Montag, 13. Juni 2011

Heinrich Bullinger: Vater der Reformierten Kirche

Theologe, Historiker und Schriftsteller: Am 18. Juli feiert der Nachfolger Huldrych Zwinglis seinen 500. Geburtstag

Giorgio Girardet

Herkunft und Jugend

Das aargauische Landstädtchen Bremgarten an der Reuss, in dem Bullinger am 18. Juli 1504 als Sohn des Priesters Heinrich Bullinger geboren wurde, hatte sich trotz der Eroberung des Aargaus Vorrechte und stolzen Bürgersinn bewahrt. Zwischen den drei Vororten der Eidgenossenschaft Zürich, Bern und Luzern und der Tagsatzungsstadt Baden gelegen, nahm man hier lebhaften Anteil am politischen Geschehen. In den Wirtschaften des Städtchens prahlten die Veteranen der Burgunderkriege mit ihren Heldentaten, während windige Werbeoffiziere mit der Einwilligung der Tagsatzung junge Männer für die Schlachtfelder Europas anwarben. Diese Eindrücke sammelte der begabte Bremgartner Stadtschüler.

Ein Jahr nach der Schlacht von Marignano (1515) wurde der Zwölfjährige zur Vorbereitung des Studiums nach Emmerrich an den Niederrhein zu den strengen Brüdern vom Gemeinsamen Leben geschickt. Die Brüdergemeinschaft lebte nach der Regel des Heiligen Augustinus, der sich auch der 21 Jahre ältere Martin Luther 1505 als Mönch der Augustinereremiten unterworfen hatte.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Schriften Luthers, 1519, zog Bullinger rheinaufwärts und bezog die Universität Köln. Hier schloss er sich unter dem Eindruck einer umfassenden humanistischen Bildung und der Lektüre der Kirchenväter und der Reformatoren dem neuen Glauben an. Im Jahr, in dem Zwingli mit der Rechtfertigung des Wurstessens während der Fastenzeit den Reformationsprozess in Zürich lostrat, schloss Bullinger seine Studien als Magister ab und wurde - unter der Bedingung, nicht an der Messe teilnehmen zu müssen - Lateinlehrer an der Klosterschule von Kappel.

Drama der Freiheit

Während in Zürich Huldrych Zwingli die Heiligenbilder aus den Kirchen entfernte, vertiefte sich Bullinger in die römische Geschichte und inszenierte mit seinen Lateinschülern die Sage der Lucretia, in welcher er den Auszug der tugendhaften Römer aus der Königsherrschaft in die Republik mit kräftigen Sätzen gestaltet. Waren nicht auch die frommen Eidgenossen aus der Adelsherrschaft in die Freiheit des Bundes getreten? War nicht jetzt ein grosser Auszug der Gläubigen aus der ägyptischen Gefangenschaft der Papstkirche im Gange?
Bullinger begann, die Geschichte der Eidgenossenschaft als diejenige eines Volkes zu verstehen, das im Bund mit dem Allmächtigen - wie das Volk Israel - seinen Weg geht. War nicht gerade in der durch Solddiensten reich gewordenen Eidgenossenschaft eine Umkehr nötig? Und wenn Gott in so vielen Schlachten den Schweizern beigestanden hatte, war es nicht folgerichtig, dass sich alle Eidgenossen dem neuen Glauben anschlossen?
1525 gab er einen Abriss der Geschichte der Eidgenossenschaft als Kampfschrift in den Druck. Bullinger war zu einem durchaus eigenständigen Verfechter der Reformation Zwinglis geworden. 1528 wurde er Mitglied der Zürcher Kirchensynode und nahm an dem Berner Religionsgespräch (Disputation) teil. Im folgenden Jahr trat er die Pfarrstelle seines Vaters im damals reformierten Bremgarten an.
Eintritt in die Verantwortung


Hier erlebt er die Zuspitzung der Feindschaft zwischen Zürich und den katholischen fünf Orten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug) in der Religionsfrage. Zwingli suchte eine militärische Entscheidung in der Eidgenossenschaft, bevor sich im Reich eine geschlossene Front gegen die Reformation aufbauen konnte. Kam es im ersten Kappelerkrieg 1529 noch ohne Kriegshandlungen zu einem für die Reformierten nicht ungünstigen Friedensschluss, so endete der zweite Kappelerkrieg (11. Oktober bis 20. November 1531) mit der Niederlage der Reformierten und dem Schlachtentod Zwinglis.

