Dienstag, 16. Februar 2010

Der (un)heimliche Eidgenosse: Jean Calvin

Zum 500. Geburtstag von Jean Calvin

Giorgio Girardet

Heute jährt sich der 500. Geburtstag eines der einflussreichsten Reformatoren. Jean Calvin wurde nur 54 Jahre alt. In seiner kurzen Lebenszeit machte er – selbst ein Fremder - Genf zu einem protestantischen Rom, was bis heute weltweite Auswirkungen hat.

Merkwürdiges geschieht im Land. Die „Weltwoche“ liess in ihrer aktuellen Ausgabe die vielgeschmähte Aussenministerin, Bundesrätin Calmy-Rey, ein hymnisches Essay über Calvin veröffentlichen, der im „links-liberalen“ Zürcher „Tages-Anzeiger“ als „Religionsterrorist“, im einjährigen Organ der reformierten Landeskirchen „reformiert“ als „Ayatollah“ oder „Demokrat wider Willen“ apostrophiert wird. Was ist los? Oeffnet sich im Jubiläumsjahr des weltberühmten Genfer Reformators wieder der Röstigraben?

Humanismus. Calvin wurde am 10. Juli 1509 in der Bischofstadt Noyon als zweites Kind eines bischöflichen Beamten geboren. Wenig weiss man über seine Jugend. Seine fromme Mutter stirbt, als er sechs ist, mit zwölf erhält er eine Pfründe, die ihm das Studium der Theologie erlauben soll. Nach dem Magister an der Sorbonne studiert er dem Vater zuliebe, der einen Streit mit dem Bischof auszufechten hat, die Rechte in Orleans. 1531 stirbt der Vater, Jean, der brillante Jurist, hat sich inzwischen der Reformation Luthers angeschlossen, betreibt nun humanistische Studien in Paris. Seine erste Schrift, ein Kommentar über Senecas „De Clementia“ („über die Milde“) wird von Erasmus gelobt. 1534 gerät er in die Umtriebe der „Plakataffäre“, der „allerchristlichste König“ bemerkt die Gefahr, die von der evangelischen Lehre für seine Herrschaft ausgeht. Die Inquisition setzt ein, die Scheiterhaufen lodern, Calvin flieht ins reformierte Basel.

Institutio. Bekanntlich haben sich Zwingli und Luther am Marburger Religionsgespräch in der Abendmahlfrage nicht einigen können. „Ihr habt einen andern Geist“, stellte Luther fest. 1530 wurde die Lehre Luthers im „Augsburger Bekenntnis“ ausgedeutscht. Da nun ein Konzil drohte, trafen sich unter der Federführung des Zwingli-Nachfolgers Heinrich Bullinger in Basel die wichtigsten Theologen der reformierten Städte der Eidgenossenschaft, um ein erstes „Helvetisches Bekenntnis“ zu formulieren. Im gleichen Jahr – 1536 – gab Calvin in Basel die „Institutio Religionis Christianae“ in den Druck. Die süddeutschen Theologen waren begeistert von diesem Werk. Noch nie hatte jemand das Christentum so glasklar, so logisch und von allen Auswüchsen der römischen Tradition greinigt dargestellt. Im Frühjahr 1536 war ein theologischer Star am Firmament aufgegangen.


Freiheitskampf. In Genf hatte sich in den 1520er Jahren die Partei der „eidguenots“ (Eidgenossen) durchgesetzt, welche die Stadt der Herrschaft des Bischofs und damit auch dem Einfluss des Hauses Savoyen entziehen wollte. Der mächtige Stadtstaat Bern sollte als Verbündeter helfen. Bern sandte den französischen Prediger Guillaume Farel als Wegbereiter der zwinglianischen Reformation, der sich Bern 1528 angeschlossen hatte, nach Genf. 1533 wurde der Bischof vertrieben, 1535 die Reformation in Genf angenommen. Aber der Bischof betrieb mit militärischen Mitteln seine Rückkehr. So eroberte im Januar 1536 Bern die Waadt und „befreite“ Genf. Es folgen zähe Verhandlungen, aber am 8. August konnten die Genfer Diplomaten ihrem Rat melden: „Wir bleiben Herren unseres Bodens, unserer Stadt, unserer Besitzungen!“


