Donnerstag, 12. Januar 2012

Religion als privates Accessoire



Der Basler Grosse Rat entscheidet über die Anerkennung der Neuapostolischen Kirche

Von Giorgio Girardet

Nach der 2010 anerkannten «Christengemeinschaft» soll die NeuapostolischeKirche die zweite evangelisch-charismatische Glaubensgemeinschaft sein, die im Kanton Basel-Stadt das Gütesiegel der staatlichen Anerkennung erhält. Aber: wird die «Kleine Anerkennung» im Geiste der Verfassungsdebatte gehandhabt?

Nicht nur für das British Commonwealth, auch für souveräne Republiken und liberale Rechtsstaaten ist das geordnete Verhältnis von Thron und Altar, von Kirche und Staat, entscheidend. Im Verhältnis von Staat und christlicher Religion gibt es seit dem Niceanum (325) sowohl anthropologische Konstanten als auch dramatische sozio-kulturelle Verwerfungen.
In den 1540er Jahren versuchte der Basler Rat, den Druck einer lateinischen Koranübersetzung im
Basler Stadtstaat zu verbieten. Der Koran sollte nur in einer handschriftlichen Version im Rathaus konsultierbar sein.

Um des Friedens willen
Ganz anders Basel in der Minarett-Abstimmung 2009: Der Koran kann als Reclam-Ausgabe für 20 Franken gekauft werden, die Regierung verbot aber das SVP-Plakat gegen Minarette auf der Allmend zu plakatieren (um den Religionsfrieden nicht zu gefährden). Regierungspräsident Guy Morin äusserte gar seine Vorfreude auf den Ruf des Muezzins. Basel-Stadt war der einzige deutschsprachige Stand der Eidgenossenschaft, der die Minarett-Intiative ablehnte. Welch dramatischer Wandel!

Es zeigt sich, dass die Religion zunehmend als privates, intimes Accessoire und nicht mehr als substantieller Aspekt der Konstitution eines Staatsbürgers begriffen wird. Selbst die Personalmarke («Grabstein») der Armee XXI kennt nur noch Namen und PIN-Nummer. Es öffnete sich ein Graben zwischen den vier als öffentlich-rechtliche «Religionsgemeinschaften» anerkannten «Kirchen» der Juden und Christen, deren kleinste weniger als ein Prozent der Einwohnerschaft erfasst, und den
neun Prozent in der Einwohnerkontrolle registrierten, nur marginal organisierten Muslimen. Die Umfrage der vorberatenden Kommission unter den Moslems förderte zutage, dass Finanzkraft, Bildungsressourcen, konfessionelle und ethnische Zusammensetzung dieser Bevölkerungsgruppe auf Jahrzehnte hinaus es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass sich diese auch nur annährend auf die Organisationsstufe der vier Religionsgemeinschaften aufschwingen können. Darum wurde das Institut der «Kleinen Anerkennung» geschaffen.

Die vier Kriterien
Da vor allem islamische Konfessionen im Blickfeld standen, wurde auf theologische Erwägungen verzichtet und vier pragmatisch-niederschwellige Kriterien festgesetzt: 1. geordnetes Finanzgebaren, 2. garantiertes Austrittsrecht, 3. Anerkennung von Demokratie und Rechtsordnung, 4.
«gesellschaftliche Bedeutung». Man unterliess es, eine quantitative Untergrenze für die «Kleine Anerkennung» festzulegen.  Nach gesundem Menschverstand ergibt sich als Untergrenze die Grösse der kleinsten Kirche mit «status publicus» der 1910 anerkannten Christkatholiken: 669 (2011).
Wie aber kam es, dass die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv in Basel präsenten Römisch-Katholiken erst nach über 100 Jahren als rein privatrechtlicher Verein den «status publicus» erlangten? Die Papstkirche war erst nach dem zweiten Vaticanum bereit, sich formal auf die
Bedingungen des säkularen Rechtsstaates und das Schweizerischen Staatskirchenrechts einzulassen.

