Montag, 9. November 2009

Teuwsen, der Koran, die böse Weltwoche & der gute Greis


Peer Teuwsen feiert mit Roger de Weck die erste Schweiz-Ausgabe der "Zeit"

Einer der ersten Links den Google zum Schweizerisch-Deutschen Journalisten Peer Teuwsen findet, ist dieses Interview mit dem Rapper "Greis", einem der neuen shooting-stars der linken Szene in der Schweiz (Profil: Politologie-Studium, engagierte Texte, solidarisch mit allen Unterdrückten, Anti-Blocher). Als Constantin Seibt die "Wochenzeitung" verlassen musste, war Greis einer der Kolumnisten-Nachfolger des Erfinders der "Familie Monster". Nachdem Peer Teuwsen "Das Magazin" verlassen musste, war der nun eingebürgerte, geborene Deutsche einige Zeit Leiter "Kultur und Wissenschaft" bei der "Weltwoche". Das Rudel der gutmeinenden Mainstream-Journis der Schweiz strafte ihn dafür mit Liebesentzug: Sie hätten Teuwsen lieber als Arbeitslosen gesehen, denn als drittwichtigster Mann der Weltwoche. Der Rapper-Kolumnist der "Wochenzeitung" wähnte den Moment gekommen, einen "scoop" zu landen: die Entlarvung der SVP-Weltwoche durch das Knacken des "anständigen" Peer Teuwsen.

Unter dieser Perspektive muss das Interview gelesen werden, das drei Dinge zeigt: kritische Loyalität Teuwsens gegenüber seinem Arbeitgeber, betonierte Vorurteile im Kopf des Rappers und Unkorrektheit des WoZ-Kolumnisten im Umgang mit dem Interview-Partner. Die folgende Passage war "off-records" und wurde vom Interviewten nicht freigegeben:

Glaubst du, der Islam sei eine Religion der Gewalt?

Ich habe mal den Koran gelesen, und ich muss sagen, es ist ein sehr blutrünstiges Werk
.

Daraus sind drei Dinge zu schliessen:

1. Ein linker Gutmensch (dieser scheussliche Begriff scheint mir hier trotz allem angebracht) scheut keinen Bruch seiner Berufsethik im Bemühen die betonierten Vorturteile seiner Leserschaft bestätigen zu können (die Weltwoche muss islamophob sein)

2. Auf der Wochenzeitung gehen die Redaktoren davon aus, dass kein Leser der "WOZ" den Koran selber liest (dort glaubt man das Meinungsmonopol einer "Prawda" zu geniessen) und die Meinung, die Teuwsen "off-records" abgab allenfalls bestätigen könnte.

3. Ein seriöser, anständiger Journalist scheut derart die Vorurteile des Mainstreams (man darf zum Islam nichts Kritisches sagen), dass er einen echten Lese-Eindruck, den er unbefangen "off-records" abgab nicht autorisieren will.

Schliesslich hat Teuwsen mit dem "Türkentum" seine Erfahrungen gemacht: sein Interview mit Orham Pamuk brachte den türkischen Romancier in die Schlagzeilen der Weltpresse und verschaffte ihm angesehene Preise. Die Folgen seines Interviews schildert er in seinem eben erschienen Buch "Das gute Gespräch":

Als ich eines Abends den Fernseher anstelle, sehe ich in den Tagesthemen Bilder vom Prozess gegen Pamuk in Istanbul. Vor dem Gerichtsgebäude stehen Nationalisten und schreien: "Jude, Jude, Jude!". Eine Frau schlägt Pamuk eine Aktentasche auf den Kopf. Die Polizei steht mit verschränkten Armen daneben und schaut zu. Mich schaudert. Bin ich schuld an diesen Zuständen? Ich weiss es nicht. Der Prozess wird noch am selben Tag vertagt, das Verfahren schliesslich auf Geheiss von ganz oben eingestellt. Der Paragraph 301 wird entschärft. Im Oktober 2006 bekommt Orhan Pamuk den Literaturnobelpreis zugesprochen.

Das Buch, das Interview-Perlen mit wertvollen Einblicken in die Praxis eines Meisters bietet, kann allen nur empfohlen werden. Bescheiden im Anspruch, enthält es goldige Einsichten. Weil Teuwsen weder als bewundernder Jünger eines Meisters interviewt (wie seine Kollegin Katja Nicodemus (D)) noch als zynischer Zeitgenosse (wie sein Kollege Andre Müller (A)), noch als selbstverliebter Egomane (wie Roger Schawinski (CH)), sondern in allen seinen Gesprächen demütiger Schüler des Lebens und intelligentes Gegenüber bleibt.

Mit diesem Buch ist Teuwsen Schweizer geworden: eine knappe, schnörkellose, bescheidene Sammlung von Meisterstücken, die nicht mit den grossen Namen, sondern den Perlen der Einsicht in das Menschsein glänzt und das allen folgenden Interviewern deutscher Zunge stolz zuruft: "Machs na!"

PS: Ein kleiner Wermutstropfen: Herr Teuwsen kennt den Koran besser als die Bibel, der er - wie oft anständige Atheisten - süsslichen Schwachsinn unterstellt.

Samstag, 12. September 2009

Blogger! Helft den "drei Tellen": Levrat, Hayek, Blocher

Nicolas Hayek, der "Retter der Uhrenindustrie", Unternehmer und prinzipienfester Eidgenoss hat sich mit den Klassenfeinden von 1919 verbunden und will in der grossen Frage der Bankenregulierung eine pragmatische, eidgenössische Lösung, die als Fanal dem Bankenplatz der Schweiz eine erneuerte moralische Glaubwürdigkeit geben kann.

Christoph Blocher, kombatanter Oberst (Besetzung der Sechseläute-Wiese anno 1992!), harnäckiger Patriot (Kämpfer für die Unabhängigkeit der Schweiz) und erfolgreicher Unternehmer in einem Randgebiet, Vordenker jener ländlichen Protestanten, die 1919 mit dem Wirtschaftsfreisinn ("Liberale") nicht mehr einverstanden waren (Bauern- und Gewerbe- und Bürgerpartei.

Christian Levrat, charismatischer Frontmann einer erneurungswilligen Sozialdemokratie, die an Robert Grimm anschliessen möchte, der 1919 als Führer des Landesstreiks im Gefängnis büsste und dann die Sozialdemokratie in die Landesregierung führte.

Diese drei Männer symbolisieren den grösstmöglichen Konsens der Willensnation. Die Blogosphäre der Schweiz, kann nun ihre Effizienz beweisen, indem sie in kürzester Zeit den Support für die mutige und weitsichtige Initiative der drei Tellen organisiert. Wer willens ist, für die "drei Tellen" realen Support durch Unterschritensammlung zu leisten, trage sich unten im Kommentar mit seiner Email-Adresse ein.

Der Uertner und "Nebelspalter", Giorgio Girardet

Donnerstag, 10. September 2009

„Ein Berner von reinstem Korn“ und das Offiziersfest von Langenthal 1822

Aufklärungsritt in den Untergang des Alten Berns

Grauholz, Nacht vom 4. auf den 5. März 1798. Am Lagerfeuer der bernische General Karl Ludwig von Erlach, der zurückgetretene Schultheiss Niklaus Friedrich von Steiger und einige Stabsoffiziere. Da tritt in die gespenstische Szenerie des letzten altbernischen Biwakfeuers ein Jegenstorfer und übergibt einen Brief an den Oberbefehlshaber. Das Missiv wird laut verlesen. Erlach solle seine Armee nehmen und dem Feind entgegenführen. Erlach will aber die Grauholzstellung halten und schimpft über den Lumpenzettel. Der Jegenstorfer denkt, der General sei ein Verräter und zieht die Pistole, um ihn zu erschiessen. Da fällt der siebenundzwanzigjährige Aide-decamp Rudolf Effinger von Wildegg dem Attentäter in den Arm, zerreisst sich den Handschuh und rettet den General.
Kaum dieser akuten Gefahr entronnen, hört Erlach den Kanonedonner von Fraubrunnen her und erteilt in den verbindlichen Worten des 18. Jahrhunderts dem gut berittenen Effinger den letzten Aufklärungsauftrag des Alten Bern:

"Mon cher Effinger, vous qui etes bien montés, faites-moi le plaisir d'aller voir ce qui se passe par-là."
(Vivat, Seite 345)

Effinger wurde von den Franzosen gefangen, als Geisel - er war immerhin Schwiegersohn eines bernischen Schultheissen - nach Besançon verschleppt, schliesslich entlassen. Wenn aber die Franzosen, die damals der Schweiz gewaltsam eine Verfassung aufnötigten, über die sie keine Abstimmung wagten, weil sie das Ergebnis vorhersehen konnten, geglaubt haben sollten, Effingers Willen gebrochen zu haben, irrten sie sich. Nur dass die Methode, dass jeder Kanton sich für sich totschlagen liess, wie Goethe sagte, Bern für sich und Schwyz für sich und Nidwalden für sich, dass diese Methode nicht mehr à jour war, dass es einer allgemeinen, eben schweizerischen Anstrengung bedurfte, um die Freiheit wieder zu gewinnen und zu behaupten, das allerdings sah damals jedermann.

