition des „Guten Hirten“ auf dem Spiel? Dieser in gefestigtem Gottvertrauen vorausschauende, gerechte Hüter und Heger, der auf dem Fünfliber prangt. Er ist umgeben von den 13 Sternen der 13 Orte der Alten Eidgenossenschaft und dem der Vulgata entnommenen Motto: „Dominus providebit“. Diesem Ethos des Guten Hirten dankt Wall-Street ihren Aufstieg zum Nabel des Finanzvertrauens. Im historischen Atlas von New York (Henry Holt&Company, 1994) ist auf Seite 40 ein Plan von New York um 1703 zu sehen. Wir sehen da, das geistliche Fundament der heutigen „Wall-Street“. Da lag südlich die „Old Dutch Church“ (Calvinisten), Richtung Broadway das „Presbyterian Meeting House“ (Calvinisten) am Broadway neben der Trinity Church war die „Lutheran Church“, weiter nördlich die „French Church“ (Hugenotten) und noch weiter die „New Dutch Church“ (Calvinisten). Die Wurzeln der „Wall-Street“ liegen also in Zürich, wo 1519 ein Hirtensohn aus dem Toggenburg ausgestattet mit Hirtenherz und -gewissen und dem besten Humanistenwissen seiner Zeit die Kanzel des Grossmünsters bestieg. „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes“ Wer hört ihn heute?