Freitag, 24. Juni 2011

Das Ehebuch des Patriarchen


«Schriften» von Heinrich Bullinger

Von Giorgio Girardet

Die Ratlosigkeit zwischen den Geschlechtern in Alt-Europa ist gross: Die Emanzipation der Frau scheint gelungen, die Kinder fehlen. Die zu Ruhm und Rang gelangten Frauen beschäftigen sich nun im Feuilleton mit den demografischen Kollateralschäden ihres Erfolges. Etwa die Zeit-Redaktorin Susanne Gaschke (eine Tochter): «Die Emanzipationsfalle: Erfolgreich, einsam, kinderlos», oder Iris Radisch (drei Kinder), von deren Buch «Die Schule der Frauen» hier kürzlich die Rede war, ganz zu schweigen von Eva Hermans (ein Sohn) Bestseller. Tatsache bleibt, dass die europäischen Staaten ihre Bevölkerungszahlen nur dank ständiger Zuwanderung halten können. Wie war der Geschlechterdiskurs beschaffen, der Europa die Unterwerfung der Welt ermöglichte?

Heinrich Bullingers Buch «Der christliche Ehestand», 1539 in Zürich verfasst, gibt einen Einblick in die protestantische Ehelehre und den damaligen Geschlechterdiskurs. Das Buch, das in seiner englischen Übersetzung zu einem Bestseller wurde – es erlebte allein zwischen 1541 und 1575 neun Auflagen und war von grossem Einfluss auf die Eheliteratur Englands im 16. und 17. Jahrhundert –, ist nun im Rahmen einer Bullinger-Studienausgabe in einer modernen Übersetzung von Detlef Roth wieder greifbar.

Bullinger, der als Nachfolger des früh gefallenen Zwingli Calvin elf Jahre überlebte, war zuletzt eine Art Patriarch des europäischen Protestantismus. Die Ehe ist für ihn, der zusammen mit Anna Adlischwyler elf Kinder hatte, die einzige menschliche Einrichtung, die schon im Paradies bestanden hat, und mit Paulus ist sie die wirksamste Abhilfe gegen Unzucht. Der Mann sei das Haupt der Familie, wie Christus das Haupt der Kirche ist – Aufopferung inklusive. Klare Vorstellungen hatte er zur Rollenteilung:

«Was ausserhalb des Hauses ausgeführt werden muss, wie reisen, dem Erwerb nachgehen und Geschäfte erledigen, kaufen und verkaufen und dergleichen rechtmässige Dinge, ist die Aufgabe des Mannes. Er soll wie ein fleissiger Vogel hin und her fliegen, die Nahrung und die notwendigen Dinge sammeln und unermüdlich zum Nest tragen. Alles, was auf diese Weise ins Haus gebracht wird, soll die Frau sammeln und versorgen, nichts verderben lassen und alles, was im Haus zu tun ist, unermüdlich und unverzagt erledigen.»

Bullinger, Heinrich. Schriften.
Theologischer Verlag. 7 Bände zu je Fr. 58.–

Erschien zuerst in der "Weltwoche" 14/2007. Abonnement hier.

Literatur im Netz zu Bullingers Ehelehre:

Burghartz, Susanna. Zwischen Integration und Ausgrenzung: Zur Dialektik reformierter Ehetheologie am Beispiel Heinrich Bullingers. In: L'Homme. Z.F.G. 1997, Sn. 30 - 42.

Roth, Detlef. Heinrich Bullingers Eheschriften. In: Zwingliana XXXI (2004). Sn. 275 - 309.

Montag, 13. Juni 2011

Heinrich Bullinger: Vater der Reformierten Kirche

Theologe, Historiker und Schriftsteller: Am 18. Juli feiert der Nachfolger Huldrych Zwinglis seinen 500. Geburtstag

Giorgio Girardet

Herkunft und Jugend

Das aargauische Landstädtchen Bremgarten an der Reuss, in dem Bullinger am 18. Juli 1504 als Sohn des Priesters Heinrich Bullinger geboren wurde, hatte sich trotz der Eroberung des Aargaus Vorrechte und stolzen Bürgersinn bewahrt. Zwischen den drei Vororten der Eidgenossenschaft Zürich, Bern und Luzern und der Tagsatzungsstadt Baden gelegen, nahm man hier lebhaften Anteil am politischen Geschehen. In den Wirtschaften des Städtchens prahlten die Veteranen der Burgunderkriege mit ihren Heldentaten, während windige Werbeoffiziere mit der Einwilligung der Tagsatzung junge Männer für die Schlachtfelder Europas anwarben. Diese Eindrücke sammelte der begabte Bremgartner Stadtschüler.