Als 1801 der Friede von Lunéville das Selbstbestimmungsrecht der Schweiz wieder ins Völkervertragsrecht einführte, liess die helvetische Regierung über die zweite Verfassung nun wirklich abstimmen, um eine bessere Grundlage für die eigene Macht nach dem Abzug der Franzosen zu haben. Und was ergab sich? Schauen wir auf den Distrikt Langenthal- hier sind wir ja - und auf die ganze Helvetische Republik. Im Distrikt LangenthaI wurde die Verfassung mit 1 '840 zu 464 Stimmen verworfen. Daraus machte der Kleine Rat der Helvetischen Republik eine Annahme von 2'914 zu 1 '840 Stimmen, indem er einfach die Nichtstimmenden zu "stillschweigend Annehmenden" ernannte! Das Entsprechende geschah auf der gesamtschweizerischen Ebene: Aus 92'423 Nein gegen 72'453 Ja mach 239'625 Ja gegen 92'423 Nein!

Rudolf Effinger leistet Napoleon Widerstand

Das war nun dem bisher relativ geduldigen Schweizer Volk zu viel und nach dem Abzug der französischen Truppen fegte ein Volksaufstand das diskreditierte helvetische System weg. An der Spitze dieses Aufstandes, der mit dem irreführenden Namen Stecklikrieg mehr verharmlost als charakterisiert wird, stand in der entscheidenden Phase politisch Alois Reding und militärisch Rudolf Effinger!

Der Schaden, den seine Kanone - es war nur eine - in Bern anrichtete, kann an einer Fassade vis-a-vis der Untertorbrücke in der Bundesstadt noch betrachtet werden. Die Erinnerung an '1802 ist andernorts ziemlich verblasst, das kleine Denkmal auf dem Renggpass zwischen Hergiswil und Alpnach, ein Ex Vota in Unterschächen und die erbeutete helvetische Fahne im Bundesbriefmuseum in Schwyz sind Ausnahmen von der Regel.
Nun wollte ja Napoleon Bonaparte 1802 keine selbst konstituierte Schweiz sondern eine unter französischer Vorherrschaft, deshalb schickte er erneut Truppen und diktierte die Mediation. Er diktierte sie klug, sie schuf sechs neue gleichberechtigte Kantone, das Datum 1803 steht zu Recht im Ständeratssaal. Und doch war es ein Diktat und für viele, nicht zuletzt für Konservative, war deshalb Effinger ein Symbol des Widerstandes.

Polyvalente Symbolfigur des Offiziersfests

Das Diktat des Korsen war weltgeschichtlich von dramatischen Folgen. Über Effinger vor Bern schrieb die Londoner Times. Georg III., der damals mit Frankreich im Frieden lebte, verlangte: "Switzerland shall be evacuated by the Frenchforces." Es war eine von sechs Forderungen, als alle nicht erfüllt wurden, erklärte Grossbritannien Frankreich einen Krieg, den es nach Irrungen und Wirrungen 1815 bei Waterloo definitiv für sich entschied.

Der Sieger von Waterloo, der Herzog von Wellington, war einer der Unterzeichner der Anerkennung der Schweizer Neutralität durch die Mächte.
Im Zeichen der konservativen, durch Bundesvertrag und Neutralität bestimmten, Ordnung von 1815 genoss Rudolf von Effinger trotz seiner allerdings wenig rühmlichen Rolle bei der Unterdrückung des Oberländer Aufstandes 1814 eine bedeutende Popularität.

Als Mitglied des patrizischen Establishments und Oberbefehlshaber der Berner Truppen konnte er sich eine Reformfreudigkeit leisten, welche damals nicht in Mode war.
Effinger holte den Käse von den Alpen ins Tal. 1815 richtete er in Kiesen die erste Talkäserei ein, die zweite entstand hier im Oberaargau, in Wangen an der Aare 1822, als er Oberamtmann war und daraus wurden im Kanton Bern bis 1880 600 Betriebe. Irrungen und Wirrungen schildert Gotthelfs "Käserei in der Vehfreude" plastisch. Der Pfarrer von Lützelflüh schildert Effinger als

"in Gesetzen nicht sonderlich bewandert, aber praktisch durch und durch, kurz ein Berner von reinstem Korn".


Wenig später veranlasste Effinger 1824 die Gründung der Ersparniskasse in Wangen an der Aare.
Die Kombination von konservativem Schultheissenschwiegersohn und entschiedenem Beförderer des Fortschritts, verlieh Effinger die einmalige Stellung, welche ihn zum Präsidenten des trotz aller Vorsicht politisch keineswegs unproblematischen Offiziersfestes von Langenthai 1822 prädestinierte. Vielleicht war ja der nominelle Initiant Oberst Karl Rudolf Samuel von Luternau wirklich krank, vielleicht war er politisch krank, vielleicht war er wirklich und politisch krank, jedenfalls passte es fugenlos ins Bild, dass nicht der kranke Luternau sondern der zupackende und gesunde Effinger hier in Langenthal präsidierte.

Fugenlos ins Bild passte auch, dass der Aargau das grösste Offizierskontingent stellte, 180 Mann, gefolgt von Bern mit 153, der Waadt mit 58, Luzern und Solothurn mit je 39. Gemessen an der Bevölkerungszahl mögen die beiden Nidwaldner das stärkste Kontingent gestellt haben. Wie auch immer, die Dynamik einer sich im Militärischen findenden, jungen und erneuerungsfrohen Gesellschaft wird sichtbar, in einer Sache, zu der Männer des Ancien Regime wie Luternau oder Effinger stehen konnten und die heranwachsenden liberalen Köpfe der Eidgenossenschaft wie der hier 1822 anwesende nachmalige Waadtländer Staatsrat und zweimalige Oberbefehlshaber der Schweizer Armee Charles-Jules Guiguer de Prangins.

Traffelets Wandgemälde von 1936 im Hotel Bären


Friedrich Traffelet, der Maler, dem wir die wunderbaren Bilder im "Bären" verdanken, sollte irgendetwas Historisches malen, etwas Langenthalisches. An Pestalozzi dachte er, an andere Ereignisse durchaus auch. Warum wählte er 1822? Hören wir ihn selber, wie er am 24. September 1936 hier spricht:

"Anno 1822, am 18. Juli, het hie z'erschte schwyzerische Offiziersfescht stattgfunde und das Fescht het denzemale i der ganze Schwyz ds gröschten Echo gfunde!
Wohl, das isch es Sujet für ne Maler, hets mi dunkt, und de no für Zyte, wie mir se hüt heil E Zyt, wo me vo allnen Orte här Chriegslärm hört, wo 's eim dunkt, es waggeli alles, was eim tüür und 'heilig isch, wo me dranne hanget! Wo d'Parteien alli uf enanderi Syte schrysse, wo me mängisch ds Gfüehl überchunnt, und gwüss mit Rächt, d'Armee syg no der beseht und einzig Chitt, wo z'Volk z'säme het!"
(Langenthaler Heimatblätter, 1937, Seite 8)


Initialzündung der „Regeneration“?

Aus Langenthai 1822 wuchs das Schützenfest von Aarau 1824 mit heraus und eine ganze Folge von Festen als deren abschliessendes, trotz der Tragik des Sonderbundskrieges, ohne Zweifel das Bankett zur Annahme der Bundesverfassung von 1848 im Berner Hotel de Musique gelten kann.

Seither, aber wirklich erst seither, gilt die Schweiz weltweit als Insel der Stabilität. Nie haben wir mehr als vier Bundesräte in einem Jahr ausgewechselt, genau genommen haben wir seit 1848 keinen neuen Bundesrat mehr erlebt, nur oft einen erneuerten Bundesrat. Wir können also im Rückblick dankbar konstatieren, dass Langenthal 1822 wahrgemacht hat, was eine St. Galler Zeitung damals als Hoffnung aussprach:

"Möge Langenthal das Grütli des 19. Jahrhunderts werden!"


Peroratio

Was von Langenthal 2009 ausgehen wird, muss die Zukunft weisen. Ich bin hoffnungsfroh, wenn ich in die Runde blicke. Den Grund dieser Zuversicht muss ich nicht weit suchen, denn dieser Grund, das sind Sie.
Sie bieten Gewähr für die bleibende Wirklichkeit des von Edi Engelberger, Hans Schatzmann und Hannes Schneider-Ammann in der aktuellen Einladung wieder aufgegriffenen Mottos:

"Alles, was sie wollten, waren Schweizer stets durch Einigkeit."

