Samstag, 18. September 2010

Der Bettag, die Intellektuellen und das Prophetenamt

Basel-Stadt dankt "den Religionsgemeinschaften"

Giorgio Girardet

Seit das Stimmvolk den Anhängern des Propheten Mohammeds in der Eidgenossenschaft verboten hat, weitere Moscheen mit Minaretten zu schmücken, hat sich ein tiefer Graben geöffnet. Auf der einen Seite die Intellektuellen: Professoren, Politiker, Schriftsteller, Kulturschaffende, die sich im "Club Hélvetique" den Kopf darüber zerbrechen, wie sie dieser Sünde an der Vernunft wieder abhelfen könnten. Auf der anderen Seite die in der Minarettfrage siegreiche Blocher-Partei, die im Schützenhaus Albisgütli in Zürich alljährlich einen Gastredner zum Rededuell lädt.

Tiefer noch war in den 1830er-Jahren der Graben zwischen Konservativen und Liberalen, als Bürger mit der Büchse in der Hand Ratsherren wegputschten und Stand um Stand im metternichschen Staatenbund von 1815 zu liberaler Verfassung, Religions- und Pressefreiheit fand. Doch nur in Basel kam es zum Bruch: 1832 - just in jenem September, da der erste "Eidgenössische Dank-, Buss-, und Bettag" begangen wurde - blieb der Tagsatzung nichts anders übrig, als die Spaltung des Standes Basel in zwei Halbkantone zu sanktionieren. Die Liberalen Landleute wollten sich nicht länger von der patrizischen Pfaffheit die Leviten lesen lassen.

Kulturkanton. Der Bettag kam für das protestantische Basel zu spät. Seine Einführung erfolgte auf Antrag des Aargaus, jenes 1803 aus reformierten, katholischen und paritätischen Landstrichen zusammengeschusterten Gebildes, das nur durch republikanischen Gemeinsinn zu einen war. "Kulturkanton" wurde er aufgrund der geistigen Ausstrahlung seiner damaligen Staatsmänner genannt. Mit dem Bettagsmandat bemächtigten sich die Liberalen des Mediums der Konservativen: des sonntäglichen Pfaffenworts.
Indem in der ganzen Eidgenossenschaft am gleichen Sonntag gebetet wurd, entstand ein mächtiger Erinngerungsort, der Konservative und Liberalen wider den säkularen Zeitgeist an die Busstraditionen des Volkes Israel knüpfte. Der Gemeindepfarrer, ob nun geweihter Priester oder protestantischer "Prophet", wurde zum Medium einer theologischen Gardinenpredigt der Obrigkeit, die jene Werthaltungen und jenen Gemeinsinn stärkt, von denen der moderne Staat lebt, ohne sie selber herstellen zu können.

Föderalismus. So spiegeln seit 1832 Gebetsformeln, Bettagsmandate und Hirtenbriefe die konfessionelle Verfassung unseres föderalen Staatskunstwerks wider. Von 1862 bis 1872 schrieb der radikale Atheist Gottfried Keller die Bettagsmandate des Standes Zürich, und Jeremias Gotthelf musste als konservativer Pfarrer in Lützelflüh ab 1832 die Bettagsmandate seiner literarisch bekämpften liberalen Obrigkeit verlesen. 1886 beschlossen die Bischöfe, für die durch den 1848 siegreichen Freisinn gedemütigte katholische Schweiz einen Hirtenbrief mit einheitlicherFestordnung einzuführen. Dieses Jahr erläutert er am Exempel der Heiligen Mutter Theresa, die in Bosnien unter dem Ruf des Muezzins geboren wurde und durch die Pflege der Hindus in Indien ihre katholische Heiligkeit erwarb, wie Katholizismus im multireligiösen Umfeld gelingen kann. Und im konfessionell geteilten Kanton Glarus schreibt Landammann Dr. Marti zusammen mit Schreiber, Sekretär und Geistlichkeit ein gehaltvolles Bettagsmandat zum Thema "Verantwortung" für die Front des Amtsblattes.
So entstand über gemeinsame "spoken words" gemeiner Sinn - Gemeinsinn. Ein analoger Prozess ist auch im liberal-katholischen Luzern zu erhoffen, wo schon das zweite Jahr die Regierung vereint mit den drei öffentlich anerkannten christlichen Konfessionen und mit der islamischen Gemeinde Luzern einen gemeinsamen Bettagsaufruf formuliert.

Prophetenamt. Die Regierung Basel-Stadts dankt dieses Jahr "den Religionsgemeinschaften". Nicht nur für karitative Freiwilligenarbeit, sondern auch für die Kritik, welche sie an der Regierungstätigkeit üben sollen. Dieser Auftrag zum Wächteramt im Staat wurde von den Reformatoren ausdrücklich der Landeskirche zugewiesen und als Prophetenamt bezeichnet. Im Basler Münster wird am Bettag der Zürcher Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist die auf die Bergpredigt folgenden Worte zu den "falschen Propheten" (Mtth. 7, 15ff.) auslegen. Gerade jene "Kulturschaffenden", die sich in jüngster Zeit vor dem Gegenwind aus dem Albisgüetli unter die Rockschösse des Präsidenten der Eidgenössischen Antirassismus-Kommission flüchten, hätten Gelegenheit, den Worten eines ordinierten "Kollegen" die Ehre zu erweisen.
Denn: trauten nicht schon 1832 die liberalen "Pfaffenfresser" des Kulturkantons der Pfaffenstimme mehr als ihrem in der Pressefreiheit gedrucktem Vernunftlärm?