Ein Jahr nach der Schlacht von Marignano (1515) wurde der Zwölfjährige zur Vorbereitung des Studiums nach Emmerrich an den Niederrhein zu den strengen Brüdern vom Gemeinsamen Leben geschickt. Die Brüdergemeinschaft lebte nach der Regel des Heiligen Augustinus, der sich auch der 21 Jahre ältere Martin Luther 1505 als Mönch der Augustinereremiten unterworfen hatte.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Schriften Luthers, 1519, zog Bullinger rheinaufwärts und bezog die Universität Köln. Hier schloss er sich unter dem Eindruck einer umfassenden humanistischen Bildung und der Lektüre der Kirchenväter und der Reformatoren dem neuen Glauben an. Im Jahr, in dem Zwingli mit der Rechtfertigung des Wurstessens während der Fastenzeit den Reformationsprozess in Zürich lostrat, schloss Bullinger seine Studien als Magister ab und wurde - unter der Bedingung, nicht an der Messe teilnehmen zu müssen - Lateinlehrer an der Klosterschule von Kappel.

Drama der Freiheit

Während in Zürich Huldrych Zwingli die Heiligenbilder aus den Kirchen entfernte, vertiefte sich Bullinger in die römische Geschichte und inszenierte mit seinen Lateinschülern die Sage der Lucretia, in welcher er den Auszug der tugendhaften Römer aus der Königsherrschaft in die Republik mit kräftigen Sätzen gestaltet. Waren nicht auch die frommen Eidgenossen aus der Adelsherrschaft in die Freiheit des Bundes getreten? War nicht jetzt ein grosser Auszug der Gläubigen aus der ägyptischen Gefangenschaft der Papstkirche im Gange?
Bullinger begann, die Geschichte der Eidgenossenschaft als diejenige eines Volkes zu verstehen, das im Bund mit dem Allmächtigen - wie das Volk Israel - seinen Weg geht. War nicht gerade in der durch Solddiensten reich gewordenen Eidgenossenschaft eine Umkehr nötig? Und wenn Gott in so vielen Schlachten den Schweizern beigestanden hatte, war es nicht folgerichtig, dass sich alle Eidgenossen dem neuen Glauben anschlossen?
1525 gab er einen Abriss der Geschichte der Eidgenossenschaft als Kampfschrift in den Druck. Bullinger war zu einem durchaus eigenständigen Verfechter der Reformation Zwinglis geworden. 1528 wurde er Mitglied der Zürcher Kirchensynode und nahm an dem Berner Religionsgespräch (Disputation) teil. Im folgenden Jahr trat er die Pfarrstelle seines Vaters im damals reformierten Bremgarten an.
Eintritt in die Verantwortung


Hier erlebt er die Zuspitzung der Feindschaft zwischen Zürich und den katholischen fünf Orten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug) in der Religionsfrage. Zwingli suchte eine militärische Entscheidung in der Eidgenossenschaft, bevor sich im Reich eine geschlossene Front gegen die Reformation aufbauen konnte. Kam es im ersten Kappelerkrieg 1529 noch ohne Kriegshandlungen zu einem für die Reformierten nicht ungünstigen Friedensschluss, so endete der zweite Kappelerkrieg (11. Oktober bis 20. November 1531) mit der Niederlage der Reformierten und dem Schlachtentod Zwinglis.

Heinrich Bullinger wurde mit seiner Familie und dem Vater aus Bremgarten vertrieben und kam als Flüchtling nach Zürich. Nach dem Friedensschluss donnerte Bullinger am 28. November im Grossmünster eine Predigt von der Kanzel, dass viele den gefallenen Zwingli zurückgekehrt wähnten. Die Rufe von Bern, Basel und Appenzell ausschlagend, wartete Bullinger, bis ihm am 9. Dezember der Rat, den Zwingli-Gefährten Leo Jud bewusst übergehend, die Übernahme der Nachfolge Zwinglis antrug.

Bullinger handelte sich Bedenkzeit aus und bestand auf der klaren Trennung von Politik und Predigtamt. Wohl sollten sich die Pfarrer der Einmischung in das weltliche Regiment enthalten, wie dies der Rat forderte, doch durfte die Verkündigung in keiner Weise eingeschränkt werden.