Heinrich Bullinger wurde mit seiner Familie und dem Vater aus Bremgarten vertrieben und kam als Flüchtling nach Zürich. Nach dem Friedensschluss donnerte Bullinger am 28. November im Grossmünster eine Predigt von der Kanzel, dass viele den gefallenen Zwingli zurückgekehrt wähnten. Die Rufe von Bern, Basel und Appenzell ausschlagend, wartete Bullinger, bis ihm am 9. Dezember der Rat, den Zwingli-Gefährten Leo Jud bewusst übergehend, die Übernahme der Nachfolge Zwinglis antrug.

Bullinger handelte sich Bedenkzeit aus und bestand auf der klaren Trennung von Politik und Predigtamt. Wohl sollten sich die Pfarrer der Einmischung in das weltliche Regiment enthalten, wie dies der Rat forderte, doch durfte die Verkündigung in keiner Weise eingeschränkt werden.

Bullinger bedang sich ausdrücklich das Recht aus, die Obrigkeit wie jedes andere Gemeindeglied im Rahmen des «Prophetenamtes» ermahnen und kritisieren zu dürfen. Damit legte er das Fundament für ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Landeskirche und Regierung. Zürich wurde mit Bullinger weder ein fundamentalistischer Gottesstaat, wie das Genf Calvins, noch sank die Kirche zu einer völlig instrumentalisierten Staatskirche ab, wie die Anglikanische Kirche in England.

Sichern und einigen

Sogleich sicherte Bullinger die junge Zürcher Kirche in ihren Institutionen. Eine neue Synodalordnung gab 1532 der Pfarrerschaft einen festen Rahmen. Das Ansehen der Zürcher Theologenschule hob er durch die Berufung von Lehrern mit Ausstrahlung. Die ständige Überarbeitung des Bibeltextes in der Prophezei wurde kompetent fortgesetzt, und schon 1544 kam, 13 Jahre nach Zwinglis Erstausgabe, eine vollständig überarbeitete Ausgabe der Zürcher Bibel in den Druck. Zwingli hatte aus militärischen Gründen den Zusammenschluss mit Luther gesucht. Bekanntlich scheiterte die Marburger Disputation 1529 an der Abendmahlfrage. Die Zwinglianer, Calvinisten und weitere süddeutsche Städte lehnten auch ausdrücklich das Augsburger Bekenntnis der Reformierten im Reich von 1530 ab.

Im Hinblick auf ein grosses Konzil aber sollten wenigstens die Reformierten aus der Eidgenossenschaft geschlossen auftreten. Bullinger wirkte 1536 an der Ausarbeitung des ersten helvetischen Bekenntnisses in Basel federführend mit. Auch mit Calvin, der in dieser Sache dreimal zu Bullinger nach Zürich reiste, konnte 1549 im so genannten «consensus tigurinus» eine gemeinsame Position in der Abendmahlfrage gefunden werden.
Ab- und Ausgrenzen

Da war das grosse Konzil, das Luther schon 1518 vergeblich gefordert hatte, schon im Gange. Papst Paul III. (1534-49) hatte es nach langen Diskussionen um Beschickung und Tagungsort 1545 eröffnet. Bullinger verhinderte gegen starken miteidgenössischen Druck die Teilnahme der reformierten Schweizer Städte. Die Katholische Kirche überprüfte in Trient Dogmenschatz und ihr Verhältnis zur Tradition und verbesserte Missstände in Überwachung und Ausbildung der Priesterschaft. Bulllinger beobachtete von Zürich aus aufmerksam die Entwicklungen.

