Sonntag, 21. September 2008

Der Kirchgang




1.1. Warum dieser lange Post?

Ich habe einst Blogger mit Predigern verglichen. Darum will ich in meinem Blog hier für die Arbeit der alten „Gottes-Blogger“ im „Realen Leben“ werben und gleichzeitig zeigen, welche grossen Möglichkeiten das Internet mittlerweile für den religiösen Diskurs bietet. Selber Historiker, werde ich also zeigen, wie der reformierte (aber auch der katholische, der christliche und überhaupt jeder religiöse) Gottesdienst eine Einkehr in der eigenen Geschichte ist. Darum werden auch möglichst viele Begriffe mit dem neutralen Online-Lexikon „Wikipeda“ verlinkt. Ich will aber auch surfenden Kirchensteuerzahlern zeigen, welche Leistungen von Profis (studierter Theologe, dipl. Organist, tüchtiger Siegrist) sie jeden Sonntag mitfinanzieren, ohne diese Leistung im „Realen Leben“ auch zu beziehen oder durch kräftigen Gesang, Gebet und konstruktive Kritik mitzutragen und mitzugestalten. Was verpasst der Mensch, der nur als Täufling, Konfirmand, Brautpaar und Leiche die Kirche von innen sieht?

1.2. Was geschieht in der Kirche eigentlich während des Gottesdienstes?
Früh hat der heute im Zürcher Einkaufszentrum Sihlcity tätige Pfr. Jakob Vetsch die Möglichkeiten des Internets für die Kirche erkannt, indem er für den Fall, dass der Pfarrer unversehens verhindert ist, eine Not-liturgie in das Netz gestellt hat. Unter Nummer 150 klärt auch das neue reformierte Kirchengesangbuch über den Aufbau des gewöhnlichen Gottesdienstes (Liturgie) auf. Da dieses Kirchengesangbuch nicht im Netz verlinkbar ist (dies würde neue Möglichkeiten der Verkündigung erschliessen) sei das klassische reformierte Liturgie-Schema nach 150 unten wiedergegeben:

Sammlung Eingangsspiel (Orgel)
Gruss- und Eingangswort
Eingangslied (mit Orgelbegleitung)
Anbetung Gebet
Loblied (mit Orgelbegleitung)
Verkündigung Schriftlesung
Lied
Predigt
Zwischenspiel (Orgel) od. Lied (mit Orgelbegleitung) od. Glaubensbekenntnis
Fürbitte Abkündigungen
Fürbitten und Unser Vater
Lied (mit Orgelbegleitung)
Sendung Mitteilungen
Sendung
Schlusslied (mit Orgelbegleitung)
Segen
Ausgangsspiel (Orgel)

Dieses Gerüst, diese jahrhunderte-alte Form, muss vom Pfarrer jeden Sonntag mit einem der Erbauung der Gemeinde dienenden Inhalt gefüllt werden. Dies ist die hohe Anforderung an das Amt der Verkündigung. Unten sei nun geschildert, wie Frau Pfarrerin Yvonne Meitner am Sonntag, den 7. September 2008 in der Kirche Bubikon, dieses Amt versah.

2. Die Liturgie vom Sonntag 7. September 2008 in Bubikon

Die Kirchenglocken rufen die Kirchgänger zusammen. Wir setzen uns in die Kirchenbank und nehmen das bereitliegende Kirchengesangbuch. Neben der Kanzel sind die Lieder notiert, die heute gesungen werden: 162, 1.4.7 / 258, 1-5 / 8 / 813 / 27, 1-3 (Blaues Büchlein)

2.1 Sammlung
Die Orgel spielt das Eingangsspiel. Ich blättere schon mal das Kirchengesangbuch auf:

162, „Gott ist Gegenwärtig“ T(ext): Gerhard Tersteegen M(usik): Joachim Neander 1680; S(atz): nach Joachim Neander 1680 und Zürich 1727.

Ich schlage den Textverfasser im Kirchengesangbuch nach:

Tersteegen, Gerhard, * 1697 in Moers, gest. 1769 in Mülheim/Ruhr (Nordrhein-Westfalen). Kaufmann, Bandwirker, Erweckungsprediger, Seelsorger, Schriftsteller, Dichter, pietistisch-ref. Mystiker.