Bullinger bedang sich ausdrücklich das Recht aus, die Obrigkeit wie jedes andere Gemeindeglied im Rahmen des «Prophetenamtes» ermahnen und kritisieren zu dürfen. Damit legte er das Fundament für ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Landeskirche und Regierung. Zürich wurde mit Bullinger weder ein fundamentalistischer Gottesstaat, wie das Genf Calvins, noch sank die Kirche zu einer völlig instrumentalisierten Staatskirche ab, wie die Anglikanische Kirche in England.

Sichern und einigen

Sogleich sicherte Bullinger die junge Zürcher Kirche in ihren Institutionen. Eine neue Synodalordnung gab 1532 der Pfarrerschaft einen festen Rahmen. Das Ansehen der Zürcher Theologenschule hob er durch die Berufung von Lehrern mit Ausstrahlung. Die ständige Überarbeitung des Bibeltextes in der Prophezei wurde kompetent fortgesetzt, und schon 1544 kam, 13 Jahre nach Zwinglis Erstausgabe, eine vollständig überarbeitete Ausgabe der Zürcher Bibel in den Druck. Zwingli hatte aus militärischen Gründen den Zusammenschluss mit Luther gesucht. Bekanntlich scheiterte die Marburger Disputation 1529 an der Abendmahlfrage. Die Zwinglianer, Calvinisten und weitere süddeutsche Städte lehnten auch ausdrücklich das Augsburger Bekenntnis der Reformierten im Reich von 1530 ab.

Im Hinblick auf ein grosses Konzil aber sollten wenigstens die Reformierten aus der Eidgenossenschaft geschlossen auftreten. Bullinger wirkte 1536 an der Ausarbeitung des ersten helvetischen Bekenntnisses in Basel federführend mit. Auch mit Calvin, der in dieser Sache dreimal zu Bullinger nach Zürich reiste, konnte 1549 im so genannten «consensus tigurinus» eine gemeinsame Position in der Abendmahlfrage gefunden werden.
Ab- und Ausgrenzen

Da war das grosse Konzil, das Luther schon 1518 vergeblich gefordert hatte, schon im Gange. Papst Paul III. (1534-49) hatte es nach langen Diskussionen um Beschickung und Tagungsort 1545 eröffnet. Bullinger verhinderte gegen starken miteidgenössischen Druck die Teilnahme der reformierten Schweizer Städte. Die Katholische Kirche überprüfte in Trient Dogmenschatz und ihr Verhältnis zur Tradition und verbesserte Missstände in Überwachung und Ausbildung der Priesterschaft. Bulllinger beobachtete von Zürich aus aufmerksam die Entwicklungen.

Durch ein Netz von Korrespondenten und ein gastfreundliches Haus war er mit Menschen in ganz Europa im Austausch und war wohl der «bestinformierte Eidgenosse seiner Zeit» (Emidio Campi). Wie sich Katholische und Reformierte Kirche wechselseitig abgrenzten und abschlossen, so hatte sich auch die Reformierte Kirche mit fundamentalistischen Abweichlern auseinander zu setzen.

Zwingli hatte nie die Obrigkeit in Frage gestellt und noch bis 1525 an der lateinischen Messe festgehalten. So musste sich die Landeskirche von den ungeduldigen Täufern abgrenzen, welche schon 1523 die Messe aufgeben (Gefährdung des friedlichen Reformationsprozesses) wollten, die Kindertaufe (keine Kontrolle der Bevölkerung durch Taufregister) und die Übernahme von Verantwortung und Ausübung von Gewalt im weltlichen Regiment ablehnten (auch Militärdienstverweigerung) und sich ausserhalb der Territorialgemeinden zu Konventikeln zusammenfanden (keine öffentliche Kontrolle der Gemeinschaften). Sieben Täufer wurden in Zürich ertränkt.