Jürg Stüssi-Lauterburg, August 2009

Der vorliegende Text ist mit Einwilligung des Autors der Pressemappe für den Anlass vom 21. August 2009 entnommen worden. Einzig die Anrede und Schlussdank wurden abgetrennt. Titel und Zwischentitel wurden vom Bloginhaber gesetzt.

Jürg Stüssi-Lauterburg, ist promovierter Historiker und Direktor der „Bibliothek am Guisanplatz“ (ehem. Militärbibliothek). Er hat eine Unzahl von Vorträgen und Monographien verfasst und schreibt für die „Weltwoche“.

Bettagsmandat 1862 (abgelehnt) von Gottfried Keller


Gottfried Keller, seit 1861 Staatsschreiber des Kantons Zürich, verfasste als Atheist - ein vom der Kantonsregierung abgelehntes - Bettagsmandat für das Jahr 1862. Damals war die Emanzipation der Juden aktuell.

"Mitbürger! Wir heißen auch heute die Pflicht willkommen, welche uns auferlegt, beim Herannahen des eidgenössischen Bettages ein getreuliches Wort an Euch zu richten. Als die Eidgenossen diesen Tag einsetzten, taten sie es wohl nicht in der Meinung, einen Gott anzurufen, der sie vor andern Völkern begünstigen und in Recht und Unrecht, in Weisheit und Torheit beschützen solle; und wenn sie auch, wo er es dennoch getan, in erkenntnisreicher Demut für die gewaltete Gnade dankten, so machten sie um so mehr diesen Tag zu ihrem Gewissenstag, an welchem sie das Einzelne und Vergängliche dem Unendlichen und ihr Gewissen, das in allen weltlichen Verhandlungen so oft durch Rücksichten des nächsten Bedürfnisses, der scheinbaren Zweckmäßigkeit, der Parteiklugheit befangen und getäuscht wird, dem Ewigen und Unbestechlichen gegenüberstellen wollten.
Mitbürger! Wenn in ernster Feierstunde sich jeder von Euch fragen wird: Welches ist mein innerer und sittlicher Wert als einzelner Mann, welches ist der Wert der Familie, welcher ich vorstehe? so stellt er sich diese Fragen, zum Unterschied von den übrigen Festtagen unserer Kirche, vorzugsweise mit Beziehung auf das Vaterland und fragt sich: Habe ich mich und mein Haus so geführt, daß ich imstande bin, dem Ganzen zum Nutzen und zur bescheidenen Zierde zu gereichen, und zwar nicht in den Augen der unwissenden Welt, sondern in den Augen des höchsten Richters? Und wenn sodann alle zusammen sich fragen. Wie stehen wir heute da als Volk vor den Völkern und wie haben wir das Gut verwaltet, das uns gegeben wurde? so dürfen wir nicht mit eitlem Selbstruhm vor den Herrn aller Völker treten, der alles Unzureichende durchschaut und das Glück von ehrlicher Mühewaltung, das Wesen vom Schein zu unterscheiden versteht.
Zwar ist unserm Volke neulich Ehre geworden bei edlen und großen Völkern, welche das zu erringen trachten, was wir besitzen, und unsere Absendlinge als Beispiele und Lehrer in den Hantierungen nationalen Lebens gepriesen haben, und erleuchtete Staatsgelehrte weisen schon allerwärts auf unsere Einrichtungen und Gebräuche als auf ein Vorbild hin. Aber wenn auch, wie einer unserer Redner am frohen Volksfeste es aussprach, der große Baumeister der Geschichte in unserem Bundesstaate nicht sowohl ein vollgültiges Muster als einen Versuch im kleinen, gleichsam ein kleines Baumodell aufgestellt hat, so kann derselbe Meister das Modell wieder zerschlagen, sobald es ihm nicht mehr gefällt, sobald es seinem großen Plane nicht entspricht.
Und es würde ihm nicht mehr entsprechen von der Stunde an, da wir nicht mehr mit männlichem Ernste vorwärts streben, unerprobte Entschlüsse schon für Taten halten und für jede mühelose Kraftäußerung in Worten uns mit einem Freudenfeste belohnen wollten...
Was unsere kantonale Gesetzgebung betrifft, so dürfte es hier der Ort sein, eines kurzen aber vielleicht folgennahen Gesetzes zu erwähnen, welches seit dem letzten Bettage geschaffen wurde. Der von Euch erwählte Große Rat, liebe Mitbürger, hat mit einigen wenigen Paragraphen das seit Jahrtausenden geächtete Volk der Juden für unsern Kanton seiner alten Schranken entbunden, und wir haben keine Stimmen vernommen, die sich aus Eurer Mitte dagegen erhoben hätten. Ihr habt Euch dadurch selbst geehrt, und Ihr dürft mit diesem Gesetze, das ebensosehr von der Menschenliebe wie aus Gründen der äußern Politik endlich geboten war, am kommenden Bettage getrost vor den Gott der Liebe und der Versöhnung treten. An Euch wird es sodann sein, das geschriebene Gesetz zu einer fruchtbringenden lebendigen Wahrheit zu machen, indem Ihr den Entfremdeten und Verfolgten auch im gesellschaftlichen Verkehr freundlich entgegengehet und ihrem guten Willen, wo sie solchen zeigen, behilflich seid, ein neues bürgerliches Leben zu beginnen. Was der verjährten Verfolgung und Verachtung nicht gelang, wird der Liebe gelingen; die Starrheit dieses Volkes in Sitten und Anschauungen wird sich lösen, seine Schwächen werden sich in nützliche Fähigkeiten, seine mannigfaltigen Begabungen in Tugenden verwandeln, und Ihr werdet eines Tages das Land bereichert haben, anstatt es zu schädigen, wie blinder Verfolgungsgeist es wähnt...
Möge am 21. Herbstmonat unsere Landeskirche in ihren einfachen Räumen ein einfach frornmes, hell gesinntes Volk vereinen! Möge aber auch der nicht kirchlich gesinnte Bürger im Gebrauche seiner Gewissensfreiheit nicht in unruhiger Zerstreuung diesen Tag durchleben, sondern mit stiller Sammlung dem Vaterlande seine Achtung beweisen."


Aus Gottfried Kellers "Bettagsmandaten" 1862 - 1872
(nach der Ausgabe von R.Faesi; Zürich 1951)

Der Text der übrigen Bettagsmandate Gottfried Kellers kann hier als Text-Dokument eingesehen werden.

Adolf Muschg wurde 2009 von der Schweiz-Ausgabe der "Zeit" aufgefordert ein eigenes Bettagsmandat zu verfassen. In seinem Text "Selbstachtung 2009" denkt der Keller-Biograph über die Gründe der Ablehnung dieses Bettagsmandates nach und analysiert die "geistige Situation" der Schweiz. Die Kontroverse, die der Text in den Schweizer Medien auslöste, ist hier dokumentiert.

Donnerstag, 27. August 2009

Willensnation als Sezession?



Haus der Sezession in Wien

Dieser Blog figuriert auf Platz zwei der „google-Suche“ nach dem Begriff „Willensnation“, gleich nach dem Wikipedia-Lemma. Auf den Fersen folgt uns die „blogwiese“, der Blog des „Berufsschweizers“ Jens Wiese vor dem Blog einer Zürcher „Public Affair“-Agentur. Diese prominente Stellung, die ich mir nicht abschliessend erklären kann (vielleicht hat einer der Leser eine Idee, wie so etwas zu Stande kommen kann?), will ich nutzen. Schon vor dem Buch von alt Bundesrat Kaspar Villiger „Eine Willensnation muss wollen“, war dieser Blog unter den ersten zehn. Durch die Buchpublikation des Bundesrates wurde er temporär wieder nach hinten gespült, um dann wie ein Korkzapfen wieder auf Platz zwei zu schnellen.

Ansporn. Diese Position spornt mich an, den Blog zu öffnen für relevante Texte anderer Autorinnen oder Autoren, die nirgends sonst im Netz publiziert sind, oder in diesem Kontext eine zusätzliche „Sichtbarkeit“ erhalten können. Dabei will ich aber den thematischen Schwerpunkten, die ich für diesen Blog definierte, treu bleiben.

Forscher (Studierende der Geschichte, Sprachwissenschaften, Rechtsgeschichte etc.), Autoren, Journalisten und Blogger, die Texte haben, die sie hier einstellen oder verlinken möchten, können solche mir gerne anzeigen. Massgebend bleibt der oben zitierte thematische und historische Fokus. Zweitens sind mir alle Texte willkommen, die „unzeitgemäss“ sind, das heisst ausserhalb des publizistischen „mainstreams“ liegen, der sich leider auch in der Blogosphäre durchzusetzen scheint. Ein hohes Ziele wäre es, diesen Blog zum Hort jener „Sezession“ zu machen, die das liberale Urgestein Max Frenkel kürzlich in der „Weltwoche“ anmahnte und ich möchte hier die als erster Post eingefügte Predigt Jeremias Gotthelfs aus seinem letzten Roman „Zeitgeist und Berner Geist“ wieder in Erinnerung rufen.

