Dienstag, 24. Mai 2011

Confessio Helvetica Posterior, 1566 (I)

Bullingers Confessio in der Berner Ausgabe von 1676

In diesem Post werden nur die Kapitel-Überschriften (deutsch & latine) der 30 Artikel von Bullingers Glaubensbekenntnisses gegeben.

Bekenntnis/ und einfache Erläuterung /des orthodoxen Glaubens / und der katholischen Lehren / der reinen christlichen Religion

CONFESSIO & EXPOSITIO BREVIS & SIMPLEX SYNCERAE RELIGIONIS CHRISTIANAE

I. Die Heilige Schrift, das wahre Wort Gottes
De Scriptura sancta, vero Dei Verbo

II. Die Auslegung der heiligen Schriften, die Kirchenväter, die allgemeinen Kirchenversammlungen und die Überlieferungen
De interpretandis Scriputris sanctis, et de Patribus, Conciliis, et Traditionibus

III. Gott in seiner Einheit und Dreieinigkeit
De Deo, Unitati Eius, ac Trinitate

IV. Bilder Gottes, Christi und der Heiligen
De idolis vel imaginibus Dei, Christi, et Divorum

V. Anbetung, Verehrung und Anrufung Gottes durch den einzigen Mittler Jesus Christus
De adoratione, cultu, et invocatione Dei, per unicum mediatorem Iesum Christum

VI. Die Vorsehung Gottes
De Providentia Dei

VII. Die Erschaffung aller Dinge, die Engel, der Teufel und der Mensch
De creatione rerum omnium, de Angelis, Diabolo, & Homine

VIII. Der Fall und die Sünde des Menschen und die Ursache der Sünde
De lapsu hominis, & peccato, & causa peccati

IX. Der freie Wille und die andern Fähigkeiten des Menschen
De libero arbitrio, adeoque viribus hominis

X. Die göttliche Vorherbestimmung und die Erwählung der Heiligen
De praedestinatione Dei, et Electione Sanctorum

XI. Jesus Christus, wahrer Gott und Mensch und einziger Heiland der Welt
De Iesu Christo vero Deo et Homine, unico mundi Salvatore

XII. Das Gesetz Gottes
De Lege Dei

XIII. Das Evangelium Jesu Christi: die Verheissungen; Geist und Buchstabe
De Evangelio Iesu Christi, de Promissionibus item, Spiritus & Litera

XIV. Die Busse und Bekehrung des Menschen
De poenitentia et conversione Hominis

XV. Die wahre Rechtfertigung der Gläubigen
De vera fidelium iustificatione

XVI. Der Glaube: die guten Werke und ihr Lohn; das "Verdienst" des Menschen
De fide, et bonis operibus, eorumque mercede, & merito hominis

XVII. Die katholische (allgemeine) und heilige Kirche Gottes und das einzige Haupt der Kirche
De cathlolica et sancta Dei Ecclesia, et unico capite Ecclesiae

XVIII. Die Diener der Kirche; ihre Einsetzung und ihre Pflichten
De ministris Ecclesiae, ipsorumque institutione, & officiis

XIX. Die Sakramente der Kirche Christi
De sacramentis Ecclesiae Christi

XX. Die heilige Taufe
De sancto Baptismo

XXI. Das heilige Abendmahl des Herrn
De sacra Coena Domini

XXII. Die Gemeindegottesdienste und der Kirchgang
De coetibus sacris & Ecclesiasticis

XXIII. Die Kirchengebete, der Gesang und die sieben Gebetszeiten (die kanonischen Stunden)
De precibus ecclesiae, cantu, et horis canonicis

XXIV. Die Feiertage, das Fasten und die Auswahl der Speisen
De feriis, ieiuniis, ciborumque delectu

XXV. Der Jugendunterricht und die Krankenseelsorge
De Catechesi, & aegrotantium consolatione vel visitatione

XXVI. Das Begräbnis der Gläubigen, die Fürsorge für die Toten, das Fegefeuer und die Erscheinung von Geistern
De sepultura fidelium, curaque pro mortuis gerenda, de purgatorio, et apparitione spiritum