Antiklerikaler Sündenfall
Aber mit der Anerkennung der 1873 abgesplitterten Christkatholischen Kirche und der Einführung der «hinkenden Trennung von Kirche und Staat» 1910 schuf der Basler Souverän in antiklerikalem Übermut jenen systemischen Sündenfall, der das Institut der «Landeskriche» (mit Besteuerung der juristischen Personen) und damit die theologische Hoheit über den Stadtkanton, die von 1529 bis 1910 bestanden hatte, preisgab.
Ihr Verschwinden wurde erst 1972 offensichtlich, als drei christliche Konfessionen sich den «status publicus» zusammen mit der israelitischen Gemeinde teilten. In der ersten Verfassung von 1833 war sie noch so gefasst:
«Die Landeskirche ist die evangelisch-reformirte; die Ausübung jedes andern christlichen Glaubensbekenntnisses ist unter Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen gewährleistet.» 
Die Basler Verfassungsväter von 2006 wollten den Muslimen unter allen Umständen jene Sonderbehandlung ersparen, welche katholische Eidgenossen in Basel zwischen 1803 und 1972, im Bund bis zur Abschaffung des Bistumsartikels erdulden mussten.

Weitere Kandidaten
Als erste bezog die anthroposophische «Christengemeinschaft» das Konstrukte der «Kleinen Anerkennung». Keine entfernte zu integrierende muslimischen Vettern von Abrahams Lenden, sondern die christlichen Jünger Rudolf Steiners. Weil sie bestens integriert sind, wurden sie 2009 diskussionslos durchgewinkt. Als zweite standen nun die «Neuapostolen» auf dem Teppich und hoffen auf Marketing für ihre Kirche, eine «Aussensicht» einholen, ein «Gütesiegel» zu bekommen, den Pestgeruch der «Sekte» loszuwerden.
Und die Muslime? Die Aleviten haben ihr Gesuch eingereicht. Ihr Präsident, Mehmet Kabakci, spricht gebrochen Deutsch, kein  Baseldytsch. Für seine 300 Familien, die in Fronarbeit das Zentrum an der Brombacherstrasse  aufgebaut haben, wäre die staatliche Anerkennung ein echter Integrationsschritt, sie könnten vom Feindbild «Muslim» erlöst werden, sich als «Aleviten» eintragen lassen. 120 Franken kostet der jährliche Mitgliederbeitrag pro Kopf. Das können alevitische Familien aufbringen, auch mit mehreren Kindern. Um bei der einstigen «Landeskirche» mitzumachen, muss ein Bebbi einen
Mitgliederbeitrag zwischen 250 und 800 Franken hinblättern. Darum sind in Basel die «Konfessionslosen», welche die Ansicht vertreten, man könne auch "ausserhalb der Kirche Christ sein", in Basel auf 43,9 Prozent angewachsen.

Der Grosse Rat muss sich beim zweiten Anlauf der «Neuapostolischen Kirche» bewusst sein, dass er mit jeder «kleinen Anerkennung» für eine niederschwellige (kostengünstigere) Religionsgemeinschaft, das finanzielle Fundament, aber auch die theologische Autorität seiner historischen Konfessionen und seiner theologischen Fakultät untergräbt. Das Institut der «kleinen Anerkennung» ist bisher nur von charismatischen Christen-Sekten genutzt  worden, die so einer theologischen Auseinandersetzung mit der akademischen Theologie auswichen. Dies mit dem Segen von Räten und Regierung. Ist das eine Religionspolitik, die der Stadtrepublik Burckhardts würdig ist?
erschien in der "Basler Zeitung" vom 11. Januar 2012 (hier zu abonnieren)


Ergebnis der Sitzung vom 11. Januar 2012 Protokoll

Bericht darüber auf "baz-online": "Die privatrechtliche Anerkennung der NAK wurde am Ende mit 51 gegen 20 Stimmen bei 16 Enthaltungen beschlossen." und unter allgemeiner Heiterkeit, weil selbst der Präsident des Grossrates sich der Stimme enthielt. 

Sitzverteilung im Basler Grossrat (100 Sitze)


SP                 32            eher dafür (mit Skepsis)
Grüne            13            eher dafür
GLP               5            dafür aus formaljuristischen Erwägungen
EVP               4            dagegen
CVP               8             ?
FDP              11            ?
LDP               9             ?
DSP               3             ?
AB                 1             ?
SVP              14            dagegen ("kleine Anerkennung" ist Fehlkonstruktion)