Weiterhin soll der Blog auch das Archiv meiner einschlägigen journalistischen Arbeiten sein.
Ausgearbeitete Texte können an

willensnation(at)uerte.ch

gesandt werden.

Mittwoch, 26. August 2009

Langentahl, "Das Rütli des 19.Jahrhunderts": und 2009?

Mythos. Einen Sommer lang verfolgten wir das Reduit-Leben als „Getrennte Liebe - gemeinsamer Kampf“. In dieser Woche werden nun 8000 AdAs im Rahmen der Übung „Protector“ in die besonders armeekritische Nordwestschweiz einfallen. Und nun am vergangenen Freitag dieser Langenthaler Gedenkanlass: ein neuer Mythos, aus dem die von Sparmassnahmen zusammenkartätschte, NATO-taugliche „Armada Svizra XXI“ wie ein Phönix zum alten Massenheer erstehen soll? Anno 1822 versammelten sich die Offiziere der Kantonalkontingente in Langenthal um die „eidsgenössische Waffenbrüderschaft“ zu stärken, damit nie wieder die Katastrophe von 1798 über sie hereinbrechen möge. Aus dem Langenthaler Offiziersfest, einem eidgenössischen „botellon“ und „neuen Rütli“, wuchs jener radikal-liberale Geist, der über das eidgenössische Schützenfest von 1824, die Regeneration der 1830er Jahre und den Sonderbundskrieg 1847 zum Bundesstaat 1848 führte: dem Sonderfall.

Standortmarketing. Spiritus rector des Anlasses war FDP-Nationalrat, Oberst aD eines Geb Inf Reg und Patron der Langenthaler Ammann-Gruppe, Johann-Niklaus Schneider-Ammann. Der Bankenplatz (swissbanking) und der Schweizerische Gewerbeverband unterstützten den Anlass ebenso, wie die Schweizerische Offiziersgesellschaft, SBB und das VBS. Im „Sicherheitspolititschen Forum“ im vollbesetzten Stadttheater erntete Pius Segmüller (NR CVP, Lu), ehemaliger Kommandant der Schweizergarde, einigen Szenenapplaus, Barbara Häring (SP) erklärte ihren Stolz über „jedeN Schweizer SoldatIn im Ausland“ und plädierte für die Waffe im Zeughaus (kurzer Applausversuch). Das emotional-pathetische Bekenntnis des Verwaltungsratspräsidenten der „Swiss Life“, Oberst Rolf Dörig zum Milizwesen, konnte dieser kaum mit signifikantem Zahlenmaterial zu AdAs - geschweige denn Milizkadern - im Zürcher Finanzkonzern untermauern. Da war der schlohweisse Nidwaldner Nationalrat Edi Engelberger als Gewerbepräsident mit seinem Pathos für die Armee als „Führungsakademie der KMUs“ glaubwürdiger: er verzichtete wohlweislich auf Zahlenspiele.

Vorderladersalve. Auf dem Marktplatz wurden dann 5000 Münder zur Speisung mit dem eigens für den Anlass kreierten „Langenthaler Armeetopf“ erwartet. Die Stadtmusik Langenthal spielte den „Berner Marsch“. Nach einer Vorderladersalve sprach Bundesrat Maurer. Er wandte sich an das „heimliche Rückgrat“ der Armee: Die Frauen. Der sechsfache Vater gestand, dass er gerne die Armee verdoppelte und noch „acht Radfahrerbataillone dazu“ schüfe (Gelächter), aber die Demografie - mehr noch als der Spardruck und Expertenberichte - binde ihm die Hände. Bundesrat Maurer zog den Bestseller des libanesischen Finanzmathematikers Nassim Nicholas Taleb „Der schwarze Schwan“ heran, um dem Publikum zu erläutern, was die „beste Armee der Welt“ leisten müsse: eine glaubwürdige Antwort auch auf „höchst unwahrscheinliche Ereignisse“. Wäre Maurer ein Rockstar, er hätte eine Zugabe geben müssen. Als eidgenössischer Bundesrat, erwartet er wohl nach dem Applaus Taten. Dass solche folgen, erachten die Blätter der Zürcher Tamedia als „höchst unwahrscheinliches Ereignis“. 2'500 Münder (so die Veranstalter) beugten sich über den „Langenthaler Militärtopf“. 1822 sollen 7'000 Menschen am vaterländischen botellon gewesen sein. In die Asche des Milizwesens wurde heftig gepustet: Ob die „eidsgenössische Waffenbrüderschaft“ noch vor dem nächsten „schwarzen Schwan“ wiederersteht? Immerhin glänzt eine Messingtafel mehr im Vaterland. Wie endete der Feldprediger? „Amen. Nationalhymne!“

Ungekürzte Fassung des Artikels "Langenthaler Armeetopf für Ueli Maurer". Erschienen am 24. August 2009 in der "Basler Zeitung" S. 3.

Mittwoch, 22. Juli 2009

USA und Eidgenossenschaft: "sister republics"


Die Fotomontage zeigt die Aussenministerinnen der Schweiz (Michelline Calmy-Rey) und der USA (Hillary Clinton), der beiden "sister Republics" anlässlich eines Treffens in Genf im Zusammenhang mit den Verhandlungen um die Beilegung des Bankenstreits. Im Hintergrund sieht man die grosse Karikatur des Nebelspalters zur Vertragsunterzeichnung des Staatsvertrags von 1891, der kriegerische Handlungen zwischen der Schweiz und den USA ausschloss. Damals wurde dies wohl zu Recht als grosses Vorbild für die europäischen Staaten gefeiert, welche bekannterweise von solchen Verträgen damals nichts wissen wollten. Schön zeigt die Montage aber, den Weg, den die Frauen beider Nationen zurückgelegt haben: von blossen Allegorien zu Ministerinnen aus Fleisch und Blut.

1991, zur 700-Jahrfeier des Bundes, erinnerte sich ein amerikanischer Bibliothekar an die Sonderbeziehung zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika und stellte ein Ausstellung zum Thema zusammen, die dann auch in der Schweiz gezeigt wurde.

Die innigen Beziehungen zwischen den calvinistischen USA und der Schweiz begannen im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung der USA 1776, als George Washington als "Wilhelm Tell" Amerikas gefeiert wurde, sie setzten sich fort in der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung nach dem Studium derjenigen der Alten Eidgenossenschaft als Muster und in der Übernahme der Prinzipien der amerikanischen Verfassung in die Bundesverfassung der Eidgenossenschaft von 1848 und erreichten einen neuen Höhepunkt in der Schlichtung der Alabama-Frage zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich in den 1870er Jahre in Genf. Gekrönt wurde diese Sonderbeziehung durch die Wahl der Stadt Genf als Sitz für den von Wodrow Wilson gewünschten "Völkerbund" 1919.
2009 brachte der brillante Schweizer Chef-Unterhändler Botschafter Ambühl in der Lösung des Bankenstreits das Konzept der "sister republics" auf die griffige Formel, man sei doch, "different in size, but same values." Womit die Schweiz im Bankenstreit den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte.

Sonntag, 31. Mai 2009

Die Ethik Johannes Calvins




Gottesdienst 24. Mai 2009, gehalten in Bubikon.

Text: 1. Thessalonicher 4,1-12:


Liebe Schwestern und Brüder,
wir bitten und ermuntern euch im Herrn Jesus, dass ihr so, wie ihr von uns unterwiesen worden seid, euer Leben zu führen und Gott zu gefallen
- und das tut ihr ja auch -dass ihr auf diesem Weg immer noch weiter geht. Ihr wisst ja, welche Weisungen wir euch im Auftrag des Herrn Jesus gegeben haben.
Das nämlich ist der Wille Gottes, eure Heiligung:
dass ihr euch fernhaltet von der Unzucht, dass jeder von euch in Heiligung und Würde mit seinem Gefäss, dem Leib, umzugehen wisse – nicht in begehrlicher Leidenschaft wie die Heiden, die Gott nicht kennen – und dass keiner sich hinwegsetze über seinen Bruder und ihn bei Geschäften übervorteile; denn über dies alles hat der Herr seine Strafe verhängt, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben.
Denn Gott hat uns nicht zu Unlauterkeit berufen, sondern zu einem Leben in Heiligung.
Darum:
Wer solches missachtet, der missachtet nicht einen Menschen, sondern Gott,
der doch seinen Heiligen Geist in euch hineinlegt. Über die Liebe unter
Schwestern und Brüdern aberbrauche ich euch nicht zu schreiben, seid ihr doch
selbst von Gott gelehrt, einander zu lieben. Und ihr tut das ja auch allen gegenüber, die zur Gemeinde gehören, in ganz Mazedonien.
Wir reden euch aber zu, liebe Schwestern und Brüder, darin noch verschwenderischer zu werden und euer ganzes Streben darauf auszurichten, in Ruhe und Frieden zu leben, das Eure zu tun und mit den eigenen Händen zu arbeiten,wie wir es euch geboten haben. Ihr sollt euch vorbildlich verhalten gegenüber denen, die nicht zur Gemeinde gehören, und auf niemanden angewiesen sein.