Das Lied führt mich also in die Stimmung des Pietismus, einer spirituellen Strömung zur Zeit der Aufklärung. Ist das Verhältnis von Religion und Aufklärung nicht ein Dauerbrenner in den geschwätzigen Debatten unserer Zeit? Ich bin gespannt. Ein Mystiker: es wird ein stark spirituelles Lied sein, das an das religiöse Empfinden vieler Weltreligionen anklingt, denn alle Religionen kennen die Mystik als religiöse Erfahrungsmöglichkeit. Es kommt aus der Zeit als im Kanton Zürich viele neue Kirchen gebaut wurden, weil die Bevölkerung durch den langen Frieden, den zwinglianischen Fleiss und die religiöse Erweckung stark zunahm (zum Beispiel hier). Dank Wikipedia entdecke ich noch, dass Pfarrer „Neander“ eigentlich „Neumann“ hiess – seinen Namen der Zeitmode entsprechend „gräzisierte“ - und dass nach ihm das „Neandertal“ benannt wurde, in dem später die Skelette des „Neandertalers“ gefunden wurden.

Nun begrüsst die Pfarrerin die Gemeinde und spricht die Eingangsworte (die werden hier nicht gebloggt: „Der Pfarrer predigt nur einmal“). Sie stimmt uns mit dem Zitat des schweizerisch-französischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau auf das Thema der Predigt ein:

„Das Geld, das man besitzt, ist das Mittel zur Freiheit, dasjenige, dem man nachjagt, das Mittel zur Knechtschaft.“

(hier gibt es mehr Zitate)

Wir singen nun die drei Strophen des Liedes des deutschen Mystikers:

1. Gott ist gegenwärtig
Lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten
Gott ist in der Mitte
Alles in uns schweige
Und sich vor ihm beuge.
Wer ihn kennt, wer ihn nennt
Schlag die Augen nieder, geb das Herz ihm wieder

4. Luft, die alles füllet,
drin wir immer schweben,
aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende,
Wunder aller Wunder:
Ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir,
lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.

7. Herr, komm in mir wohnen,
lass mein Geist auf Erden
dir ein Heiligtum noch werden;
komm du nahes Wesen,
dich in mir verkläre,
dass ich dich stets lieb und ehre.
Wo ich geh, sitz und steh,
lass mich dich erblicken / und vor dir mich bücken.

2.2. Anbetung
Nun das Lied verfehlt seine Wirkung nicht. Es folgt ein Gebet, das die Pfarrerin spricht. (Auch diese Worte gibt es nur im „realen Leben“).

Ich blättere zu Lied 8 „Ich lobe meinen Gott“. Es folgt dem Psalm 9. Damit tauchen wir in die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens hinab, wohl 3000 Jahre alt sind diese Texte. Das Psalmenbuch soll im 2. Jh. V.Chr. redigiert worden sein, aber viele der Texte so auch (Psalm 9) werden König David zugeschrieben, der um 1000 v.Chr. lebte. Wir singen die ersten beiden Strophen:

1. Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen
Und ich will erzählen von all seinen Wundern
Und singen seinen Namen.

Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen,
ich freue mich und bin fröhlich, Herr, in dir.
Halleluja!

2. Je louerai l Eternel de tout mon coeur,
Je racconterai toutes tes merveilles,
Je chanterai ton nom,

Je louerai l Eternel de tout mon coeur,
Je ferai de toi le sujet de ma joie.
Alleluja !

Gott ist auch « l Eternell » erfahre ich im Lied und es erinnert mich daran, dass der reformierte Glaube die mächtige geistige Klammer zu den Romands (zu den Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg) darstellt. Hätte nicht Jean Calvin auf den Schutz des mächtigen Bern gebaut, würden wir heute nicht in einer mehrsprachigen Willensnation leben. Das 1566 von allen reformierten Orten ausser Basel angenommene „Helvetische Bekenntnis“ ist die Klammer, welche die heute bekenntnislosen Reformierten eint.

Nun haben wir uns gesammelt, haben Gott mit den ältesten Worten gelobt, die uns auch mit den Juden verbinden (älter noch als buddhistische Weisheiten). Nun sind wir bereit für die

2.3. Verkündigung
Das Gemeindeglied Erika Wegmann tritt zum Lesepult und liest den Text über den gepredigt wird. Aus dem Lukasevangelium das Gleichnis vom „gerissenen Verwalter“ (Neue Zürcher Bibel von 2007) oder nach der Lutherbibel das „Gleichnis vom ungetreuen Hausverwalter“.