Heinrich Bullinger konstruierte das Feindbild «Täufertum», indem er in einer Verschwörungstheorie jegliches Täufertum mit dem gewaltbereiten sozialrevolutionären Reformator Thomas Müntzer in Verbindung brachte, der sich auf die Seite der aufständischen Bauern im Reich geschlagen hatte und 1525 enthauptet worden war. In einer ersten gedruckten Schrift gleich zu Amtsantritt und im umfassenden Werk 1560 «Ursprung, Entwicklung, Sekten und Wesen der Wiedertäufer», das er an 101 hoch gestellte Persönlichkeiten in ganz Europa zur Warnung zusandte, schuf er ein Feindbild, das noch Jahrhunderte nachwirken sollte.
Prüfung und Vermächtnis

Die grosse Arbeitslast konnte der Vater von elf Kindern nur dank der treuen Mithilfe seiner Frau Anna Adlischwyler bewältigen. Ein harter Schlag war daher ihr Tod durch die Pest am 25. September 1564. Das Konzil von Trient war auch beendet, Bullinger wähnte sich nun in der Endzeit. Während einer Pesterkrankung formulierte er für sich 1566 das Glaubensbekenntnis, das als «zweites Helvetisches Bekenntnis» eine grosse Ausstrahlung in der reformierten Welt erleben sollte: vom Wilden Westen bis Siebenbürgen und Ostungarn dient es noch heute reformierten Gemeinden als Glaubensgrundlage.

Er schrieb, sein Lebenswerk verteidigend, die Reformationsgeschichte (1567) und versuchte noch einmal, die Geschichte der Eidgenossenschaft in einer Gesamtschau zu überblicken (1568). Doch die konfessionelle Spaltung verunmöglichte es ihm, die Geschichte der Eidgenossen als Geschichte eines im Bund mit Gott voranschreitenden Volkes darzustellen. Und so beschränkte er sich in den letzten Lebensjahren, die Geschichte der Zürcher (Tigurinerchronik), als Vorgeschichte der Reformationsgeschichte, niederzuschreiben. Am 14. Dezember 1574 übergab der Siebzigjährige die Reinschrift der Tigurinerchronik und eine Abschrift der Reformationsgeschichte den Pflegern des Grossmünsters. Neun Monate später, am 17. September 1575, verstarb der «Vater der Reformierten Kirche» in Zürich.

Späte Anerkennung

Bis zum Ende des Dreissigjährigen Krieges (1648) waren die stark praxisbezogenen Schriften Bullingers und die eher dogmatischen Calvins ähnlich stark verbreitet. Der 1613 zum Pfarrer am Grossmünster und Antistes der Zürcher Kirche gewählte Johann Jakob Breitinger (er setzte das Theaterverbot in Zürich durch) nannte ausdrücklich Heinrich Bullinger und nicht Zwingli sein Vorbild. Doch über die Reformationsjubiläen 1619, 1719 und 1819 wurde immer mehr Huldrych Zwingli zum «Held» der Zürcher Reformation. Die Editionstätigkeit im 19. Jahrhundert im Rahmen des «Corpus Reformatorum» endlich fokussierte sich auf Luther, Calvin und Zwingli und blendete Bullinger aus. Die Tigurinerchronik aber wurde vom Historiker Johannes von Müller, der am Ende des 18. Jahrhunderts die Schweizer- geschichte neu erzählte, neben der Chronik des Aegidius Tschudi hoch geschätzt und zur Edition empfohlen.

Erst im Rahmen der geistigen Landesverteidigung erinnerte man sich des prinzipienfesten und besonnenen Zürcher Kirchenführers wieder. An der Landi 1939 überragte das Porträt des wortgewaltigen Publizisten an der Ehrenwand im Pressepavillon alle «Schweizer Journalisten aus sechs Jahrhunderten».

Gymnasiasten brachten 1940 sein «Lucretia»-Drama wieder zur Aufführung, und in Zürich wurde 1941 jenes Denkmal am Grossmünster eingeweiht, das ihn als Beschützer der Glaubensflüchtlinge in Zürich ehrt. Mit der Gründung des Instituts für Reformationsgeschichte 1965 hat eine systematische Editionstätigkeit seines Werkes eingesetzt. 1975 wurden an einem Kongress zum 400. Todesjahr erste Forschungsergebnisse zusammengetragen. 2004 hat der Regierungsrat 300 000 Franken gesprochen, um eine wissenschaftliche Edition der Tigurinerchronik zu erarbeiten, und im Rahmen des Bullinger-Kongresses werden im August Forscher aus der ganzen Welt sich in Zürich austauschen.

Publizistische Tätigkeit von Bullinger
zo. Anlässlich von Heinrich Bullingers 500. Geburtstag finden diesen Sommer in den Kantonen Zürich und Aargau vielfältige Aktivitäten statt. Die Zentralbibliothek Zürich (ZB) erinnert mit einer Ausstellung im Katalogsaal an die publizistische Tätigkeit von Huldrych Zwinglis Nachfolger (bis 28. August).