Berufung. In diesem Schicksalsmoment für die Republik war Calvin auf Durchreise in Genf. Er wollte in Basel weiter als Privatmann leben. Da bestürmt ihn in einer Augustnacht Farel in seiner Herberge „um Himmels Willen“, in Genf die Reformation zu vollenden. Calvin willigt ein. 1537 beginnt er in St.Pierre zu lehren. Um eine saubere Grundlage für sein Werk zu schaffen, lässt der Rat am 29.Juli die Bürgerschaft in St.Pierre Calvins Glaubensartikel beschwören. Doch eine beträchtliche und einflussreiche Minderheit schwänzt diesen „Rütli-Schwur“ Genfs. Bern hat die Artikel nicht abgesegnet, man will sich von diesen „Franzosen“ nicht zu „Sklaven“ machen lassen. Er kommt zu Tumulten. Calvin verliert nach einer Wahl den Rückhalt im Rat. Als Bern die Eidformel billigt, ist es zu spät. Der Rat verbietet Farel und Calvin auf die Kanzeln zu steigen, was diese missachten. Als sie an Ostern der zerstrittenen Gemeinde das Abendmahl verweigern, müssen sie die Stadt verlassen.



Sozialrevolte. In Strassburg wurde Calvin die Seelsorge der zahlreichen französischen Glaubensflüchtlingen übertragen. Der Bücherwurm lernte nun „praktische Theologie“. Aber in Genf war die Lage nicht einfacher geworden. Bischof Sadolet schrieb seinen „abgeirrten Schäfchen“ einen schmeichlerischen Brief. Calvin beantwortete ihn derart wortgewaltig und kalt von Strassburg aus, dass Luther in Wittenberg darüber jauchzte und man in Genf den Nutzen dieser „geistigen Luftwaffe“ neu überdachte. Ausserdem hatte der Handwerkerstand erkannt, wie die Lehre Calvins mit ihrem bescheidenen Arbeitsethos ein probates Mittel war, die Oberschicht der „Abzocker“ und „Pfeffersäcke“ in Schach zu halten. Die Wahlen brachten Calvinfreundliche Mehrheiten und man berief ihn wieder zurück. Und der Frischvermählte kam tatsächlich! War das Pflichtbewusstsein? Machtwille? Masochismus?


Zweckehe. Genf und Calvin wurden so zu einer „Konsensehe“. Die Stadt begriff, dass sie ihre Unabhängigkeit, den inneren Frieden und eine geordnete Religionsübung am besten mit Calvin bewahren konnte. Der Jurist Calvin drängte nun aber auf klare Kompetenzausscheidungen. Er verfasste den Genfer Katechismus, um Sicherheit in Glaubensfragen zu gewinnen, arbeitete kontrolliert von einer Kommission des Rates die Kirchenordnungen aus und beriet den Rat sogar bei der Verbesserung der Verfassung der Republik. Montesquie hat später in seinem Werk über die Gewaltenteilung Genf als Musterbeispiel genannt. Aber nicht allen alteingesessenen Familien behagte diese logisch-konsequente Implementierung einer neuen Tugendethik. Es gab noch lange Jahre Scharmützel, Verhöhnungen der Pfarrer, Intrigen. Aber Calvin gelang es, die Reihen seiner „compagnie des pasteurs“ zu einer modernen meritokratischen Funktionselite zu schliessen, der er mit unermüdlichem Arbeitseifer als „Moderator“ voranschritt.


Scheiterhaufen. 1553 hatte es Calvin mit Servet zu tun, einem begabten, rührigen Humanisten und Mediziner, der eine „Erneuerung des Christentums“ anstrebte. Er trat gegen die am Konzil von Nizäa 325 mit grossen Anstrengungen formulierte Lehre von der Dreieinigkeit Gottes an. Damit öffnete er eine Büchse der Pandora. Er war schon von katholischen Gerichten zum Tode verurteilt worden und floh nun treuherzig nach Genf. Offenbar hatte er grosses Zutrauen in die gütige Milde Calvins. Calvin war im Dilemma. Das Aergernis Servet dulden hiess, den letzten Grundkonsens der Christenheit preisgeben. Beraten von allen reformierten Städten der Eidgenossenschaft, empfahl er dem Rat den Tod durch Enthauptung gemäss der damals im Reich geltenden Rechtsordnung. Der Rat liess aber Servet auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Der Vorfall schockierte die reformierte Welt, die in der Musterstadt Genf bisher ohne Zwangsmittel gearbeitet hatte. Doch der Vorfall markierte den endgültigen Sieg der Reformation in Genf. 1555 wurde Calvin, der bisher nur Flüchtling und Moderator der „compagnie des pasteurs“ war, ins Bürgerrecht aufgenommen.


