Freitag, 16. November 2012

Nachruf: Handeln statt klagen



28. Juni 1913 – 2. März 2005.
Waldenserin, Widerstandskämpferin, Stadträtin, Pazifistin, Migrantin.

Mailand 1944, sie sah die Strassensperre und bekam Angst. Elena Dereher – noch unverheiratet – sollte Adressen überbringen. Eine innere Stimme sagte: Schau nach links. Dort war ein Blumenbeet, und sie versteckte die Liste. Sie war aktiv in einer Frauengruppe. Die Frauen verteilten Flugblätter, oganisierten verstecke für Partisanan, leisteten Kurierdienste, fälschten Papiere. Die „Gruppi di Difesadelle Donne“ waren relevant für den italienischen Widerstand.
Aufgewachsen ist Elena in Norditalien. Familie Dreher war der die Mussolini-Regierung suspekt: Sie stand ausserhalb der faschistischen Partei, hatte sich 1925 zudem der reformierten Kirche Italiens, den Waldensern, angeschlossen. Später zog Elena nach Mailand, dann nach Rom, um Arbeit zu suchen. Dies war schwierig, weil sie keine faschistische Mitgliedskarte besass.
Sie interessierte sich für den sozialen Bereich – eine Schulung in Sozialarbeit existierte noch nicht – und begann die Ausbildung zur Krankenschwester. Bei einer Anmeldung sollte sie ihren Mitgliederausweis vorlegen. Sie log, sie habe den in Rom verloren, er werde nachgeschickt. Die Oberschwester begriff und bestand nicht darauf. 

Mit falschen Papieren

Während der Arbeit im Spital erhielt Elena eines Tages die Meldung, dass jemand unter Folter ihren Namen genannt habe, und sie fliehen müsse. Sie gab vor, sie habe schlechte Nachrichten erhalten und müsse sofort heim. Kaum weg, erschienen zwei Uniformierte im Spital und fragten nach Elena, um sie zu verhaften. Die Oberschwester teilte ihnen mit, sie sei unabkömmlich im Operationssaal, sie sollten später kommen. Diese Lüge schaffte genug Zeitvorsprung für die Flucht.
Natürlich ging Elena nicht nach Hause, sondern fuhr bei eisiger Kälte per Velo zu Freunden im Norden. Sie färbte die Haare, änderte die Frisur und kehrte nach Mailand zurück. Sie lebte fünf Monate mit falschen Papieren im Untergrund und musste erfahren, auf wen sie wirklich zählen konnte. Nach der Befreiung Mailands wurde sie Stadträtin, zuständig für das Fürsorge-  und Wohltätigkeitsamt. Sie war die erste Frau in der Geschichte Italiens in einem öffentlichen Amt. Ein Jahr später verzichtete sie auf die Wahl. Elena brauchte mehr Gestaltungsfreiheit. Die hatte sie als Mitgründerin der ersten italienischen Schule für Soziale Arbeit.
Mit ihrem neuen Lebensgefährten, Hans Fischli, kam Elena 1949 in die Schweiz, es wurden Zwillinge geboren, kurz darauf noch einen Sohn. Familie Fischli wohnte oberhalb Meilen, das Leben war für Elena Fischli schwierig, sie war isoliert: Kleine Kinder, eine problematische Partnerschaft und pflegebedürftige Schwiegereltern.
Elena besuchte Tagungen auf Boldern, die schafften Freiraum, dort lernte ich sie kennen. Wir kämpften gegen die Überfremdungsinitiativen. Mit ihrer ansteckenden, liebenswürdigen Art überzeugte sie mich zu meinem eigenen Einsatz in Ausländerfragen. Es gelang ihr, dank ihrer charismatischen Argumentation, dass die Gemeinde Meilen eine Baracke als Treff für Italiener und auch Schweizer einrichtete.
Später zog Elena allein nach Zürich. Sie lancierte die Kontaktstelle für Italiener (später Ausländer) und Schweizer. Sie vertiefte ihr pazifistisches Engagement, wurde aktiv bei den Frauen für den Frieden und nahm bis zuletzt an deren monatlichen Mahnwachen teil. Sie war hartnäckige Sammlerin für unzählige Initiativen und überhaupt immer hilfsbereit. Zum Ausgleich spielte sie Klavier.
Wichtig war ihr die Mitarbeit bei den Waldensern, sie verfasste Artikel für die Voce Evangelica. Am Freiheitsfest der Waldenser – wie symbolisch – brach sie zusammen. Auf ihr Grab wünschte sich Elena von den drei Enkeln Küchenkräutern. Ein unübliher Wunsch einer aussergewöhnlichen Frau, die Eigenständigkeit umsetzte und lebenslang für Freiheit, Friede und Gerechtigkeit kämpfte. 

(Erschien zuerst in „p.s.“, 2005)