XXVII. Die Gebräuche, die Zeremonien und die Mitteldinge
De ritibus &caerimoniis, & mediis

XXVIII. Das Kirchengut
De bonis ecclesiae

XXIX. Der ledige Stand, die Ehe und der Hausstand
De coelibatu, coniugio, & oeconomia

XXX. Die Obrigkeit
De Magistratu

Link
Der deutsche Text folgt der Übertragung von Walter Hildebrandt und Rudolf Zimmermann (TVZ, 1936, 5. Auflage 1998)
Der lateinische Text folgt der von Wilhelm Niesel 1938 im Chr.Kaiser Verlag (München) herausgegebenen Sammlung: "Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche"
Ein Berner Druck von 1608 kann hier als pdf bezogen werden.

Montag, 23. Mai 2011

Bullingers Position zur Prädestinationslehre

Die Zürcher Kirche folgte nicht der harten Position Calvins in der Frage der Prädestination. Unter Heinrich Bullinger wurde eine "mildere Position" erarbeitet, die an der "Hohen Schule" Zürichs (Schola Tigurina) zum Durchbruch kam. Die downloadbare 45-Seitige theologische LinkDiplomarbeit von Pfr. Daniele Scarabel (abgedruckt in Zwingliana XXXIII, 2006, S. 205-222) zeichnet die Entwicklung von Bullingers theologischer Reflexion zur Prädestination über eine erste Predigt (1536) die Dekaden (1549-51) seinen Briefwechsel und das "Zweite Helvetische Bekenntnis" (1566 confessio Helvetica posterior) nach. Unten ist das entsprechende Kapitel aus der confessio Helvetica posterior eingefügt.

VI. Kapitel

Die Vorsehung Gottes

Wir glauben, dass durch die Vorsehung dieses weisen, ewigen und allmächtigen Gottes alles im Himmel und auf Erden und bei allen Geschöpfen erhalten und geleitet werde. Denn David bezeugt und sagt: „Der Herr ist erhaben über alle Völker, und seine Herrlichkeit über die Himmel! Wer ist dem Herrn gleich, unserm Gott, im Himmel und auf der Erde? Ihm, der droben thront in der Höhe, der herniederschaut in die Tiefe ...“ (Ps. 113,4-6). Derselbe wiederum sagt: „ ... mit all meinenWegen bist du vertraut. Ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, o Herr, nicht wüsstest ...“ (Ps. 139,3 und 4). Auch Paulus bezeugt und sagt: „In ihm leben, weben und sind wir“ (Apg. 17,28), und: „Aus ihm und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge (Röm. 11,36). Deshalb tut Augustin ganz richtig und schriftgemäß den Ausspruch - im 8. Kapitel seines Buches „Der Kampf des Christen“ -: „Der Herr hat gesagt: „Verkauft man nicht zwei Sperlinge für fünf Rappen? und nicht einer von ihnen wird ohne Zutun eures Vaters auf die Erde fallen“ (Mt. 10,29). Indem er aber so sprach, wollte er zeigen, dass durch Gottes Allmacht sogar das geleitet werde, was die Menschen höchst gering schätzen. So spricht die Wahrheit selbst, dass die Vögel des Himmels von Gott gespeist und die Lilien auf dem Felde von ihm bekleidet werden; die Wahrheit, die auch bezeugt, dass unsere Haare auf dem Haupte alle gezählt seien (Mt. 6,26.28; 10,30) usw..