Liebe Gemeinde.
In meiner ersten Predigt zu Calvin vor rund einem Monat
habe ich Sie gefragt:
Warum sind Sie in die Kirche gekommen?
Heute frage ich:
Wozu sind Sie in die Kirche gekommen? - - -
Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet:
Die einen meinen:
Wir gehen am Sonntag in die Kirche, um Gott zu dienen: Wir verzichten auf ausgiebiges Ausschlafen, den beliebten Sonntagsbrunch und die Wonne, im Pijama oder Trainer zu faulenzen. Wir ziehen uns an, nehmen den Weg in die Kirche auf uns, setzen uns auf die harten Bänke und geben Gott das, was wir ihm schulden: Wir danken ihm für seine Wohltaten, loben ihn mit Liedern und Gebeten und besinnen uns auf seinen Willen.

Andere haken genau da ein und sagen: Gott dienen muss ich nicht in der Kirche.
Das kann ich auch zuhause oder im Wald erledigen. Und dann fügen sie vielfach noch einen beliebten Vorwurf hinzu:
Die, welche am Sonntag in die Kirche gehen, sind sowieso häufig Heuchler.
Sie tun am Sonntag fromm. Die Woche hindurch sind sie aber keinen Deut besser als die, welche am Sonntag zuhause bleiben. Wozu sind Sie heute in die Kirche gekommen? Sicher protestieren Sie innerlich gegen die Antworten, die ich zitierte und hoffen nun, dass ich alles richtig stelle.
Ich lasse Sie aber noch ein wenig zappeln und schaue zuerst, was Johannes Calvin zu diesem Thema sagen würde. Eigentlich geht es hier um ein ganz zentrales Thema:
Um den Zusammenhang zwischen dem Glauben und dem Verhalten, um die christliche Ethik.

Bei Calvin scheint es klar zu sein:
Er treibt die Lehre von der göttlichen Vorsehung mit der doppelten Prädestination auf die Spitze:
Gott bestimmt alles im Voraus, Gutes und Böses. Darum ist es im Grunde genommen vollkommen egal, was wir Menschen tun und lassen. Ob wir in die Kirche gehen oder nicht,
ob wir Recht tun oder Unrecht – es tut nichts zur Sache, weil ohnehin alles kommt, wie es muss.
Interessanterweise kommt es bei den Nachfolgern des Deutschen Reformators Martin Luther tatsächlich zu solchen Folgerungen. Schon Luther selbst sieht einen schroffen Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium:
Das Gesetz des Alten Testaments, die Weisung zu einem guten und gerechten Leben, taugt nichts zum Heil, weil die sündigen Menschen es niemals einhalten können. Nur der Glaube an Jesus Christus und sein Evangelium der Liebe und Vergebung macht selig. Darum schreibt Paulus im Römerbrief:

Der aus Glauben Gerechte wird leben. Der Glaube macht gerecht – und nicht das
Tun des Gesetzes.


Gute Werke werden damit unwesentlich, ja sogar gefährlich, weil sie den Menschen blenden und wegführen vom einzigen, was ihm geboten ist: an Jesus Christus zu glauben. Die Geschichte hat die fatalen Folgen dieser Sicht gezeigt: Die Abwertung des Alten Testaments als
Buch des Gesetzes war mit ein Grund des Judenhasses, der im Holocaust gipfelte.
Und die Abwertung der guten Werke führte dazu, dass die deutsche
Kirche zu den Nazigräueln grossmehrheitlich schwieg und sich in den Glauben
an Jesus Christus allein verkroch.

Der aus Glauben Gerechte wird leben.

Wir haben vor einem Monat gesehen, dass Johannes Calvin dieses Schlüsselwort von Paulus noch schärfer auslegt als Luther:
Nicht einmal der Glaube ist eine menschliche Angelegenheit. Denn der Mensch ist so tief verblendet durch seine Sünde, dass er sogar unfähig zum Vertrauen in Gott und seinen Sohn Jesus Christus wird.
Auch der Glaube ist das reine und unverdiente Geschenk, das Gott uns je und je zukommen lässt, nicht wegen unserer Vorzüge und Qualitäten, sondern einzig aufgrund seines Erbarmens.
Glaube und Werke.
Am Anfang der Überlegungen Calvins zu diesem Thema steht eine totale Bankrotterklärung der menschlichen Tugend. Der Mensch kann sich nichts, aber auch rein gar nichts auf sich selbst
einbilden, weder auf seine guten Willen, noch auf seine Frömmigkeit, noch auf seine Vernunft und Kraft.

Interessanterweise führt bei Calvin nun ausgerechnet diese Bankrotterklärung zu einer enormen Hochschätzung der Ethik. Und genau dies zeigt, dass Calvin selbst seine Vorsehungslehre nicht so fatalistisch und trüb sieht, wie es ihm die Nachwelt andichtet.
Ausgerechnet die Vorsehung bildet für ihn die Grundlage der Ethik:

Der Gott, der alles im Voraus bestimmt und richtet, ist kein willkürlicher Tyrann. Nein, im Gesetz des Alten Testaments hat er sich selbst ausdrücklich auf die Gerechtigkeit verpflichtet.
Er hat damit versprochen, für seine Geschöpfe zu sorgen, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen, sie zu behüten.
Gewiss: der Anschein spricht oft drückend gegen dieses Versprechen.
Unsere Welt ist von Ungerechtigkeit und Grausamkeit bestimmt.
Auch Calvin selbst führte alles andere als ein sorgloses und behütetes Leben. Er war das halbe Leben auf der Flucht, verlor mit dem Tod seiner Ehefrau früh sein Liebstes und musste, als er langsam Erfolg und Ansehen erlangte, mit schlimmen chronischen Krankheiten kämpfen.
Trotzdem stellt er sich der Zumutung und bleibt beharrlich bei der Überzeugung, dass Gott zuletzt das Gute will und seine Gerechtigkeit durchhält.

Diese Haltung hat enorme Auswirkungen auf die Ethik:
Weil Gott vom Anfang bis zum Ende der Gerechte bleibt, ist die ganze Bibel als Wort Gottes hoch zu schätzen.
Ob Altes Testament oder Neues Testament – die ganze Schrift bezeugt denselben Gott.
Keines der beiden Testamente ist denkbar ohne das andere. Natürlich sieht auch Calvin in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, den Vollender und Erfüller der Verheissungen und des Gesetzes.
Im Licht von Jesus Christus erhält das Gesetz aber erst seine wahre Bestimmung.
Calvin spricht vom „Tertius Usus legis“ – vom dritten Gebrauch des Gesetzes.

Um zu erklären, was das bedeutet, muss ich nochmals bei Luther ausholen. Dieser kennt zwei Funktionen des Gesetzes.
Zum einen soll das Gesetz das menschliche Zusammenleben regeln, das heisst: Raub, Mord und andere Verbrechen verhindern, Schwache schützen und so weiter.
Zum zweiten hält das Gesetz dem Menschen seine Unfähigkeit zum Guten vor Augen - und führt ihn so zum Glauben. Calvin teilt diese Sicht.

Für ihn stellt nun aber der Glaube selbst das grösste Geschenk Gottes dar, eine Gnadengabe, in welcher sich Gottes Erbarmen, Gerechtigkeit und Wille zum Guten spiegelt.
Uns Menschen bleibt nichts anderes als die Dankbarkeit für dieses riesige, unverdiente Geschenk.

Worin äussert sich nun aber diese Dankbarkeit?
Darin, dass wir den Willen Gottes tun und unser Leben heiligen, sagt Calvin.

Damit ist er ganz nahe bei dem, was uns Paulus im Predigttext nahelegt:
Das nämlich ist der Wille Gottes, eure Heiligung:

dass ihr euch fernhaltet von der Unzucht,
dass jeder von euch in Heiligung und Würde
mit seinem Gefäss, dem Leib, umzugehen wisse.
Das Leben heiligen –
unseren ganzen Alltag ins Licht der Gerechtigkeit Gottes stellen, welche durch Jesus Christus vollendet wurde. Das ist unsere Berufung.
Und weil die Gerechtigkeit Gottes im Gesetz des Mose festgeschrieben ist, sind wir berufen dazu, dieses zu erfüllen, nicht um das Heil zu erlangen, sondern aus Dankbarkeit für das Geschenk des Glaubens und zur Ehre Gottes.
Das ist der „Tertius Usus Legis“, der dritte Gebrauch des Gesetzes – in meiner Sicht der kostbarste Schatz, den uns Gott durch Calvin übergab.
Allerdings hat Calvin diese Sicht des Gesetzes nicht frei erfunden.
Sie ist wie angetönt schon bei Paulus angelegt. So schreibt Paulus in unserem Predigttext:


Gott hat uns nicht zu Unlauterkeit berufen, sondern zu einem Leben in Heiligung.
Darum:
Wer solches missachtet, der missachtet nicht einen Menschen, sondern Gott, der doch seinen Heiligen Geist in euch hineinlegt.