Erschienen in der "Basler Zeitung" vom 18. September 2010. Sie wollen solche Texte (die online nicht erhältlich sind) in Zukunft in der Print-Premiere geniessen? Abonnieren Sie hier.

Freitag, 17. September 2010

Bettagsmandate 2010


Karte der konfessionellen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft 2000 (Quelle)



1. Bettagsgebet der Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen der Schweiz (AGCK)

Ab 1886 erliessen die Bischöfe einen Hirtenbrief und eine Festordnung für die katholische Schweiz, ab dem 2. vatikan. Konzil (1962 - 65) wurde der Eidg. Bettag zum ökumenischen Feiertag. (Quellen: hls)
Bis in die 60er Jahre waren die Diözesanbischöfe abwechslungsweise die Autoren, in den 70er und 80er Jahren wurde er vermehrt von einer Fachperson verfasst. Die Bischöfe gaben nur noch ihr nihil obstat dazu. (Luzzato, Franco. Öffentlichkeitsdefizit der Katholischen Kirche: Organisationskommunikation und Kommunikationsstruktur der katholischen Kirche Schweiz - Bedingungen für ein Ende der Stagnationskrise. Diss. Freiburg, 2002, S. 136, FN 401)

3. Bettagsmandate der Regierungen der eidgenössischen Stände oder deren Landeskirchen.

3.1 Zürich (1351, 1525 reformiert)
Regierung erlässt seit 1873 keine Bettagsmandate mehr
Wort des Kirchenrates der reformierten Landeskirche Zürich zum Bettag

3.2 Bern (1353, 1528 reformiert)

3.3 Luzern (1332, katholisch)
Regierung erlässt seit 2009 zusammen mit der katholischen, christkatholischen und reformierten Landeskirchen und der "Islamischen Gemeinde Luzern" einen Bettagsaufruf.

3.4 Uri (1291, katholisch) der Regierung, Hirtenbrief

3.5 Schwyz (1291, katholisch)
Kein Mandat der Regierung, Hirtenbrief

3.6 Unterwalden (1291)
3.6.1 Nidwalden (katholisch)

3.7 Zug (1353, katholisch)
Evangelisch-Reformierte Kirche Zug kein Bettagstext im Netz

3.8 Glarus (1352, konfessionell gemischt)
Bettagsmandat des Landammanns im Amtsblatt.

3.9 Fribourg (1481, katholisch)

3.10 Solothurn (1481, katholisch, bis auf Bucheggberg)
Evangelisch-Reformierte zu Bern (kirche Jura-Bern-Solothurn)
Katholiken Hirtenbrief. Bettagskollekte (eingeführt 1776, wurde 2010 abgeschafft) Betrachtungen eines Gemeindepräsidenten dazu.

3.11 Schaffhausen (1501, reformiert)

3.12 Basel (1501, reformiert)
3.12.2 Basel-Land

3.13 Appenzell (1513)
3.13.1 Appenzell Innerrhoden (katholisch)
3.13.2 Appenzell Aussderrhoden (reformiert)
Weder Regierung, noch Kirche scheinen Bettagsbotschaft zu erlassen.

3.14 St.Gallen (1803, konfessionell gemischt)

3.15 Aargau (1803, konfessionell gemischt)
Regierung und Kantonalkirchen der drei christlichen Konfessionen (Reformierte, Katholiken, Christkatholiken) geben im Wechsel ein Bettagsmandat heraus. Das Bettagsmandat von 2010 verantworten die Kirchen.
3.16 Graubünden (1803, konfessionell gemischt)
Bettagsmandat der Regierung

3.17 Tessin (1803, katholisch)

3.18 Thurgau (1803)
Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons Thurgau, Bettagsansprache des Kirchenrates (zu verlesen am 12. oder 19. September im Gottesdienst)

3.19 Waadt (1803)


3.20 Wallis (1815)


3.21 Neuenburg (1815)


3.22 Genf (1815)


3.23 Jura (1979)



4. Bettagsmandate anderer christlicher Bekenntnisse
4.1. Bettagsaufruf der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA)

5. Bettagsbotschaften anderer Religionen


6. Bettagsbotschaften der Areligiösen

Mittwoch, 8. September 2010

Mut zur Lächerlichkeit

Gibt es eine richtige Partei? Hier denkt einer darüber nach, warum er sich ausgerechnet für die Evangelische Volkspartei entschieden hat.

Ich bin einer Partei beigetreten mit 43.