Wir verwerfen deshalb die Ansicht der Epikuräer, die eine Vorsehung Gottes leugnen, und aller jener, die lästerlich behaupten, Gott bewege sich nur innerhalb der Grenzen des Himmels, könne aber uns und das Unsrige nicht sehen und auch nicht dafür sorgen. Diese Leute hat schon der königliche Prophet David verurteilt, der gesagt hat: „Wie lange sollen die Gottlosen, o Herr, wie lange noch sollen sie frohlocken ...? Sie denken: der Herr sieht es nicht, der Gott Jakobs merkt es nicht. Merkt's euch doch, ihr Narren im Volke, ihr Toren, wann werdet ihr klug? Der das Ohr gepflanzt, sollte der nicht hören? Der das Auge gebildet, sollte der nicht sehen? (Ps. 94,3.7-9) . Allerdings verschmähen wir die Mittel nicht als unnütz, durch die die göttliche Vorsehung sich vollzieht, sondern wir lehren, dass wir uns ihnen soweit anpassen müssen, als sie uns im Wort Gottes empfohlen werden. Daher missbilligen wir die unbesonnenen Worte jener Leute, die sagen: Wenn alles durch Gottes Vorsehung geschieht, so sind unsere Bestrebungen und Anstrengungen ganz vergeblich; es genügt, wenn wir alles der göttlichen Vorsehung überlassen, und wir haben keinen Grund, uns um irgend etwas zu kümmern oder etwas zu tun. Denn wenn auch Paulus anerkannte, dass er durch das Walten der Vorsehung Gottes nach Rom fahre, der ihm selbst gesagt hatte: „Du sollst auch in Rom Zeugnis ablegen“ (Apg. 23,11), der überdies verheissen und gesprochen hatte: „Kein Einziger aus euch wird das Leben verlieren“ (Apg. 27,22), und "Keinem von euch wird ein Haar vom Haupte verloren gehen“ (Apg. 27,34), so sagt derselbe Paulus nichtsdestoweniger, als die Seeleute an die Flucht denken, zum Hauptmann und zu den Soldaten ebenfalls: „ Wenn diese nicht im Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden“ (Apg. 27,31). Denn Gott, der jeglicher Sache ihren Zweck gibt, der hat auch Anfang und Mittel bestimmt, durch die man zum Ziele gelangt. Die Heiden schreiben die Dinge einem blinden Schicksal und dem ungewissen Zufall zu. Der heilige Jakobus will hingegen nicht, dass wir sagen: (,Heute oder morgen wollen wir in die und die Stadt ziehen ... und Handel treiben“, sondern fügt hinzu: „... anstatt, dass ihr sagtet: wenn der Herr will und wir leben, wollen wir dies oder jenes tun“ (Jak. 4,13.15). Und Augustin: „Alles, was oberflächlichen Leuten im Naturverlauf zufällig zu geschehen scheint, erfüllt nur sein Wort, weil nichts ohne seinen Befehl geschieht“ (Auslegung zum Ps. 148). So schien es vielleicht auch gut Glück, wenn Saul auf der Suche nach den Eselinnen seines Vaters den Propheten Samuel traf, aber der Herr hatte bereits vorher zum Propheten gesagt: „Morgen um diese Zeit werde ich einen Mann aus dem Lande Benjamin zu dir senden ...“ (1.Sam. 9,16).

Dienstag, 17. Mai 2011

Bettagsmandat, das (swissness: Girardets kleines Lexikon der Schweiz)





Vorbemerkung: Der untenstehende Text hat nach seiner (redaktionell gekürzten) Publikation in der "Basler Zeitung" im September 2005 und seiner Freischaltung in der ungekürzten Version auf meiner Domain www.uerte.ch einen grossen Erfolg im Netz gehabt. Im Frühjahr 2007 verlinkte eine wohl freikirchliche Gruppierung den Text prominent. Er wurde zum "google"-Nummer 1 hit für "Bettagsmandat". Nachdem er auf www.uerte.ch nicht mehr greifbar war, hat ihn Beat Weber, der Pfarrer von Linden, für den Bettag 2010 auf der Homepage seiner Kirche als pdf greifbar gemacht. Herzlichen Dank! Nun soll er hier, in der Willensnation, wieder prominent auffindbar sein!