Hier die Stelle Lukas, 16, 1-13

Nun besteigt die Pfarrerin für die Verkündigung die Kanzel. Diese beiden unterschiedlichen Uebersetzungen erzeugen denn auch ein Flimmern im Kopf. Wir wollen nun Aufkärung, wie das zu verstehen sei. Die Pfarrerin nimmt weitere Bibelstellen zu Hilfe (es gibt über 700 zum Thema Geld)

Was ihr für einen meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.(Matthäus 25, 40)
Häuft in dieser Welt keine Reichtümer an! Sie verlieren schnell ihren Wertoder werden gestohlen. Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel, die nieihren Wert verlieren und die kein Dieb mitnehmen kann. (Matthäus 6, 19.20)

Wer den Armen etwas gibt, gibt es Gott, und Gott wird es reich belohnen.(Sprüche 19,17)
Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein. (Matthäus 6, 21)

Sie beendigt dann die Predigt (die es nur real in der Kirche gibt) mit den Worten des Gründers der Methodistenbewegung John Wesley (1703 - 1791):

1. Verdiene, soviel du kannst.
2. Spar, soviel du kannst.
Und 3. Gib soviel du kannst.

Während eines Zwischenspiels der Orgel kann nun die Predigt im Geiste vertieft werden. Habe ich sie verstanden, bin ich einverstanden? Die Aussage des Gleichnisses verstört. Sie ist „kafkaesk“. Auch Kafka schrieb Gleichnisse in der biblischen Tradition.

2.4 Fürbitten
Nach dem Zwischenspiel erheben wir uns für die von der Pfarrerin, welche die Kanzel als Ort der Verkündigung wieder verlassen hat, vorgetragenen Fürbitten (bei Wikipedia leider nur konfliktuöse Sonderaspekte). Nach jeder Fürbitte singen wir gemeinsam das Lied 813, das uns in das Klosterleben der Karolingerzeit zurückführt und innerhalb der TaizÖ-Bewegung sich grosser Beliebtheit erfreut.

Ubi caritas et amor,
ubi caritas, Deus ibi est.

Wir bleiben stehen und beten nun das « Unser Vater », dies ist der älteste christliche Text der Liturgie, das Gebet, das mündlich überliefert in die Evangelien Eingang fand. Mit der Vergebung der Schulden und der Versöhnung – Pfr. Thomas Muggli hat es in seinem Zyklus über das apostolische Glaubensbekenntnis als „Kerngeschäft“ der christlichen Kirche bezeichnet – endet die Liturgie.

2.5 Sendung
Nun erfolgt die Abkündigung (im Netz noch keine schlüssige Erklärung dieses kirchlichen Begriffes) eines Gemeindeglieds das in der vergangenen Woche gestorben ist. Für alle gibt es hier die gleichen Worte, ob arm oder reich. Die Veranstaltungen der nächsten Woche (nachzulesen hier) und die Bestimmung der Kollekte (für diese Institution) wird auch bekannt gemacht.

Danach bitten wir mit dem „Monatslied“ aus dem „blauen Büchlein“ 27, 1-3 „Wir bitten Gott um seinen Segen“

Die Pfarrerin erteilt den Segen und entlässt die Gemeinde. In einer Art „Abspann“ wird allen beteiligten Personen am Gottesdienst gedankt:

Der Organistin
Der Lektorin
Dem Sigrist

Im Hinausgehen gebe ich meinen Beitrag für die Kollekte. Ich schüttle im Hinausgehen Pfarrerin und Sigrist die Hand und mach ncoh einen Schwatz mit der einen oder dem andern vor dem Kirchentor auf dem Labyrinth auf dem Kirchenvorplatz.