Durch ein Netz von Korrespondenten und ein gastfreundliches Haus war er mit Menschen in ganz Europa im Austausch und war wohl der «bestinformierte Eidgenosse seiner Zeit» (Emidio Campi). Wie sich Katholische und Reformierte Kirche wechselseitig abgrenzten und abschlossen, so hatte sich auch die Reformierte Kirche mit fundamentalistischen Abweichlern auseinander zu setzen.

Zwingli hatte nie die Obrigkeit in Frage gestellt und noch bis 1525 an der lateinischen Messe festgehalten. So musste sich die Landeskirche von den ungeduldigen Täufern abgrenzen, welche schon 1523 die Messe aufgeben (Gefährdung des friedlichen Reformationsprozesses) wollten, die Kindertaufe (keine Kontrolle der Bevölkerung durch Taufregister) und die Übernahme von Verantwortung und Ausübung von Gewalt im weltlichen Regiment ablehnten (auch Militärdienstverweigerung) und sich ausserhalb der Territorialgemeinden zu Konventikeln zusammenfanden (keine öffentliche Kontrolle der Gemeinschaften). Sieben Täufer wurden in Zürich ertränkt.

Heinrich Bullinger konstruierte das Feindbild «Täufertum», indem er in einer Verschwörungstheorie jegliches Täufertum mit dem gewaltbereiten sozialrevolutionären Reformator Thomas Müntzer in Verbindung brachte, der sich auf die Seite der aufständischen Bauern im Reich geschlagen hatte und 1525 enthauptet worden war. In einer ersten gedruckten Schrift gleich zu Amtsantritt und im umfassenden Werk 1560 «Ursprung, Entwicklung, Sekten und Wesen der Wiedertäufer», das er an 101 hoch gestellte Persönlichkeiten in ganz Europa zur Warnung zusandte, schuf er ein Feindbild, das noch Jahrhunderte nachwirken sollte.
Prüfung und Vermächtnis

Die grosse Arbeitslast konnte der Vater von elf Kindern nur dank der treuen Mithilfe seiner Frau Anna Adlischwyler bewältigen. Ein harter Schlag war daher ihr Tod durch die Pest am 25. September 1564. Das Konzil von Trient war auch beendet, Bullinger wähnte sich nun in der Endzeit. Während einer Pesterkrankung formulierte er für sich 1566 das Glaubensbekenntnis, das als «zweites Helvetisches Bekenntnis» eine grosse Ausstrahlung in der reformierten Welt erleben sollte: vom Wilden Westen bis Siebenbürgen und Ostungarn dient es noch heute reformierten Gemeinden als Glaubensgrundlage.

Er schrieb, sein Lebenswerk verteidigend, die Reformationsgeschichte (1567) und versuchte noch einmal, die Geschichte der Eidgenossenschaft in einer Gesamtschau zu überblicken (1568). Doch die konfessionelle Spaltung verunmöglichte es ihm, die Geschichte der Eidgenossen als Geschichte eines im Bund mit Gott voranschreitenden Volkes darzustellen. Und so beschränkte er sich in den letzten Lebensjahren, die Geschichte der Zürcher (Tigurinerchronik), als Vorgeschichte der Reformationsgeschichte, niederzuschreiben. Am 14. Dezember 1574 übergab der Siebzigjährige die Reinschrift der Tigurinerchronik und eine Abschrift der Reformationsgeschichte den Pflegern des Grossmünsters. Neun Monate später, am 17. September 1575, verstarb der «Vater der Reformierten Kirche» in Zürich.

Späte Anerkennung

Bis zum Ende des Dreissigjährigen Krieges (1648) waren die stark praxisbezogenen Schriften Bullingers und die eher dogmatischen Calvins ähnlich stark verbreitet. Der 1613 zum Pfarrer am Grossmünster und Antistes der Zürcher Kirche gewählte Johann Jakob Breitinger (er setzte das Theaterverbot in Zürich durch) nannte ausdrücklich Heinrich Bullinger und nicht Zwingli sein Vorbild. Doch über die Reformationsjubiläen 1619, 1719 und 1819 wurde immer mehr Huldrych Zwingli zum «Held» der Zürcher Reformation. Die Editionstätigkeit im 19. Jahrhundert im Rahmen des «Corpus Reformatorum» endlich fokussierte sich auf Luther, Calvin und Zwingli und blendete Bullinger aus. Die Tigurinerchronik aber wurde vom Historiker Johannes von Müller, der am Ende des 18. Jahrhunderts die Schweizer- geschichte neu erzählte, neben der Chronik des Aegidius Tschudi hoch geschätzt und zur Edition empfohlen.