"Ist er nun autofrei, der eidgenössische Bettag?", fragte mich Helvetia plötzlich am Dienstag. Morgen begehen wir zum 173. Mal den 1832 von der eidgenössischen Tagsatzung auf den 3. Septembersonntag gelegten eidgenössische Dank-, Buss-, und Bettag. Es ist der älteste nationale Feiertag unseres 157jährigen Bundesstaates und gleichzeitig ein ökumenischer "Hoher kirchlicher Feiertag" Ostern, Karfreitag, Pfingsten und Weihnachten gleichgestellt. Eine merkwürdige Verschränkung von Staat und Kirche erinnert uns an diesem Tag an Moses, der sein Volk vom Tanz um das goldene Kalb zur Annahme der zehn Gebote führte. Diese Umkehr des gottvergessenen Volkes, hin zu den Gesetzen Gottes ist das Grundmotiv des Bettages.
In der charismatischen Person Moses sind politische und priesterliche Macht noch nicht geschieden. Erst die Tat Moses, die erste Herstellung "Heiliger Schrift", der zehn Gebote, erlaubt uns Juden, Christen und Muslims zwischen weltlicher Herrschaft und geistlichem Heil zu unterscheiden. Seither sind Priesteramt und Herrscheramt geschieden. Der Staat sorgt an diesem Tag für grösstmögliche Ruhe, damit die bestellten Prediger und Priester aller Konfessionen die Gläubigen zu individueller Ein- und Umkehr begleiten. (2. Mose 31, 18)

Wann trat dieses Bedürfnis nach Umkehr im staatlichen Verband der Eidgenossenschaft auf? Wer schlüpfte jeweils in die Rolle Moses? Das erste schriftlich Überlieferte "Grosse Gebet der Eidgenossen" fällt ins Jahr 1517. Eine grosse Teuerung lastete auf der Eidgenossenschaft, die zwei Jahre zuvor in Marignano das "Grounding" ihrer Grossmachtpolitik erlebte. Im selben FettJahr schlug Luther seine Thesen an, die zur Reformation (>Abendmahlstreit) führten. Über Jahrhunderte dankten, büssten und beteten nun Katholiken und Reformierte an getrennten Tagen in frohem Wettstreit um das Heil der Eidgenossenschaft.

Erst als der Würgegriff der Französischen Revolution sich um die Herrschaft der "Gnädigen Herren" der Alten Eidgenossenschaft legte, beantragte Bern (>Bernergeist) auf der Tagsatzung von 1796, am 8. September, erstmals das Heil in einer gesamteidgenössische Festfeier zu suchen. Die Franzosen kamen trotzdem. Es waren dann die von den Franzosen befreiten Untertanen des Kantons Aargau, die, nachdem sie sich eine radikal-liberale Verfassung gegeben hatten, am 1. August 1832 der Tagsatzung beantragten, den jeweils 3. Septembersonntag als eidgenössischen Bettag zu begehen. So ist der heutige Bettag ein Zugeständnis des siegreichen radikalen Liberalismus an unverzichtbare Besinnung auf die biblische Tradition.

Seither werden in den Kantonen von Regierungen, Kirchenräten und Bischöfen Bettagsmandate und Hirtenbriefe formuliert. Den Neoliberalen, welche um das goldene Kalb der "unsichtbaren Hand des Marktes" tanzen, ist der Bettag als Mutter aller gesetzlichen Ruhetage ein Dorn im Auge. In Deutschland wurde zugunsten eines zusätzlichen Arbeitstages der an einem Novembermittwoch stattfindende Busstag denn auch abgeschafft. Auf den Bettag 2003 hat darum Georg Kohler, Zürcher Ordinarius für politische Philosophie, als säkularer Ausleger des hegelschen Weltgeistes in der NZZ erklärt, weshalb der Bettag und die dem rationalen "homo öconomicus" archaisch anmutenden Begriffe "danken", "büssen" und "beten" durchaus eine Berechtigung hätten und ein solcher Tag helfe "gut in der Welt zu sein und es eine Zeit lang zu bleiben".

Der Bettag als "Wohlfühl-Accessoire" für säkulare Gutmenschen? Den Kerngedanken des Zürcher Professors finden wir im Bettagsmandat 2004 der Liestaler Regierung wieder. So haben sich im Zuge des Säkularisationsprozesses, der von vielen Zeitgenossen als unabwendbarer und unumkehrbarer eigengesetzlicher historischer Prozess betrachtet wird (ähnlich der kommunistischen Weltrevolution, der Ankunft der Geschlechtergleichheit oder der Globalisierung), sich die weltlichen Obrigkeiten des geistlichen Predigtamtes im Bettagsmandat bemächtigt. Seit dem Jahr 2000 verschliesst die Zürcher Regierung nicht mehr Theater, Museen und Kinos an hohen kirchlichen Feiertagen (auch am Bettag nicht), seit dem Jahr 2000 formuliert die Basler Regierung ihre Bettagsmandate nicht mehr im Wechsel mit den Landeskirchen.