Die Ausstellung zeigt, wie Bullinger das gedruckte Wort einsetzte, um seine Zeit mitzugestalten. Er nutzte das Medium des Druckes, um Zwinglis Ansehen und die Zürcher Reformation zu verteidigen. Bei aller Polemik war er ein Mann der Versöhnung und erreichte wenigstens eine Einigung unter den Reformierten Kirchen, wie der Consensus Tigurinus von 1549 und das Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 bezeugen. Dagegen fand er keine Gnade gegenüber den Täufern und anderen religiösen Abweichlern. Sein scharfes Urteil und das harte Vorgehen gegen sie sollten die Zürcher Kirche vom Vorwurf der Ketzerei freisprechen.

Bestinformiert über die Zeit

Durch seinen umfangreichen Briefverkehr gehörte Bullinger zu den best-informierten Männern der Zeit. Er verfolgte nicht nur den Fortgang der Reformation in Frankreich, England und in den Ländern des Ostens, sondern nahm auch am Schicksal unterdrückter Protestanten regen Anteil und bot seine Hand zur Hilfe. Ohne Bullinger hätte es in Zürich die englischen Flüchtlinge oder das Asyl für die reformierte Gemeinde aus Locarno nicht gegeben. Die Ausstellung beachtet auch Bullingers Kommentare zu biblischen Büchern und seine Lehrpredigten, die unzählige Theologen in vielen Ländern beeinflusst und so die reformierte Tradition geprägt haben. Neben der Theologie beschäftigte sich der Zürcher Antistes intensiv mit der Geschichte. Auch die Gesellschaftspolitik liess ihn zur Feder greifen: So verfasste er ein Drama, das den Solddienst an den Pranger stellte.

Von Bullingers Taufhemd bis zu seinen theologischen Hauptwerken zeigt die Ausstellung Objekte aus den Beständen der ZB, die einen guten Teil des gedruckten und ungedruckten Nachlasses des Reformators besitzt.

Quelle: Zürcher Oberländer, 14.07.2004

Freitag, 10. Juni 2011

Stuckrads erster Ernstfall


Giorgio Girardet ©

Heute Dienstag geht zum ersten Mal die Sendung « Stuckradbei den Schweizern» über den Fernsehsender (SF 2, 22.55 Uhr). Grund genug nachzufragen, wer es ist, der uns auf den Spuren Goethes und Asterix’ heimsucht.

Eigentlich. Eigentlich hätte es eine Begegnung mit Foto geben sollen. Eigentlich. Denn eigentlich wollten wir dem Menschen hinter der Medienhype «Benjamin von Stuckrad-Barre» (BvSB) leibhaftig begegnen. Heute um 22.40 geht zum ersten Mal «Stuckrad bei den Schweizern» auf SF 2 (22.40) über den Sender. Und ich wollte wissen, wer uns da auf den Spuren Goethes und Asterix’ heimsucht.

Aber das Objekt der Neugierde muss, zwischen Drehs und Grippe noch Artikel für «Weltwoche» und «Spiegel» fertigschreiben, lässt es durch Produzentin Lea Rindlisbacher («eqal visual productions») ausrichten. Denn BvSB, der nunmehr Dreissigjährige, gilt als begabter Beobachter und Archivar der deutschen Spiel- und Spassgesellschaft (Remix 1 & 2). Und von Kokain, Alkohol, Bulimie und Psychosen geheilt, will er sich nur noch an seinem geschriebenen Werk messen lassen. Wohlan.

Werther. Durchgestartet ist der damals 23-Jährige 1998, als die Blasen noch intakt waren, mit dem Buch «Solo-Album». Den «Werther» einer Generation will darin Katherina Rutschky im «Merkur» erkannt haben. So, so. Tatsächlich wird im «Solo-Album» eine spätpubertäre männliche Adoleszenzkrise beschrieben. Nicht aber rückblickend aus der Nervenheilanstalt, wie in Salingers «Fänger im Roggen», nicht als tragische Krankheit zu Tode, wie in Goethes «Leiden des jungen Werther».

Nein, der WG-untaugliche Ich-Erzähler und Musikredaktor, der sich auf den Partys seiner verachteten Zeitgenossen mit deren Koks und Bier die Birne zudröhnt, leidet zwar ein gutes Jahr auf der A- und B-Seite des «Solo-Albums» unter der Trennung von seiner langjährigen Gespielin, wechselt am Ende aber einfach den Ort: neue Stadt, neue Wohnung, neue Ikea-Möbel, neuer Job, neue Frau, neues Glück. Der Blues einer Popp-Krise (der spassgesellschaftliche GAU) wird so zu Pop-Literatur.