Ausstrahlung. Der Ruhm Genfs verbreitete sich, die Verfolgungen der Evangelischen in Frankreich liess gutausgebildete, ehrgeizige und willensstarke Franzosen nach Genf kommen. Wer mit Calvin und der strengen Kirchenzucht des Konsistoriums nicht einverstanden war, resignierte oder verliess die Stadt. Pfarrer, die in Genf scheiterten, zogen nach Lausanne, nach Basel und verbreiteten Gräuelmärchen über die Zustände in Genf. Aber immer mehr Fürsten der Umgebung verlangten nach calvinistischen Predigern. 1559 wurde die accademie gegründet, die sogleich den Ruf der besten theologischen Schule der Reformierten erwarb. Bis zu seinem Tode 1564 arbeitete Calvin unermüdlich weiter an seinem Werk. Zufrieden wurde er nicht dabei: er sah die Mängel der Menschen um ihn und seine Schwächen überdeutlich. Aber die Resultate waren erstaunlich. Ein Jesuit, der 15 Jahre nach Calvins Tod Genf besuchte, glaubte eine Fata Morgana des Teufels zu sehen. Kein Fluchen, kein Müssiggang, kein Tanz: überall nur Fleiss „zur Ehre Gottes“. John Knox, der Reformator Schottlands, trug diesen Eifer in seine Heimat und schrieb im schottischen Glaubensbekenntnis, die Pflicht des Christen sei es, „Tyrannen zu bekämpfen und die Schwachen zu schirmen“. So wurde Calvins Lehre zur Mutter aller späteren Revolutionen und zur Mutter der Hoffnung, dass Menschen in Freiheit, Selbstverantwortung und in Frieden zusammenleben können.

Zuerst im „Kulturmagazin“ der „Basler Zeitung“, 10. Juli 2009, Seite 4/5

Sonntag, 14. Februar 2010

Sloterdijks "Vertikalspannung" und helvetische Gemeindeautonomie



Hinweis auf die Bildquelle im Netz
„Provinz“ und „Reich Gottes“

Wegen der gegenwärtigen Sinnkrise lud die Tamedia einen deutschen „Leuchtturm“ ein, um in die „Provinz“ zu leuchten. Der hellsichtige Grossdenker, Peter Sloterdijk warb im Januar von der Bühne des Zürchers Schiffbaus herab in seiner „Zürcher Rede“ vor erlesenem Publikum für sein neuestes Buch „Du musst dein Leben ändern“. Ein merkwürdiger Titel für einen Denker, der in der Tradition der Aufklärung steht, nach der „niemand müssen muss“. Wer darf uns heute ein „Du musst …“ zurufen? Dazu wäre die Spannung auf ein Ideal hin nötig. Sloterdijk fragt darum: „Wie kann denn überhaupt Spannung, Vertikalspannung gedacht werden, wenn die obere Verankerung der Brücke zum Jenseits fehlt?“ und fährt fort, „Der Vater der Monotheismen, Abraham, hat mit dieser Fragestellung weiss Gott kein Problem. Er legte sich bei seiner Wanderung an einer Stelle im alten Palästina zur Nachtruhe, wählte dabei einen Stein als Kopfkissen und hatte einen Traum, in dem sich der Himmel über ihm öffnete. Vor ihm erscheint eine Leiter, auf der Engel auf- und niedersteigen. Er weiss ganz genau, wo diese Leiter oben angelehnt ist, im Reich Gottes.“ Halt, war das nicht Jakob, der mit der Leiter? Der deutsche Grossdenker und der Zürcher Medienkonzern zeigen eine peinliche Bildungslücke. In Bubikon weiss man, wie wichtig es ist, allen Kindern von Abraham und von Jakobs Himmelsleiter zu erzählen. Am 8. Juni 2005 rettete die Gemeindeversammlung das Fach „Biblische Geschichte“ aus der Gemeindekasse. „Du musst … die Primarschule Bubikon besuchen“ will man dem Philosophen und den Tagi-Redaktoren zurufen, bevor ihr „Provinzlern“ heimleuchten könnt.