Doch die Stifter des Bettages hatten weder in Philosophie dilettierende Regierungsräte, noch marktschreierische Prediger mit Event-Marketing- Ausbildung im Auge, sondern eine in verschiedenen Konfessionen auf den Allmächtigen der Verfassung bezogene nationale Wertegemeinschaft, die sich einmal im Jahr dem mosaischen Psychodrama der Umkehr stellt, zu dem auch der Prophet Joel im Alten Testament sein von Heuschrecken geplagtes Volk aufruft: "Doch auch jetzt noch spricht der Herr, kehret um zu mir von ganzem Herzen, mit Fasten, Weinen und Klagen; zerreisset eure Herzen und nicht eure Kleider." (Joel, 2, 12-13) Das Solothurner Stimmvolk hat mit 70% eine vom Parlament gegen den Willen der Regierung beschlossene Schwächung des Bettags an den Urnen wuchtig verworfen und damit bewiesen, dass der Geist des Bettags allem Kleinmut der Kirchen und Feuilletton-Geschwätz zum trotz im Volk noch mächtig verwurzelt ist. "Aber autofrei ist er wohl trotzdem nicht", meinte Helvetia resigniert und versank in ehernes Schweigen.

Giorgio V. Girardet

Montag, 16. Mai 2011

Bullingers Dekaden (1549ff.): das Hausbuch der Reformierten

Ein weiterer Band der kritischen Werkausgabe des Zürcher Reformators Heinrich Bullinger ist herausgekommen. Bullingers „Dekaden“, sein theologisches „Hausbuch“, wurden im 16. Jahrhundert zu einem eigentlichen Bestseller.

Giorgio Girardet

Die lateinisch abgefassten „Dekaden“, das theologische Hauptwerk des Zürcher Reformators, ist eine Predigtsammlung, in welcher Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger (1504 – 1575) die Lehre der reformierten Kirche nach dem Schriftprinzip („sola scriptura“) darlegt. Sie wurden zu einem Bestseller in der reformierten Welt und prägten nicht nur die Frömmigkeit der Reformierten in der Eidgenossenschaft, sondern auch der Anglikaner, Holländer, Hugenotten und Reformieren im Reich, in Polen und Ungarn.
Die Notwendigkeit eines katechetischen „Hausbuches“ ergab sich Zwinglis Nachfolger aus den schwierigen Zeitumständen. 1545 trat in Trient endlich das Konzil zusammen, das die katholische Kirche „reformieren“ sollte. In der ersten Sitzungsperiode bis 1547 wurden verschiedene reformatorische Errungenschaften von der katholischen Kirche verurteilt. Ausserdem starb 1546 der deutsche Reformator Martin Luther, und der katholische Kaiser Karl V. errang am 24. April 1547 einen entscheidenden Sieg über die Protestanten im Reich. 1548 trat das „Augsburger Interim“ in Kraft, was bedeutete, dass den protestantischen Reichsstädten Priesterehe und Laienkelch (beim Abendmahl) gewährt wurde, bis das Konzil von Trient etwas für die Christenheit Gültiges bestimmt haben würde. Am 13. Oktober musste das durch ein „christliches Burgrecht“ mit Zürich verbundene Konstanz auf sich allein gestellt ­– aus Rücksicht zu den katholischen Miteidgenossen unterliessen die reformierten Städte eine Hilfestellung – vor den kaiserlichen Truppen kapitulieren und wurde rekatholisiert.

Grundsätze des Christentums

In dieser aufgewühlten Zeit beschloss Bullinger, über die Grundsätze des Christentums, so wie er es nach der Reformation Zwinglis und in Auseinandersetzung mit dem Genfer Reformator Calvin verstand, Lehrpredigten zu verfassen. Die ersten zehn Predigten (Dekade) widmete der Grossmünsterpfarrer und Antistes (Vorsteher der Landeskirche) Bullinger 1549 seinen Amtskollegen auf der Zürcher Landschaft. Aber schon die dritte Dekade ist dem damals dreizehnjährigen englischen König Eduard VI. gewidmet, der angeleitet durch den Erzbischof von Canterbury 1549 mit dem „Common Prayer Book“ ein lutherisch-calvinistisches Mischbekenntnis in der anglikanischen Kirche Englands einführte.