Das Leben in Heiligung ist für Calvin die Antwort des Menschen auf Gottes Gnade. Darum wird die Verantwortung für seine Ethik zentral:
Als Glaubende sind wir zu einem Leben in Verantwortung berufen, nicht bloss vor den Menschen, sondern vor allem vor Gott. Bei allem, was wir denken und tun, sind wir herausgefordert zu bedenken, ob es der Gerechtigkeit Gottes entspricht.
Das ganze Leben sollen wir heiligen. Es gibt keinen Moment, der der Verantwortung vor Gott entzogen ist.
Das ist ein hoher Anspruch.
Calvin ist sich bewusst, dass wir daran immer scheitern werden. Das Gesetz bleibt aber der Stachel im Fleisch der Christen, welcher sie zum Antworten auf Gottes Gnade anstachelt.
Weil aber Gott immer der Gerechte bleibt, welcher seine Güte zur Schöpfung durchhält, leben wir trotz unseres Versagens aus der Hoffnung: Am Ende steht nicht unser Versagen, sondern die Erfüllung der Verheissungen Gottes.

Es fällt auf, wie pragmatisch Paulus in unserem Predigttext wird, wenn es um konkretes Verhalten geht:
Wir sollen einander beim Geschäften nicht übervorteilen.
Wir sollen ehrlich sein, in Ruhe und Frieden leben und
mit den eigenen Händen arbeiten.

Ganz dementsprechend bleibt auch Calvin auf dem Boden der Wirklichkeit.
Wohl ist die Gerechtigkeit Gottes unser letzter Massstab. Wir müssen sie aber in unsere vieldeutige Wirklichkeit herunterbrechen.
Und so sieht Calvin eine enge Partnerschaft zwischen Kirche und Staat: Die Kirche erinnert als Wächterin den Staat ständig an die Gerechtigkeit Gottes und überprüft, ob die Gesetze und Verordnungen dieser entsprechen. Der Staat seinerseits fördert und schützt die Kirche und
damit die Verehrung Gottes. Christliche Ethik hat bei Calvin darum immer beide Seiten:
Die individuelle, persönliche – und die gemeinsame, gesellschaftliche:
Ich bin als Einzelner täglich herausgefordert, mein Leben vor Gott und
den Nächsten zu verantworten. Gleichzeitig steht die ganze christliche Gemeinde in Verantwortung vor der Welt, indem sie sie daran erinnert und ihr vorlebt, was der Wille
Gottes ist.
Auch das ist in unserem Predigttext angelegt.
So mahnt Paulus die Thessalonicher, sie sollen ihre Liebe nicht bloss mit den Glaubensgeschwistern teilen, sondern noch verschwenderischer mit ihr umgehen, sie allen Menschen austeilen und sich denen gegenüber, die nicht zur Gemeinde gehören, vorbildlich verhalten. Zum Schluss komme ich nochmals zurück auf meine Eingangsfrage:
Wozu sind Sie heute in die Kirche gekommen?
Calvin würde sagen: Zum Gottesdienst!
Nun aber keineswegs in dem Sinn, dass wir Gott dienten. Nein, im Gottesdienst dient Gott uns.
Ja, Calvin betont:
Der Gottesdienst ist der Dienst Gottes an uns:
In der Stille der Kirche finden wir nach den sechs Wochentagen der Arbeit
Ruhe und Frieden bei Gott.
Er dient uns mit seinem Wort der Gnade und Erwählung, stärkt uns mit seinem Zuspruch, beflügelt uns mit seiner Hoffnung.
In der kommenden Woche dann antworten wir Gott und dienen ihm, indem wir den Alltag heiligen, im Privaten und Gesellschaftlichen.
Und weil Gott sechs Tage an seiner Schöpfung arbeitete, um am siebten Tag zu ruhen, darum ist die Arbeit auch für uns kein notwendiges Übel oder Mittel, uns zu bereichern,
sondern ein ganz wichtiger Teil unseres Gottesdienstes.
Wo auch immer wir hingestellt sind:
Als Handwerker oder Lehrerin, Raumpfleger oder Pfarrerin, einfache Arbeiterin oder Manager.
Die Arbeit ist unsere Berufung. Mit ihr antworten wir auf den Dienst Gottes an uns
und verwirklichen die Gaben und Talente, die Gott in uns angelegt hat.

Amen.

Thomas Muggli-Stokholm, 24.05.2009
Pdf der Predigt kann hier bezogen werden

"Katholisches" zum Calvin-Jahr

Es mag ein Zug des sich gerne selbstzerfleischenden Protestanitsmus der Schweiz sein - der im übrigen seit 1868 gänzlich einer geschriebenen Konfessionsschrift misstraut -, dass das Calvin-Jahr in der SchweizerischenÖffentlichkeit bis anhin kaum Beachtung gefunden hat. Es sind die zugewanderten Geistes-Gastarbeiter, die sich des Erbes des wohl wirkungsmächtigsten "Eidgenossen" annehmen. Oder aber es handelt sich um Schweizer Katholiken, die mit patriotischer Inbrunst und barocker Sprachfreude die Bedeutung des von ihrer Kirche "verketzerten" Miteidgenossen feiern.

Zwei Texte möchte ich den hier vorbeirauschenden Bloggonauten sehr ans Herz legen. Zum einen die in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erstmals veröffentlichte Polemik des in Berlin weilenden Einsiedler Klosterschülers Thomas Hürlimann: "Herr Steinbrück, Sie haben Mundgeruch". Hier wird Calvin zwar nur in einem Nebensatz erwähnt, aber als effiziente Brücke zwischen Hirten-Mentalität und Genfer Weltgeltung treffend gewürdigt.

Zum andern das wahrhaft beeindruckende "Interview", das der Egon-Kisch-Preisträger, Erwin Koch, im heutigen "Magazin" des Sonntagsblick zusammengestellt hat. Es ist eine subtil didaktisierte, anschauliche Würdigung des grossen "Eidgenossen". Leider kann ich auf das Meisterwerk nicht linken, empfehle es aber allen (allenfalls beim Verlag nachbestellen) die eine leichtfassliche, sprachlich herausragende und historisch gründliche Würdigung des grossen Genfers suchen. Wer sich nun wudert, warum eine solche publizistische Perle, nicht im "Magazin" des Hauses Tamedia erscheint, der sei auf diese kleine "Personalie" verwiesen, und den saloppen Umgang, den man nun dort mit dem grossen Genfer "Gotteskrieger" pflegt.

Der jetzige Chefredaktor, Finn Canonica, ein bekennender Katholik ("was ich mag: (...) Loyalität, die Beichte, die Messe, meine Frau, meine Töchter Emily&Miel") mit Hang zur Thematisierung von katholischem Life-Style und Äusserlichkeiten, mag in seinem Blatt weniger die "kritische Reflexion" sondern sieht sich eher als Wortführer , Chef und Beichtvater einer neuen urban-hedonistischen Bürgerlichkeit beliefert von Rudeljournalisten von Martin Kalls Gnaden.

Allerdings ist er von Selbstzweifeln nicht ganz frei. So fragt er die St.Galler Kommunikationstheoretikerin Miriam Meckel (im "Tages-Anzeiger" zur Karikatur-Kolumnistin geadelt), ob es nicht gemein sei, dass seinem Kolumnisten, Daniel Binswanger, ob seiner Ganzkörperfoto "Eitelkeit" vorgeworfen werde.

Samstag, 2. Mai 2009

Freiheit der Rede

Wer für Zeitungen schreibt, bemerkt unweigerlich die Auswirkungen der Krise. Es gibt immer weniger Titel, die überlebenden müssen sparen und sie drängeln mutlos alle zu jenem „Mainstream“, wo keine Inserenten vergrault werden und keine Kündigungen drohen. „Ich möchte sie davor bewahren, dass diese These mit ihrem Namen gedruckt wird“ äusserte unlängst ein sicherlich wohlmeinender Redaktor einer grossen Zürcher Zeitung mir gegenüber. 

Darum gehe ich ab und zu in eine reformierte Kirche „z’Predigt“. Denn in der reformierten Predigt, der Mutter der freien Rede, ist die Freiheit der Verkündigung seit der Reformation gut aufgehoben: ohne Rücksicht auf Inserenten, mit der Verpflichtung zur Erbauung und gebunden an einen 3000-jährigen Speicher von Weisheit (Bibel), der die besten Dichter deutscher Sprache inspiriert hat: vom linken Bertolt Brecht bis zum bürgerlichen Thomas Mann. 