Diskussionsrunde im Chor
Danach treten wir in den Chor der Kirche, dem einst „Allerheiligsten“ des Kirchenbaus. Doch mit der Reformation riss der Vorhang zum Allerheiligsten in der altgläubigen Kirche und so nutzen wir interessierten Gemeindeglieder das einst „Allerheiligste“ als Raum für eine Diskussion über die Predgt und „das liebe Geld“. Der Kirchenpfleger Thomas Illi hat die Diskussion etwas vorbereitet. Einige sind irritiert übber John Wesleys Aufruf „Verdiene möglichst viel“. Ist dies heute nicht die ideale Rechtfertigung für „Abzocker“? Eine Diskussion über sehr aktuelle Fragen entbrennt. Verschiedene Gemeindeglieder bringen sich ein. Auch hier im Chor sind wir über das alte Gemäuer mit unseren Vorfahren verbunden und ihren Glaubensvorstellungen. In der Nische, in der zu katholischen Zeiten die Hostien aufbewahrt wurden, ist das hölzerne Abendmahlgeschirr aus der Reformationszeit ausgestellt. Die zum Teil restaurierten Fresken zeigen die Glaubensvorstellungen des Spätmittelalters: Himmel und Hölle.

Epilog
Und so „erbaut“ verlasse ich dann die Kirche. Ich wurde an den „Neandertaler“ erinnert, sang einen Psalm König Davids (1000 v.Chr.), ich betete das „Unser Vater“ (um 28 n.Chr.), dass uns mit allen Christen der Welt verbindet, ich sang mit dem Mönchen des karolingischen Frühmittelalters (9./10. Jh.), ich wurde an die reformatorische Einfachheit (1525 - 75) erinnert, ich versenkte mich in den mystischen Text Tersteegens aus der Zeit des Pietismus (1670 - 1750), ich machte mir Gedanken über die richtige Anwendung finanzieller Ressourcen mit Zitaten von Aufklärern (1720 - 1780) und ich bekam ein Gleichnis mit auf den Weg, das Kafka nicht besser hätte schreiben können: wie ist das nun mit den Schätzen im Himmel und auf Erden? Mit Tradition und Zukunft konnte ich eine Stunde lang mich beschäftigen, in einem wunderbar gepflegten Raumm, mit einer community, die nicht virtuell ist, sondern der ich in der kommenden Woche überall wieder begegnen werde: an der Kasse im Landi, auf der Post, im Bus.

Falls Sie auch Kirchensteuerzahler sind: Warum nicht mal wieder einen Sonntag hören, was der Pfarrer oder die Pfarrerin, die sie mit Ihrem Geld am Leben erhalten für sie blogt? Denn die Kirche sind Sie als Kirchensteuerzahler. Sie bestimmen an der Kirchenversammlung, wer, was und wann in diesem Raum am Sonntag geschieht. Und Sie sind aufgerufen, die Kirche der Zukunft zu gestalten aus der Tradition.

Update 23.09.2008: Gedanken zum katholischen Kirchgang fand ich hier und hier, Gedanken zur Auswirkungen des Kirchgangs auf die Scheidungsrate hier. Gedanken zur Ernährunspsychologischen Auswirkungen des Kirchganges hier. Beschreibung eines lutheranischen Kirchganges hier. "Gender" und Kirchgang in den Alten und Neuen Bundesländer: interessante Studie. Ostschweizer katholischer Kirchgang in Fotoreportage

Samstag, 20. September 2008

Eidg. Dank-, Buss-, und Bettag

Der britische Künstler Damian Hirst hat mit seiner Rekord-Kunstauktion bewiesen, dass mit religiösen Versatzstücken der jüdisch-christlichen Tradition auch mitten im Börsencrash ganz grosse Kasse gemacht werden kann. In einem Beitrag zum Bettag 2005 habe ich die Abwendung vom "Goldenen Kalb" hin zum mosaischen Bund als das prophetische Urdrama des Dank-, Buss-, und Bettags bezeichnet.

Am 3. Septembersonntag müssen wir uns den prophetischen Fragen zu unserem Bund, der Schweizerischen Eidgenossenschaft stellen. Welches sind die Götzen unserer Zeit, die uns den Bund der Eidgenossen vergessen lassen? Wie können wir zum weiteren Gedeihen unseres Staatswesens innerhalb der Christenheit beitragen als Christen (Katholiken, Reformierte, Altkattholiken) oder Juden oder (gerade im Vorfeld der Minarett-Initiative) Muslimen?


Mustergültig wie Kolumnisten-Doyen Ramspeck im Blick den Tag auf Boulevard-Niveau würdigt.