Dem Humanismus verpflichtet

Bullinger ist in seiner Lehrtätigkeit in den Dekaden ganz dem Humanismus verpflichtet, dessen Losung „ad fontes“ (zu den Quellen!) er darin umsetzt, dass er auch vor seine Lehrpredigten die wichtigsten Konzilsbeschlüsse des Urchristentums setzt. Denn mit ihm weiss er sich einig, bevor die Irrungen des Papsttums einsetzten. Bei der Darlegung seiner Lehrinhalte zitiert er auch die antiken Schriftsteller. In der ersten Dekade geht er auf die Grundbegriffe des Christentums ein: Wort Gottes, Glaube, Liebe. Die 7., 8. Und 9. Predigt ist der Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses gewidmet. In der zweiten und dritten Dekade geht er auf die Zehn Gebote ein, in der vierten und fünften vertieft er die Auslegung des Apostolikums um die Begriffe Gott, Christus, Geist (Dreieinigkeit) und „Kirche und Sakramente“. Für den des lateinischen unkundigen Leser sei auf die 2006 erschienene Ausgabe in modernem Deutsch verwiesen. Sie ermöglicht eine unverstellte Wiederbegegnung mit der Lehre der damaligen Landeskirche, wie sie im Augenblick der Gefahr von Zwinglis Nachfolger in Worte gefasst wurde.
Leicht modifizierte Fassung des Artikels im „Zürcher Oberländer" vom 9. Mai 2008.
Gesamtkatalog des Theologischen Verlags Zürich

Dienstag, 10. Mai 2011

Prophet der Krise im Diesseits

Jean Tinguely, der Philosoph Jacob Burckhardt, 1988

Giorgio Girardet

Jacob Burckhardt gilt als Übervater der Kulturgeschichte. Kurt Meyer hat ihm jetzt ein erstaunlich knappes, aber umfassendes Buch gewidmet.

Jacob Burckhardt ziert die höchste Banknote der Eidgenossenschaft, Jean Tinguely hat dem «Philosophen Burckhardt» ein Denkmal gewidmet, die Biografie von Werner Kägi zählt sieben Bände, die kritische Werkausgabe ist auf deren 29 angelegt. Kurt Meyer ist es gelungen, auf nur 286 Seiten den Gulliver der deutschen Kulturgeschichtsschreibung erzählend zu bändigen und uns Lilliputanern fassbar zu machen.
Die Tiefe und Eindringlichkeit des Denkens Burckhardts erklärt Meyer aus den Amputationen, die der 1818 als viertes Kind in den exponiertesten Haushalt des Basler Daigs hineingeborene Jacob erfahren hat. Sein Vater ist als Antistes der Basler Kirche die höchste geistliche Autorität der restaurierten eidgenössischen Stadtrepublik. Früh verliert er seine Mutter, 1833 verliert die Vaterstadt ihr Hinterland.

Frauenverzicht. Burckhardt nimmt 1837 das Studium der Theologie auf, verliert aber 1839 den Glauben, sodass er mit väterlichem Segen zur Geschichte wechselt. In Bonn und Berlin hat er in Ranke, Grimm und Droysen grosse Lehrer. Unglück in der Liebe lässt ihn von einer Familiengründung absehen. Mancher Mann ist ein Genie geworden durch das Mädchen – das er nicht bekam, sagt Sören Kierkegaard.
In den Jahren 1844/45 berichtet er als Journalist über die Innerschweizer Unruhen und Freischarenzüge, an denen der junge Gottfried Keller begeistert teilnahm und die den reifen Jeremias Gotthelf mit Ekel erfüllten. Burckhardt teilt Letzteren: «Ihr im Reich draussen habt die Agitation immer nur erst in abstracto, ich aber habe ihr in das wüste versoffene Auge gesehen», schreibt er nach Deutschland.