Ironie & Onanie. «Solo-Album» heisst im Wesentlichen Ironie und Onanie. Letztere wird nicht nur reichlich beschrieben, sondern auch als Mittel der Selbsterkenntnis gepriesen. Nie sieht der Ich-Erzähler seine Situation schärfer, nie steht ihm der protestantische Selbstekel besser, als wenn er sich einen runtergeholt hat. Hier verfliessen die Grenzen zwischen Autor, Icherzähler, Inszenierung und Suchtkrankheit. Nach der Medienstadt Hamburg zog es BvSB in die Fernsehstadt Köln, wo er erst für den wortgewaltigen Küppersbusch («Privatfernsehen»), dann für die Ikone des medialen Zynismus «Dirty Harry» zu 175 Mark pro gesendeten Gag als Gagschreiber («unverzichtbare Qualifikationen: abgebrochenes Studium und Wehrdienstverweigerung») tätig war. Der nach Ironie, Testosteron und Liebesschmerz riechende Erstling liess BvSB zum erotischen Fantasma einer Frauengeneration auswachsen, was in einer kurzen Bett- und Weggefährtenschaft mit der TV-Ikone Anke Engelke gipfelte.

Schlaf & Traum. Doris Knecht, das wilde Wiener Weib, ohne dessen Mutterschaftsabenteuer eine treue Leserschaft im Millionenzürich nicht über das Wochenende kommt, zählt BvSB bei wachem Bewusstsein unter die zu vernachlässigenden Zeitgenossen, im Schlaf aber geistert Benjamin in der Prinzenrolle durch ihre feuchten Alpträume.

Diese erotische Tiefenwirkung der Marke BvSB nutzte auch Roger Köppel, der den vom engelkenschen Liebeskummer Geplagten für ein halbes Jahr nach Zürich auf die Redaktion der «Weltwoche» holte. Die hippe Edelfeder, der FAZ-Sonderberichterstatter für die Partys der «Generation Berlin», sollte ihm helfen, die «Weltwoche» zum Anmachthema im Lichthof der Universität werden zu lassen. Das kam BvSB gelegen, denn mittlerweile war aus der im Berliner Adlon inszenierten «tristesse royale» von 1999 («the most stinky German book», höhnte man in England) eine «tristesse réelle» geworden. 9/11, der Champagner ausgegangen, die Blasen geplatzt und Hartz IV am Horizont.

Es blieb dann bei vier Monaten «writer in residence», da der «Solidschweizer» lernte, dass er besser Ersatz bereit hielt, wenn «Stuckrad-Barrière», wie er «Weltwoche»-intern bald genannt wurde, im Schreibstau versackte.

Himmel & See. Angesichts der Bläue des Himmels und des Sees von Zürich schwor BvSB mit Hilfe des Ex-Alkis Udo Lindenberg dem Kokain und dem Alkohol ab und schloss nach Hamburg (print!), Köln (TV!) und Berlin (high-life) die schweizerische Medienmetropole (Ruhe, Print& TV!!) in sein Herz, denn für einen Pop-Literaten muss es der Wohnsitz Sybille Bergs sein. Nun wird der Inhaber einer B-Bewilligung also in neun Folgen jene Klischee-Schweiz abnudeln, die er sich mit seinen Zürcher Freunden zusammenfabuliert hat.

Erraten: Basel, das Tessin, die Romandie und auch Bern kommen vorerst nicht vor. Die Schrumpfschweiz eines Zürcher Medienschaffenden beginnt mit A (Aargauer, Aeschbacher, Appenzeller) und endet vorzeitig mit Z (Züri, Züri, Züri). Die Tamedia war sogleich zur Stelle. Der «Tagesanzeiger» eilte zum Interview herbei und Esther Girsberger öffnete wohlwollend mütterlich die Spalten ihres «Fokus» in der «Sonntagszeitung» für den schillernden Pastorensohn und Schlingensief-Bewunderer. Ringier liefert im «Sonntagsblick» den Sendungs-Jingle in Printversion und wartet auf die Home-Story für die «Schweizer Illustrierte» aus dem Zürcher Seefeld.