Mittwoch, 10. September 2008

„Wir korrigieren uns selbst“ (Gertrud Höhler)

Heute 21.15 auf 3sat „Swissness – oder die neue Liebe zum alten Schweizerkreuz“


Ein Blick in die Statistik
Wir produzieren viel:
Am meisten: nationale Mystik.
Erich Kästner (um 1933)



Reizwort. Am schwersten tut sich mit der „swissness-Euphorie“ laut einer Studie des gfs-Institut die 40-65 jährige sozialdemokratische Wählerschaft: diese Generation, die zwischen Peter Bichsels „Des Schweizers Schweiz“ (1967) und der Weigerung der linken Intelligenzja 1991 über die 700jährige Eidgenossenschaft nachzudenken („Siebenhundert Jahre sind genug“) sich ein Weltbild des feministischen Anti-Spiessertums gegen die „geistige Landesverteidigung“ der vor68er gebastelt hat (siehe dieser "Kulturplatz" von SF). Wie effektiv dieser mentale Graben funktioniert, zeigte Anita Fetz anlässlich jener UNO-Debatte im Jahre 2001, die sie im eben trendig gewordenen swissness-t-shirt bestritt, wobei sich bei ihren SP-Genossinnen nicht nur die Nackenhaare sträubten, sondern auch – wie Figura zeigt ­– ein gernzitiertes „Ikon“ des Polit(Ego)marketings entstand. Wie breit das Anliegen mittlerweile abgestützt ist, zeigt dass sich SP-Frau Fetz mit SVP-Frau Jasmin Hutter einig sind, dass das Schweizer Wappen, bzw. die Herkunkunftsbezeichnung „Made in Switzerland“ eines verstärkten rechtlichen Schutzes bedarf. Dies obschon sich Miliz-Offiziere der beiden Parteien über Armeegrösse und Heimfassung der Dienstwaffe total uneins sind.

Dienstverweigerung. Diese tiefe Spaltung der Schweiz nach dem Fall der Berliner Mauer zeigte sich erstmals bei der EWR-Abstimmung 1992. Buchmüller setzt denn auch hier an und lässt die Geschichte des helvetischen Heimatgefühls gerafft Revue passieren: Vorwürfe wegen der Holocaust-Gelder, Bergierkommission, Grounding der Swissair und Design der neuen Marke „swiss“ durch den Ausländer Tyler Brulé, selbstironische „expo.02“ bis zur swissness-Euphorie der letzten Jahren, die 2005 in der Wahl des „erfolgreichsten Mister-Schweiz“ Renzo Blumenthal gipfelte: ein Bio-Bergbauer aus Romanischbünden. Buchmüllers Film hangelt sich den trendigen Marketing-Bildern entlang und illustriert damit auch die geistige Ratlosigkeit, welche den eher linken „Mainstream“ befällt, wenn er die „Marke Schweiz“ in einem globalen Markt positionieren muss. Hier versucht der Historiker Jakob Tanner ­– der Zuschauer urteile mit welchem Erfolg - die intellektuelle Ehre seiner Generation zu retten.

Selbsthilfe. Gerade Firmen, die global tätig sind oder versuchen, ein Produkt über „innere Werte“ zu verkaufen, sahen sich durch einen Grossteil der „heimatmüden“ schweizerischen Intelligenz im Stich gelassen. Der Seifensieder und Unternehmensberater Mark Laager etwa, reservierte früh (2001) die Domain http://www.swissness.ch/ um ein – bisher unbenütztes – Forum des Nachdenkens über „the swiss way of business“ zu schaffen. Jüngstes Beispiel der geistigen Selbsthilfe an der Front, ist der schweizerische Botschafter in Strassburg, Paul Widmer, der in seinem Buch „Die Schweiz als Sonderfall“, provokativ den seit 1991 selbst in Diplomatenkreisen verpönten Begriff als unverzichtbares „tool“ einer schweizerischen Diplomatie herausstreicht.