Deutschrömer. Er ist ein Konservativer. Labt sich an den Kunstwerken Italiens, das ihm zum «Supplement» seines Wesens wird, füllt Skizzenbücher. Flieht vor «Brüllradikalismus» und den «Vorboten des sozialen jüngsten Tages» in die Sphären der ewigen Kunst. Während des Sonderbundskrieges 1847 weilt er in Rom, nimmt Mass für sein Werk. Der Deutschrömer aus Basel will Klassiker werden.

Mit seinem Erstling löst er sich 1852 vom «historischen Pantheismus» seiner Epoche, dem Historismus, in dem er das «falsche objektive Geltenlassen von allem und jedem» sieht. Er ist Erzähler, der die Phänomene sichtet, psychologisch auslotet, auswählt, hierarchisiert und dann in eine wetterfeste, metaphernreiche, eigenwillige Sprache packt.

Kunstführer. Im «Constantin» schildert er die Wirren, aus welchen das Christentum – das ihm abhanden gekommen – als Staatsreligion hervorging. «Lesen Sie das Buch ‹Die Zeit Constantins des Grossen› von Burckhardt, da bleibt Ihnen die Spucke weg, was das vierte Jahrhundert für eine Zeit war» (Ernst Bloch).
In «Der Cicerone: eine Anleitung zum Genusse der Kunstwerke Italiens» (1855) ordnet er 10 000 Kunstwerke der Halbinsel kunstgeschichtlich ein. Von der Antike bis zum Barock soll die Kunst als organisches Ganzes gefasst werden. Burckhardt folgt den drei Gattungen Architektur, Skulptur und Malerei chronologisch. Erst durch das Ortsregister erschliesst sich dieses Taschenmuseum Italiens dem reisenden Kunstfreund. In «Die Kultur der Renaissance in Italien» gibt er eine lange unübertroffene Schau der Zeit von Dantes «Göttlicher Komödie» bis zur manieristischen Kunst des 16. Jahrhunderts – sein Meisterwerk.

Krisenprophet. In Basel lehrt er ab 1858 Kunstgeschichte. Hier wird er bis 1882 alle zwei Jahre seine gefeierte Vorlesung über das Revolutionszeitalter (1763 bis Waterloo) halten. Der erklärte Gegner des Bruchs von 1789 äussert 1881 die Ahnung, «die Zustände Europens möchten einst über Nacht in eine Art Schnellfäule überschlagen, mit plötzlicher Todesschwäche der jetzigen scheinbar erhaltenden Kräfte».

Professoren-Kollege Friedrich Nietzsche meint, er könne als Einziger den 1868/69 angesichts der nationalen Gärung in Deutschland und Italien von Burckhardt in seiner Vorlesung «Über das Studium der Geschichte» skizzierten Gedanken folgen. Während der spätere Rhapsode Zarathustras 1874 seine «unzeitgemässen Betrachtungen» beginnt, wird 1905 die Vorlesung Burckhardts – als «Weltgeschichtliche Betrachtungen» von Jacob Oeri aus dem Nachlass ediert – zum Trostbuch jener, die im Schützengraben des Ersten und in den Bombenächten des Zweiten Weltkriegs am Nihilismus Nietzsches verzweifeln.

Wertpapier. Wir stecken in der Krisis. Aber: Glücklich das Publikum, dem ein so kluges, brillantes, anschauliches Büchlein geschenkt wird, um sich auf gesicherten Pfaden in das abgründige Dickicht des Denkens Burckhardts zu begeben. Kurt Meyer, der als Lehrer am Humanistischen Gymnasium und Beiträger unter anderem dieser Zeitung diente, hat ein Bijou abgeliefert, hat Leben, Werk und Wirkung Burckhardts meisterhaft wiedergegeben.
Seine Prosa fasst kongenial die verschwenderisch eingestreuten Burckhardtschen Formeln und Sentenzen. Trefflich ist die Auswahl oft bisher ungedruckter Bilder, zweckmässig das Literaturverzeichnis. Ein grober Klotz, wer diese wohlfeile Notration «Burckhardt vom Feinsten» nicht als Wertschrift für die Enkel von des Meisters Hand signieren lässt.


erschien zuerst in der "Basler Zeitung" 2009, Frühjahr. Abonnement hier.