Fragen über Fragen. Stehts so schlimm um uns? Müssen wir uns von BvSB erklären lassen; «wie, wofür, wogegen und womit es hier so läuft, das Leben»? Der Fernsehkritiker der «Weltwoche», das sensible Jungtalent G.M. Cavelty, kommentiert die Ankunft des Teutonen aus dem sicheren Paris. Unter akkulturierten deutschen Journalisten macht sich eine spürbare Irritation breit, als könnte der Kollege mit dem Familiennamen eines Reichswehroffiziers und dem Schnösel-Image alte Ressentiments wecken.

Eine Leserbriefschreiberin, «eine Deutsche, die zwanzigmal so lange wie er (BvSB) in Zürich lebt», fragt: «Warum, wozu, weswegen und von welcher Warte aus fragen Sie solche Dinge, Herr Stuckrad-Barre?» Tja, das hätten wir auch gern gewusst. Eigentlich.

«Stuckrad bei den Schweizern», SF 2, heute Di 22.55 Uhr.

Basler Zeitung|15.02.2005|Seite: 3

Trittst in Turnschuhen daher. Pop-Autor Stuckrad-Barré verkocht in neun Folgen die Schweiz. Foto SFDRS

Merci, Harry!

Die Weltkunstgemeinde verabschiedete sich am Freitag im Berner Münster vom Ausstellungsmacher Harald Szeemann.

«Papst der Kunst», «König der Kunst». Welches Protokoll würde diesen Abschied fassen? Das Präludium in C-Dur von Johann Sebastian Bach erklingt von der Orgel des Berner Münsters nachdem die Trauerfamilie das gut gefüllte Hauptschiff des Münsters durchschritten hat. Eine Video-Montage von «Aufdi» Auf der Mauer evoziert noch einmal den Toten: sein zärtlicher Seherblick über dem anarchischen Bart, der Rauch der Zigaretten und seine ausholende Gestik, die Visionen in die Luft malt. Bei der Arbeit, im Kreis der Familie, mit Ingeborg, mit Künstlerfreunden. Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss erinnert, wie sie ihm auf dem Monte Verità das erste Mal begegnet sei, wie er galvanisierend von sozialer Utopie und sozialer Verantwortung gesprochen habe. Dann, wie sie von der von ihm geleiteten Biennale in Venedig in eine kleinkarierte Expo-Debatte im Nationalrat zurückgekehrt sei. Flugs habe sie das vorbereitete Manuskript beiseite gelegt und vom Lichtspiel der Lagune, von der Poesie im Arsenal in Venedig und von diesem weltbürgerlichen Schweizertum Szeemanns gesprochen. Und als Drittes hob die ehemalige Kulturministerin Szeemanns Liebe für die Kleinstaaten hervor. Er habe im edlen Sinne des Wortes das Ausstellungsmachen als «l’art pour l’art» etabliert: merci Harald.

«Harry pussy». Als Freund und Vertrauter erinnerte Fritz Gerber, Ehrenpräsident der Hoffmann-La Roche, den grossen Freund Harry, der unverbrüchliche Treue hielt und in schwierigen Situationen als Zuhörer und Ratgeber mit Telefon und Fax stets verfügbar war. Von seiner Bindung zu Bern und zur Mutter, von seinem Schmerz über die Vertreibung aus der Vaterstadt nach der umstrittenen Beuys-Ausstellung in der Kunsthalle, die ihn die «Agentur für geistige Gastarbeit», sein Ein-Mann-Unternehmen gründen liess. Er bedankte sich auch bei seiner Lebenspartnerin Ingeborg, der er mit dem Satz: «Il mio ticino e la donna che amo» ein Denkmal gesetzt habe. Der Künstlerfreund Jason Rhodes aus Los Angeles erhob die Arme im Münster, «channelte» sich auf Harry und hat für den Anlass folgende Durchsage erhalten: «Harry pussy» deren verstörend-obszöner Gehalt «a hairy pussy» er dann eindringlich vorsichtig auslotete.

In der Laudatio liess Wieland Schmid, einer seiner Weggefährten aus der frühen Kuratorenzeit, die Höhepunkte von Szeemanns Wirken noch einmal Revue passieren. Und wie Bachs Fuge in C-Dur die Feier beschloss, dachte der Chronist: kein anderer Raum hätte diese Feier gefasst, wenn nicht die gotische Schatulle seiner Mutterstadt, wo der mystische Hang zum Gesamtkunstwerk versteinerte Form geworden ist.