Unsereins vom Jahrgang 1965 fiel das sich vollendende Schlaraffenland der 68er in den Schoss, diese unbedingte Zuversicht in den guten, spontanen und kreativen Menschen. Aber wir erbten die apokalyptischen Erwartungen des Club of Rome, die sich auf das dräuende "1984" hin in autorfreien Sonntagen, im drohenden Atomstaat Robert Jungks, dem Waldsterben und Tschernobyl allmählich menetekelhaft materialisierten. So meinte ich lange ein "Linker" oder ein "Grüner" sein zu müssen. Aber nein: Ich könnt mich nicht auf Dauer bei gewissen Genossinnen einreihen, die unter Absingen der Internationalen der Ausssicht auf ein Verwaltungspöstchen ihre ersten Föten opfern. Leider ist auch mein Leistungsausweis zu dürftig, um beim kravattierten Schaulaufen der FDP-Bierdeckel-Ideen mitzumachen, der Partei, die unseren Staat, den sie ersonnen und aufgebaut hat, nur noch als durch Wählermandate getarntes Geflecht von Verwaltungsratspfründen verwaltet.

Und endlich komme ich aus dem falschen Milieu, um mich organisch der CVP anzuschliessen. Die Unverfrorenheit, mit welcher der Walliser Condottiere Darbellay den ausstehenden Sold der Grossbanken für die Abstimmungsleistungen seiner Beichtkinder reklamierte, erinnert mich fatal an den verkrachten Sozialismus eines Bettino Craxi. Bei den Grünen überwiegen - bei einem grossen Respekt vor Einzelfiguren und dem Grundanliegen - Schwarmgeister und von der "Ästhetik des Widerstandes" träumende Utopisten. Und für die SVP endlich, das Geschöpf des "Unternehmers in Chemie und Volkszorn" (Adolf Muschg, 1997), müsste ich mich als Opportunist auf den Karren des Siegers schwingen: nimmer.

Und deshalb die EVP? Nicht nur. Im Versuch, schreibend Geld zu verdienen, hatte ich bald "Kolumnen", war angewiesen auf "Meinung", die sich auch "kreativ" und "spontan" einstellte - aber nicht immer dem entsprach, was der helvetische Rudeljournalimus wünscht. Und da vieles von dem, was ich sagen will, "unsäglich" erscheint und sich offenbar nur noch als Satire sagen lässt, endete ich beim Nebelspalter. Satire - Tucholsky sagte es - "darf alles" und sei ein Produkt von "Moralisten" und "gekränkten Idealisten". Aber Himmel? Wo sollte ich das Mass der Gerechtigkeit für meinen beissenden Spott finden, wenn nicht in der Gottesfurcht?
Darum einer Partei beitreten? Der Partei, die mit Pfarrer Sieber warb? Vielleicht eher der Partei Ruedi Aeschbachers (NR, ZH), der als Stadtrat die Zwinglistadt - die "Grünen" steckten noch in den Kinderschuhen - zum verkehrsberuhigten Weltwunder machte, der vor laufenden Kameras mit heiterer Gelassenheit Christoph Blocher die Qualifikationen zum Bundesratsamt weglachte, wo andere in schäumendem Parteigeist die Contenance verloren. Es ist der ruhige Mut zum Unzeitgemässen, zur Lächerlichkeit, der mir bei der EVP imponiert.
Nur darum zur EVP? Nein, ich geb's zu, es ist auch: die Macht. Oft Zünglein an der Waage, sitzt die EVP im geometrischen Gleichgewichtspunkt des Meinungsspektrums des Parlaments in der Position des allseits respektierten Schiedsrichters. Und aus dieser Position kauft man ihr auch grossartige Dummheiten ab.
Ausgerechnet mein neuer Parteipräsident, Heiner Studer (NR, AG, 2007 abgewählt) hat die dümmste Erkenntnis der eidgenössischen Räte 2003 durch eine Motion initiert: die Abschaffung der Gewissensprüfung für Wehrdienstverweigerer. Am 1. April 2009, im Calvin-Jubeljahr, detonierte diese tempierte Handgranate, die vertrauensselig ob des ach so frommen Absenders ungeprüft durch die beiden Kammern der eidgenössischen Räte gereicht wurde. Sie ist geeignet, die alte Milizarmee vollends zum gefährlichen Sammelbecken patriotischer Zivilversager zu machen.
Der Typus des skrupelbeladenen Milizoffiziers (wie Adolf Muschg), der seine Verantwortung ernst nimmt, wird aussterben, Zivilversager und Uniformnarzissten werden weiter "frivole Unglücksfälle" mit Untergebenen organisieren. Die Räte sollen sich an ihren Amtseid erinnern und ihrem Schildbürgerstreich, den sie einer SP-Frau, einem Kommunisten oder einem Grünen nie durchgelassen hätten, Remedur schaffen. Als Publizist bleibe ich nur glaubwürdig, wenn ich meine Partei nicht von Kritik ausnehme, auch meinen abgewählten Präsidenten nicht.
GIORGIO GIRARDET

Erschienen in der Schweizer Ausgabe der "Zeit" vom 22. Dezember 2009