Sonntag, 8. Mai 2011

Vernunft und Religion: Bullingers Kategorien

Heinrich Bullinger, Lateinlehrer im Kloster Kappel, der 27jährig an die Spitze der Zürcher Landeskirche berufen wurde.


In der grossen Schar der nun allenorten herumlärmenden „Freidenker“ und „Humanisten“ besteht eine grosse Wut auf die institutionalisierte Kirche und die akademische Theologie. Kaum eine Figur ist geeigneter das Verhältnis von „Vernunft und Religion“ im reformierten Humanismus besser zu klären als der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger, der von 1531 bis zu seinem Tode 1575, 44 Jahre das Oberhaupt der Zwingli-Kirche, der heutigen reformierten Zürcher Landeskirche, war (unsere hier noch nicht publizierte Kurzvita). In seiner Studienanleitung „Studiorum Ratio“ (Hg. Von Peter Stotz. Heinrich Bullinger Werke: Studiorum Ratio – Studienanleitung. 1. Teilband: Text und Übersetzung. Zürich, 1987) gibt Heinrich Bullinger einen kategorialen Raster für den Studenten, an den er sich halten soll, um sich die Welt intellektuell anzueignen. Dieses kategoriale Raster belegt eindrücklich, wie die reformierte humanistische Theologie den Naturwissenschaften die "pole position" im Weltzugang einräumte (Physiko-Theologie). Hier die acht „ordnenden Gesichtspunkte“ nach denen der Student sich seinem Stoff zuwenden und wie er ihn gliedern soll:


1. Die stoffliche Welt
2. Die Zeit
3. Der Mensch
4. GOTT
und seine Verehrung

5. Die Obrigkeit
6. Künste, Wissenschaften und Fertigkeiten
7. Tugenden und Laster
8. Einige
Bezeichnungen allgemeiner Dinge


Bevor "Gott" ins Spiel kommt, hat sich der Student mit der Trias „Materie – Zeit- Mensch“ zu beschäftigen. Aber der Gotteserkenntnis nachgelagert sind Politik (5), Kultur und Wissenschaft (6), die Sittlichkeit (7) und die Philosophie (8).
Interessant ist nun, wie der Theologe Bullinger den Punkt 4 „GOTT“ in Unterkategorien ordnet.

Gottheit
Es gibt einen Gott/ es gibt keinen Gott; Vorsehung; Schicksal; Zufall; Vielzahl von Göttern; Verehrung der Götter; Spiele; Festtage; Kultfeiern zu Ehren der Götter; Gelübde und Weihegabe; Zehnten; Bittfeiern; Verehrung der Götter eingehalten/vernachlässigt; Bestrafung ihrer Verachtung; Tempel oder Heiligtümer; Bilder; Priester; Opferschauer; Orakel und ihre Sprüche; Vorzeichen; Wunder und Wunderzeichen; Träume; Prophezeiungen; Weissagung.

Auch hier scheint mir bemerkenswert, wie die Aufzählung mit den Schlüsselbegriffen der „Kontingenzbewältigung“ (vgl. Hermann Lübbe: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, 1998, in: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München, S. 35-47): Vorsehung, Schicksal, Zufall einsetzt. Der Kategorienreihe vorgeschaltet ist die Frage nach der Existenz Gottes. Was dann nach dem Punkt „Vielzahl von Göttern; Verehrung der Götter“ folgt, ist ein Kategorienraster, wie es auch moderne Religionswissenschaft und Ethnologie durchaus aufstellen könnte. Auffällig ist, wie die sehr „irrationalen“ Ausformungen der Religion: Opferschau ff. bis Weissagung, an das Ende der Kategorienliste geschoben werden. In Bullingers Kategorienlisten für Studenten ist das pragmatische „Vernunftdenken“ der Aufklärung schon präfiguriert. Die Kategorien Materie / Zeit stehen am Anfang seines Weltzuganges, gefolgt vom Menschen, das Wort „Gott“ wird als "Kontingenzformel" der religiösen Sinnfindung an den Anfang der politischen, wissenschaftlichen, moralischen und philosophischen Fragen gestellt.

Aus dem "Carolinum" wurde dann 1833 die moderne Universität Zürich nach humboldtschen Vorbild, die derzeit auch nach "Bologna" funktioniert.