Und ich möchte allen Empfängern dieser Kolumne dafür danken, dass sie weiterhin bei der Steuererklärung das Kreuzchen bei „reformiert“ machen und mir diesen geistigen Genuss gönnen. Herzlichen Dank, liebe Kirchensteuerzahler. Sie finanzieren den Kultus, sorgen dafür, dass „die Kirche im Dorf“ bleibt, dass in unserer durchkommerzialisierten Marketingwelt am Sonntag das lebendige Gotteswort, frisch ausgelegt von der Kanzel gepredigt wird. Und vorallem verzichten Sie mehrheitlich grosszügig darauf selber „z’Predigt“ zu gehen. Dank Ihrer stillen Gönnermitgliedschaft habe ich, auch wenn ich etwas knapp vor dem letzten Glockenschlag am freundlichen Sigrist vorbei in die saubere Kirche husche, bei diesem „Event“ noch stets einen Sitzplatz gefunden. 

(Kolumne für den Chile-Blick, der Kirchgemeinde Bubikon-Wolfhausen vom 24.4.2009)

Predigt zu Calvins Prädestinationslehre



Predigt von Pfr. Th. Muggli-Stokholm zu Calvins Lehre

von der doppelten Prädestination am 26. April 2009 in

der ev.-ref. Kirche Bubikon


Lesungstext: Joh. 6,37-40.64f.:


Alles, was der Vater mir gibt,

wird zu mir finden,

und wer zu mir kommt,

den werde ich nicht hinausstossen.

Denn ich bin vom Himmel herabgekommen,

nicht um meinen Willen zu tun,

sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat,

dass ich nichts von allem, was er mir gegeben hat,

verloren gehen lasse,

sondern dass ich es auferwecke am Jüngsten Tag.

Denn das ist der Wille meines Vaters,

dass jeder, der den Sohn sieht

und an ihn glaubt, ewiges Leben habe;

und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag.

Niemand kann zu mir kommen,

es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat.

Doch es sind einige unter euch, die nicht glauben.

Jesus wusste nämlich von Angang an,

welche es waren, die nicht glaubten,

und wer es war, der ihn ausliefern sollte.

Und er sprach:

Darum habe ich euch gesagt:

Niemand kann zu mir kommen,

dem es nicht vom Vater gegeben ist. Amen.

Predigttext Röm. 9,15-22:


Gott spricht zu Mose:

Ich werde Erbarmen zeigen,

wem ich Erbarmen zeigen will,

und Mitleid haben,

mit wem ich Mitleid haben will.

Es liegt also nicht an jemandes Wollen oder Mühen,

sondern an Gott, der sein Erbarmen zeigt.

Zum Pharao hingegen sagt Gott:

Eben dazu habe ich dich auftreten lassen,

dass ich an dir meine Macht zeige

und mein Name verkündigt werde auf der ganzen Welt.

Also zeigt Gott sein Erbarmen, wem er will,

und verhärtet, wen er will.

Du wirst mir nun sagen:

Warum beschwert sich Gott über den Menschen?

Niemand kann sich ja seinem Ratschluss widersetzen!

O, Mensch, wer bist du eigentlich,

dass du mit Gott zu rechten wagst?

Wird etwa das Werk zum Meister sagen:

Warum hat du mich so gemacht?

Hat denn der Töpfer nicht Macht über den Ton?

Kann er nicht aus demselben Material

das eine Gefäss zu einem Gefäss der Ehre,

das andere aber zu einem Gefäss der Schande machen?

Weil Gott seinen Zorn zeigen

und seine Macht kundtun wollte,

hat er mit viel Geduld ertragen

die Gefässe des Zorns, die zum Verderben bereitgestellt sind.

Das tut er, um den Reichtum seiner Herrlichkeit sichtbar zu machen

an den Gefässen seines Erbarmens,

die er zuvor für die Herrlichkeit bestimmt hat.

Predigt:


Liebe Gemeinde.


Warum sind Sie heute Abend in die Kirche gekommen?

Ist das Zufall oder göttliche Vorsehung?

Ist es Ihre Entscheidung oder hat Gott Sie gezogen,

wie Jesus in unserem Lesungstext sagt?

Nun, vielleicht beantworten Sie diese Fragen erst am Ende des

Gottesdienstes: War meine Predigt gut, dann hat Gottes gütiger

Ratschluss Sie hierher gezogen – war sie schlecht, haben Sie falsch

entschieden und wären besser zuhause geblieben.


Aber Spass beiseite – schliesslich geht es um ein ernstes Thema.

Schon immer rangen die Menschen mit der Frage, wer oder was den Lauf

der Welt bestimmt: Gott, das Schicksal – oder der blinde Zufall?


Der Reformator Johannes Calvin, dessen 500. Geburtstag wir dieses Jahr feiern,

findet eine sehr pointierte Antwort auf diese Frage:

Wie kein anderer Theologe neben, vor und nach ihm vertritt er die Lehre von der sogenannten doppelten Prädestination.

In seinem theologischen Hauptwerk, der Institutio, definiert er diese Lehre folgendermassen:


Unter Prädestination verstehen wir Gottes ewige Anordnung, kraft der er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis im Vorhinein zugeordnet. Für Calvin ist klar: Gott hat alles, was hier auf Erden geschieht, von Ewigkeit her vorherbestimmt, auch den Sündenfall Adams, auch das Kommen seines Sohnes Jesus Christus, auch das Heil oder die Verdammnis jedes Menschen, der je geboren werden wird. Diese extreme Sicht sieht der Genfer Reformator unter anderem in unserem Predigttext begründet: Paulus zitiert hier zuerst Worte Gottes an Mose:

Ich werde Erbarmen zeigen,

wem ich Erbarmen zeigen will,

und Mitleid haben,

mit wem ich Mitleid haben will.

Es liegt also nicht an jemandes Wollen oder Mühen, sondern an Gott, der sein Erbarmen zeigt.

Gott zeigt sein Erbarmen völlig frei von menschlichen Voraussetzungen. Seine Gnade hängt nicht ab von unserem guten Willen oder guten Werken. Sie ist reines, unverdientes Geschenk, einzig begründet in der absolut freien Entscheidung Gottes.


Die Kehrseite der Medaille zeigt Paulus am Beispiel des Pharao. Dieser widersetzt sich mit allen Mitteln dem Plan Gottes, Israel aus Ägypten herauszuführen. Er handelt dabei aber nur scheinbar frei. In Wirklichkeit muss er sich genau so verhalten, weil Gott selbst ihm das Herz verhärtet hat. Darum sagt Gott zum Pharao: Eben dazu habe ich dich auftreten lassen, dass ich an dir meine Macht zeige und mein Name verkündigt werde auf der ganzen Welt. Auch der Pharao mit all seiner Macht ist nichts als ein Werkzeug in der Hand Gottes. Er kann gar nicht anders. Er muss böse handeln, damit Gottes befreiendes Werk an Israel umso heller aufstrahlt.


Da regt sich natürlich sofort Widerspruch in uns: Schon beim Drama des Auszugs aus Ägypten mussten unzählige,

unschuldige Menschen leiden und sterben. Und bis heute herrscht in vielen Teilen der Welt unaussprechliches Leiden. Soll das alles göttliche Vorsehung sein? Und was ist das für ein Gott, der Menschen von Ewigkeit her ohne allen Grund zur ewigen Verdammnis bestimmt?


Calvin leidet selbst an diesen Fragen und spricht von einem furchtbaren Ratschluss Gottes. Gleichzeitig betont er aber, dass wir Menschen weder die Fähigkeit noch das Recht haben, Gottes Handeln zu hinterfragen. Auch das begründet er mit Aussagen von Paulus:


O, Mensch, wer bist du eigentlich,

dass du mit Gott zu rechten wagst?

Wird etwa das Werk zum Meister sagen:

Warum hat du mich so gemacht?

Hat denn der Töpfer nicht Macht über den Ton?

Kann er nicht aus demselben Material

das eine Gefäss zu einem Gefäss der Ehre,

das andere aber zu einem Gefäss der Schande machen?

Nun, ich muss zugeben, mich befriedigt diese Begründung nicht – schon weil das Bild hinkt: Keinem irdischen Töpfer käme es in den Sinn, gezielt Gefässe der Schande, hässliche und unbrauchbare Töpfe herzustellen.


Und ich habe - wie viele von Ihnen auch - grosse Mühe mit Calvins Bild von Gott.


Es gibt heute ganz andere Ansätze als die der doppelten Prädestination. Der radikalste besteht darin, die Existenz Gottes ganz zu leugnen. Wenn man das Elend dieser Welt sieht, kann es keinen Gott geben. Alles ist Zufall. Wir Menschen haben unser Schicksal selbst in der Hand und sind frei, über unseren Weg zu entscheiden.


Das wäre ein verlockend einfacher Weg, um Calvin und seinen Gott los zu werden.


Doch wohin führt er?