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Basler Zeitung|25.04.2005|Seite: 6

Die Umkehrung des Pissoirs

Giorgio Girardet

Bitte keine Berührungsängste: Nationalrat Oskar Freysinger überschreitet auf Einladung der Netzzeitung «:rubikon» Lötschberg und Aare und debütiert als Literat vor einem Dutzend Medienvertreter und ebenso vielen Kunstsinnigen im Zürcher Dada-Haus.

Kein Exponent der Zürcher-SVP hat je einen Fuss dahin gesetzt - und es war auch am Mittwoch keiner da: in dem von der Häuserbesetzerszene mit Hilfe der rot-grünen Stadtregierung und «kapitalistischer» Sponsoren ertrotzten Kulturschuppen an der Spiegelgasse. Hier schleuderten in den Jahren, als die SVP gegründet wurde und Ernst Jünger Eindrücke für «Stahlgewitter» sammelte, waffenscheue Emigranten im «Café Voltaire» den DADAismus gegen den Irrsinn des Ersten Weltkrieges, unweit schmiedete Lenin Revolutionspläne. Nun schweigen die Waffen, der Marxismus-Leninismus ist gefallen, aber die Schweiz soll ein Hort urchiger Freyheit bleiben - so will es die SVP - und mit ihr auch Oskar Freysinger, Basketballer, Gymnasiallehrer, Gründer der SVP Wallis, Nationalrat und zweisprachiger Barde. Mit Christoph Mörgeli will er ein «rechtes» Kulturkonzept basteln. Der Reihe nach.

«dr tyfel». «Pissoir-Poet» und «Pinocchio»: So lancierte ihn der «Blick» als nationale Figur und der Vorstand des schweizerischen Autorenvereins verlieh ihm durch die verwehrte Aufnahme zusätzliche Publizität. Der braungebrannte Bergler mit dem Lagerfeld-Schwänzchen stellte sich denn auch mephistophelisch-ironisch auf wallissertytsch als «dr Tyfel» vor. Sein ansprechender Vortrag im grauen Zweireiher hilft drei von schiefen Metaphern durchwucherten Texten aus seinem Erstling «Brüchige Welten» auf die Beine. Eine kafkaeske Parabel über baulich-gesellschaftliche Eingriffe («Wohnungsangst»), ein Ganovenstück über Moral und die Unentrinnbarkeit der «höheren Macht» («Vorahnung») und die symbolschwangere Darstellung eines «kalten Ehekrieges» in «trauter Herd». Die kruden Schilderungen von Schiessereien, Vergewaltigungen und talibanischem Analverkehr («Berührungsängste»), auf die sich der Boulevard stürzte, bleiben ungelesen. Jenes seien eben die «besten Beispiele» für das, «was er mit Sprache erreichen» möchte, erklärt er im Gespräch mit Martin Otzenberger, Geschäftsführer der Zeitschrift «:rubikon».

Kampfkuh. Die Unart, seine Werke auch gleich zu interpretieren, teilt der Walliser Platzhirsch mit dem international bejubelten Hirschhorn, dem er - ihn karikierend - ein witziges von infantiler Urinseligkeit und üppigen Kalauern ("Pinkel, Pinkel, macht Pinke, Pinke") geprägtes Kunstmanifest in den Mund schiebt. Und wie er am Abgrund der Rampe seinen Schillerschen Freiheitsbegriff darlegt und gestikulierend erklärt, es sei «nur mystisch möglich frei zu sein», schimmert der Pädagoge durch, der auch am Lagerfeuer unter sternklarem Himmel Jugendliche zu packen weiss: ein Überzeugungstäter. Stolz ist er auf die Wirkung seiner agrarisch-deftigen Versfabel vom Euro-Stier auf die dumpfen SVPler («sie sehen die Rasse vor sich?») an der Delegiertenversammlung von Martigny: das Schmatzen sei verstummt, Blocher vor Lachen unter dem Tisch und wohlig grinsend hätten die Delegierten die Wiederholung verlangt. Solches vermöge die Kunst. Der warme Applaus nach zwei Chansons in der Brassens-Tradition bezeugte, die dribbelnde Walliser Kampfkuh hat in der skeptischen Zwinglistadt emotionales Terrain gewonnen: ein Kleinkünstler mit Qualitäten, ein Slam-Poet, ein streitbarer Musenalp-Hemingway vielleicht, aber kein Troubadix, den man geknebelt und mit zertrümmerter Leier auf Dauer von Kulturdebatten fernhalten muss, soll und schon gar nicht wird können.

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Basler Zeitung|11.03.2005|Seite: 8

http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=0fmJ6PKZRxs