Erst im Rahmen der geistigen Landesverteidigung erinnerte man sich des prinzipienfesten und besonnenen Zürcher Kirchenführers wieder. An der Landi 1939 überragte das Porträt des wortgewaltigen Publizisten an der Ehrenwand im Pressepavillon alle «Schweizer Journalisten aus sechs Jahrhunderten».

Gymnasiasten brachten 1940 sein «Lucretia»-Drama wieder zur Aufführung, und in Zürich wurde 1941 jenes Denkmal am Grossmünster eingeweiht, das ihn als Beschützer der Glaubensflüchtlinge in Zürich ehrt. Mit der Gründung des Instituts für Reformationsgeschichte 1965 hat eine systematische Editionstätigkeit seines Werkes eingesetzt. 1975 wurden an einem Kongress zum 400. Todesjahr erste Forschungsergebnisse zusammengetragen. 2004 hat der Regierungsrat 300 000 Franken gesprochen, um eine wissenschaftliche Edition der Tigurinerchronik zu erarbeiten, und im Rahmen des Bullinger-Kongresses werden im August Forscher aus der ganzen Welt sich in Zürich austauschen.

Publizistische Tätigkeit von Bullinger
zo. Anlässlich von Heinrich Bullingers 500. Geburtstag finden diesen Sommer in den Kantonen Zürich und Aargau vielfältige Aktivitäten statt. Die Zentralbibliothek Zürich (ZB) erinnert mit einer Ausstellung im Katalogsaal an die publizistische Tätigkeit von Huldrych Zwinglis Nachfolger (bis 28. August).

Die Ausstellung zeigt, wie Bullinger das gedruckte Wort einsetzte, um seine Zeit mitzugestalten. Er nutzte das Medium des Druckes, um Zwinglis Ansehen und die Zürcher Reformation zu verteidigen. Bei aller Polemik war er ein Mann der Versöhnung und erreichte wenigstens eine Einigung unter den Reformierten Kirchen, wie der Consensus Tigurinus von 1549 und das Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 bezeugen. Dagegen fand er keine Gnade gegenüber den Täufern und anderen religiösen Abweichlern. Sein scharfes Urteil und das harte Vorgehen gegen sie sollten die Zürcher Kirche vom Vorwurf der Ketzerei freisprechen.

Bestinformiert über die Zeit

Durch seinen umfangreichen Briefverkehr gehörte Bullinger zu den best-informierten Männern der Zeit. Er verfolgte nicht nur den Fortgang der Reformation in Frankreich, England und in den Ländern des Ostens, sondern nahm auch am Schicksal unterdrückter Protestanten regen Anteil und bot seine Hand zur Hilfe. Ohne Bullinger hätte es in Zürich die englischen Flüchtlinge oder das Asyl für die reformierte Gemeinde aus Locarno nicht gegeben. Die Ausstellung beachtet auch Bullingers Kommentare zu biblischen Büchern und seine Lehrpredigten, die unzählige Theologen in vielen Ländern beeinflusst und so die reformierte Tradition geprägt haben. Neben der Theologie beschäftigte sich der Zürcher Antistes intensiv mit der Geschichte. Auch die Gesellschaftspolitik liess ihn zur Feder greifen: So verfasste er ein Drama, das den Solddienst an den Pranger stellte.

Von Bullingers Taufhemd bis zu seinen theologischen Hauptwerken zeigt die Ausstellung Objekte aus den Beständen der ZB, die einen guten Teil des gedruckten und ungedruckten Nachlasses des Reformators besitzt.

Quelle: Zürcher Oberländer, 14.07.2004

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