Bei der gewonnenen Freiheit handelt es sich um eine Scheinfreiheit und zwar in vielerlei Hinsicht. Von den rund 6 Milliarden Menschen, die heute auf der Erde leben, kann die grosse Mehrheit nur von Freiheit träumen. Für die allermeisten bestimmt die Armut den Verlauf ihrer Tage. Aber auch die kleine Minderheit, die zufällig in reichen Verhältnissen lebt, geniesst Freiheit nur auf Zeit. Denn das Ende unserer Wege steht von Ewigkeit her fest: Auch der freiste Mensch muss sterben. Der Tod und

das Nichts als einzige Zukunftsaussicht – das ist eine trostlosere Perspektive als jene Calvins, wo es immerhin noch die Hoffnung auf Erbarmen gibt.


Und schliesslich ist unsere Freiheit auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht eine Illusion. Die Welt wird von Naturgesetzen regiert, denen wir zu gehorchen haben, ob wir wollen oder nicht. Wir sind alle gefangen in einem Netz von Bedingungen. Wir werden bestimmt von unserer je eigenen Familiengeschichte, den Schulen, die wir besuchten, den Menschen, denen wir begegneten, den politischen Verhältnissen, in denen wir aufwuchsen und so weiter. Nur weil dieses Netz so enorm

kompliziert ist, können wir dem Wahn verfallen, unsere Entscheidungen seien frei. in Wirklichkeit sind sie voll und ganz durch die Bedingungen vorgegeben.


Es gibt auch weniger radikale Ansätze.


Gewisse Theologen wie zum Beispiel Jürgen Moltmann nehmen Abschied von der Allmacht des Schöpfers und sprechen vom leidenden Gott, der sich in Jesus am Kreuz offenbart. Gott entäussert sich in Jesus seiner Allmacht und wird zum Mitleidenden am Bösen in der Welt. Zugleich fordert er uns damit dazu heraus, selbst Mitleidende zu werden, am Schicksal der Schwachen und Unglücklichen Anteil zu nehmen und in der Nachfolge Jesu am Reich Gottes, an einer gerechten und friedlichen Welt

mitzuarbeiten.


Zugegeben:

Mir ist diese Theologie sympathisch. Und sie hat schon manche meiner Predigten geprägt. Zu Ehren Calvins möchte ich sie heute aber einmal in Frage stellen.


Gott, der am Bösen mitleidet – das tönt edel.

Gott, der in Jesus auf seine Allmacht verzichtet – das tönt heroisch.

Aber aufgepasst!

Wir begeben uns hier auf sehr gefährliches Gelände. Nehmen wir Gott seine Allmacht, dann machen wir ihn zum Spielball unserer Vorstellungen und verletzen das erste Gebot:


Du sollst Dir kein Gottesbildnis machen.
Wir betonen zum Beispiel die Liebe Gottes und weisen darauf hin, wie lieb Jesus mit allen Menschen war.
Gott wird dann zum Kuschelgott, zum Teddybären, den wir freundschaftlich knuddeln können, wenn uns danach zumute ist.

Oder wir betonen die unendliche Güte und Geduld des ohnmächtigen Gottes. Gott wird dann zum händeringenden Vater, zur hilflosen Mutter, die den Menschen, ihren dauernd pubertierenden Zöglingen nicht mehr gewachsen ist. Oder Gott ist der unendlich Duldsame, der allen alles vergibt und am Ende milde lächelnd jeden Bösewicht ins Paradies durchwinkt.

Unser Verhalten wird dann völlig bedeutungslos.


Die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis im Vorhinein zugeordnet.

Gott ist für Calvin kein besserer Teddybär, keine naiv-gutgläubige Mutter,

kein besserer Samichlaus, der nach ein paar belanglosen Ermahnungen

die Fünf gerade sein lässt.


Gott bleibt der Geheimnisvolle, Abgründige.

Gott bleibt der Allmächtige, der die Geschicke der Welt lenkt,

ohne uns Menschen um Rat zu fragen.


Und auch bei Calvin kommt uns dieser Gott hautnahe.

So bekennt er dass in Christus, im Sohn Gottes, in welchem der

Allmächtige alle seine Verheissungen erfüllt,

dass in Christus die Freundlichkeit Gottes offenbar wird.

In Christus überwindet Gott den unendlichen Abstand zwischen ihm und

uns hoffnungslosen Sünderinnen und Sündern.

Er wendet sich uns zu; er kommt mitten in unsere Tiefe.

Aus reiner Gnade, völlig unverdient, geschenkt.

In Christus erwählt uns Gott.


Ja, die Erwählung ist die eigentliche Pointe der Prädestination.

So wie Gott einst Israel erwählte,

so erwählt Gott uns zu seinem Volk.

Die Kirche ist das erwählte Volk Gottes.

Darauf liegt der Akzent.


Im Licht der Erwählung können wir die Prädestinationslehre Calvins

würdigen. Sie enthält auch für uns heutige Christinnen und Christen viel

Bedenkenswertes.


Vier Perlen möchte ich zum Schluss hervorheben:


Zum einen ruft Calvin uns den Ernst des Lebens in Erinnerung.

Unser Dasein ist mehr als Fun und Action. Das Ziel besteht nicht darin,

dass wir es abenteuerlich, lustig und kuschlig haben.

Es geht um alles oder nichts. Und Wege können ins Verderben führen –

auch wenn wir das heute gerne verdrängen oder verharmlosen.

Wir müssen uns aber nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.


Das ist die zweite Perle: Gott offenbart uns in Christus seine Gnade. Er

wendet sich uns zu, erwählt uns und beruft uns in die Kirche, in das Volk

Gottes. Wir verdienen das nicht. Wir können uns nichts auf unsere Güte

und unsere Werke einbilden. Alles ist Gnade. Das macht uns in einem

guten Sinn demütig. Auch unser Glaube ist ein Geschenk. Nichts liegt

uns darum ferner, als uns über andere zu erheben. Wir dienen einander

vielmehr und begegnen uns in der Freundlichkeit Gottes.

Die Kirche als äusserliche Institution ist ständig bedroht – von innen und

von aussen. Calvin hat das selbst bitter erlebt: Die französischen

Reformierten wurden brutal verfolgt. Aber im Licht der Gnade ist die

Kirche mehr als eine Institution. Als erwähltes Volk Gottes steht sie bis in

alle Ewigkeit unter dem Schutz und Segen des Allmächtigen.


Das schenkt uns die Gelassenheit als dritte Perle.



Getrost und zuversichtlich können wir den Weg des Glaubens gehen, ohne Angst davor, dass Christus, unser

Fundament je wankt. Das befreit in tiefem Sinn. Wir müssen uns nicht an menschliche Werke klammern. Wir können unsere Hände und Herzen öffnen für dass, was uns je und je von Gott her zukommt.


Damit bin ich bei der vierten Perle, die Calvin besonders wichtig war.

Es ist die Beharrlichkeit. In ihr wird der Schutz Gottes konkret. Calvin

unterhielt enge Beziehungen zu den Hugenotten, seinen französischen

Glaubensgeschwistern. Er unterstützte sie und gab vielen von ihnen in

Genf Asyl. Ihre Standhaftigkeit und Beharrlichkeit, mit welcher sie am

Glauben allein an Jesus Christus allein aufgrund der Schrift festhielten,

war für ihn das Zeichen für die Erwählung Gottes.


Das ist besonders bei Calvin: Für ihn ist die Beharrlichkeit keine

menschliche Leistung. Auch das treue Festhalten am Zeugnis für Christus

und die Freundlichkeit Gottes ist reines Gnadengeschenk, das Gott uns in

Christus je und je zukommen lässt.

Beharrlichkeit – diese Gabe können wir in unserer schnelllebigen Zeit

wieder neu entdecken. In unserer Zeit, wo viele sich mal hierhin, mal

dorthin treiben lassen, braucht es die Beharrlichen, die Menschen, denen

es gegeben ist, die Gnade und das Erbarmen Gottes auch dann zu

bezeugen und zu leben, wenn erbarmungsloser Leistungsdruck und

Wettkampf herrscht.


Ich komme zum Schluss meiner Predigt und frage nochmals:

Warum sind Sie heute in die Kirche gekommen?

Calvin würde antworten: Rechtsbündig

Allein aufgrund der Gnade, aufgrund der Erwählung Gottes.


Und was Sie heute nachhause mitnehmen –

das hängt nicht von der Tagesform der Pfarrperson ab.

Es ist das Wort Gottes, das uns in der Verkündigung nahe ist,

wie Paulus ebenfalls im Römerbrief schreibt.

Denn wenn wir mit dem Mund bekennen, dass Jesus der Herr ist

und in unserem Herzen glauben, dass Gott ihn von den Toten aufweckst

hat, werden wir gerettet werden.

Amen.


Thomas Muggli-Stokholm 26.04.09



Die - logisch stringente, aber - harte Position zur "doppelten Prädestination" wurde vom "Vater der reformierten Kirche", Heinrich Bullinger im Rahmen seiner Confessio Helvetica Posterior (1566) gemildert.