Gastarbeiter. Es sind denn auch die „geistigen Gastarbeiter“ in Buchmüllers Dokumentation, welchen die rhetorischen Rosinen aus dem Mund purzeln. Der Italo-Berner Massimo Rocchi erweist sich wieder einmal als tiefsinniger, geduldiger und liebevoller Beobachter unserer Eigenart und wenn die Literaturprofessorin Gertrud Höhler (einst Gefährtin des 68er Literaten Fauser, später geschätzte Beraterin von CDU-Bundespräsident Roman Herzog) mit ihrem wunderbaren deutschen Damengesicht kristallklare Apercus über den ethischen Gehalt des Bankgeheimnis ausspricht, dann fassen wir Eidgenossen eher Vertrauen, als wenn uns dasselbe in juveniler Brachialrhetorik vom Chefredaktor der „Weltwoche“ verkündet wird. Der Film Buchmüllers ist ein guter Denkanstoss in süffigen Bildern. Die Debatte über das Selbstverständnis der Schweiz muss weiter geführt werden.

3sat, 10.9.2008, 21.15: „Swissness – die neue Liebe zum alten Schweizerkreuz“ Doku von Ernst Buchmüller. Trailer auf http://www.youtube.com/user/ebuchmueller
Widmer, Paul. Die Schweiz als Sonderfall: Grundlagen, Geschichte, Gestaltung. Verlag Neue Zürcher Zeitung. 2007

Dienstag, 9. September 2008

Über den "Bruch" von 1968 zurück visieren

"Oder der Publizist Hans Habe: ich hatte von ihm einen oder zwei Zeitungsartikel gelesen und mich gewundert, wie jemand so klug und elegant schreiben konnte. Als ich aber später mitbekam, dass er die Studentenbewegung kritisierte, war er für mich erledigt. Vor kurzem las ich zum ersten Mal in seinen Schriften und entdeckte einen brillanten Autor mit einer faszinierenden Biografie, dessen Polemik gegen die 68er scharfsichtig und präzis war und der deswegen aus den Debatten verschwand. Als er 1977 in Ascona starb, war er für die meisten Jüngeren ein Unbekannter. "
Eugen Sorg, "1968: Klassenfoto" in: Weltwoche 09/2008


Die Ergebnisse des verklärten Umbruchs von 1968 werden derzeit von den ergrauten "Siegern" in den Medien und auf den Lehrstühlen geschrieben. Ich möchte aber ausgehend von der selbstkritischen Bemerkung Eugen Sorgs in diesem Post auf die "Verluste" dieser Revolte hinweisen. Denn bei Lichte betrachtet erscheinen die Leistungen der gerühmten 68er nicht immer im grellsten Licht. Die Generation, die auszog, die Mythen der Väter zu zertrümmern und auf eine schwammig skizzierte "Utopie" lossteuerte, hat vieles in Grund und Boden gestampft, was eigentlich durchaus mehr Beachtung verdient hätte und wohl vor der Geschichte mehr Bestand haben wird als manche geschraubte Konstruktion dieser "Erneuerer". Der amerikanische Historiker Anthony Grafton sagte mir einmal - auf seinen Balzan-Preis (2002) als Ausweis von Brillanz angesprochen - : "Ach wissen Sie, das hat mit Brillanz nichts zu tun, in meiner Generation (*1950) genügte es schon fleissig zu sein, irgendwann war man dann ein "Sonderfall". Die sogenannten 68er haben den Marsch durch die Institutionen in der Toskana beendet".


Es lohnt sich also die Brockenhäuser und Antiquariate nach den heute vergessenen Büchern zu durchforsten, die nun aus den Nachlässen der wegsterbenden "vor68er" für neue Leser und Interpretationen frei werden. Denn wenn meine Generation noch im "Mythos von 1968" gross geworden ist, so ist es die Aufgabe der nun heranwachsenden Generation, wieder in kreativer Aneignung der Tradition Kontinuitätslinien über den etwas überschätzten Bruch von 1968 hinwegzuziehen und die angeblich "zerstörten Mythen" für sich neu zu entdecken. Wir leben also heute durchaus in aufregenden Zeiten.

Not-wendiges Schreiben


Kennern der Materie ist wohl aufgefallen, dass ich für den Titel meines Blogs den Cover des Landi-Buches 1939 von Gottlieb Duttweiler verwende. Dieses Buch in Riesenauflage in sehr guter Druckqualität auf den Tiefdruckmaschinen der Ringier & Co Zofingen und die Farbfotos auf den Photocolor-Tiefdruckmaschinen der Conzett & Huber, Zürich gedruckt, fasst die kompakte Leistung der "Landi 39" zusammen, der Landesausstellung welche die Leistungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Augenblick der Grössten Gefahr zusammenfasst. Es handelt sich also um "not-wendige" Texte im Sinne Walter Benjamins, welcher in seinem Essay 1940, kurz vor seinem Selbstmord an der Spanisch-Französischen Grenze, Geschichte als Bild definiert, das "im Augenblick der Gefahr" aufblitzt.
Vergangenes historisch zu artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es eigentlich gewesen ist’. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.
Duttweilers Fotobuch über die Landi 39 will ich als Ausgangspunkt einer pathetischen "swissness zu Tode" (1933 - 1968) in diesem Blog verwenden, um über die Umbruchzeiten von 1761 - 1848 (Sattelzeit) und 1515 - 1576 (Reformationszeitalter) in den Kern der "Swissness" zurück zu visieren. Denn der "Landi-Geist" wurde in den letzten 40 Jahren stark verteufelt, er ist so weit weg, dass er eine wunderliche Aura gewonnen hat, die auf die Beschäftigung mit der "swissness" neu zu befragen ist. Darum werde ich mir erlauben, Blog-Posts mit Bildern aus diesem Landi-Kultbuch zu illustrieren, um eine produktive Spannung zwischen dem "im Augenblick der Gefahr aufblitzenden Ideal der Geschichte" und der Gegenwart aufzubauen.
Der Anspruch an "not-wendige" Texte, will ich auch für die Blog-Posts mir auferlegen, um hier nicht allzu geschwätzig zu werden.

Hinweise auf Aktuelles

Kaum habe ich die "Kategorien" für meinen Blog festgelegt, schon weiche ich in der "Feinarbeit" ab. In diesem Eintrag geht es nicht um Eigenleistungen sondern lediglich um Hinweise auf Medienbeiträge die im Zusammenhang mit meinen thematischen Kategorien stehen.

Der Zürcher Tages-Anzeiger publiziert heute einen Hinweis mit schöner Bildstrecke auf die am 19. September im Schloss Pragnins öffnende Ausstellung über die Trinksitten der Eidgenossenaschaft. Wir haben schon im post über den "botellon" auf das Thema aufmerksam gemacht: Hier gibt es weitere Anregungen zum Weiterdenken.

Auf 3Sat findet morgen Mittwoch ein Themenabend zur Schweiz und der swissness statt. Sehr empfehlen möchte ich die Dokumentation von Ernst Buchmüller "Swissness – oder die neue Liebe zum alten Schweizerkreuz" (Hier der Trailer). Eine Vorrezension des Films von mir druckte gestern die "Basler Zeitung" (nicht online: Baz abonnieren! ist auch als E-Paper möglich). Werde morgen Mittwoch den Text aber auch hier zugänglich machen.

http://www.youtube.com/watch?v=O8iXhlHBBrQ

Als nächstes Blog-relevantes Thema werde ich mich über "not-wendiges Schreiben" äussern.

Samstag, 6. September 2008

Meine "Kategorien" für den Blog

Der grosse Reichenstein hat im Blog-Gespräch mit Ronnie Grob zwei Kriterien der Relevanz genannt für einen guten Blog:

"Zum einen ist Relevanz ja perspektivisch (jeder findet andere Dinge relevant), zum anderen aber kategorisch (ein Musikheftli sollte nicht ueber Lastwagenmotoren schreiben).
Perspektivisch definiert sich Relevanz fuer mich vorerst durch die Inhalte. Wer faehig ist, konsistent eigene Inhalte zu bringen, die entweder einen substanziellen Informationswert oder einen besonderen Unterhaltungswert (besser noch: beides zusammen) liefern, ist fuer mich relevant. Was die Substanzialitaet anbelangt, wuerde ich bei jeder Art von journalistischem Text ebenso journalistische Kriterien anwenden.
Kategorisch relevant ist ein Blog dadurch, dass er ein Set zusammenhaengeneder Themen hat und diese Themen Schritt fuer Schritt entwickelt."

Mir scheint es wichtig zuhanden der Leser den Kategorischen Aspekt hier zu klären. Denn im Bereich der perspektivischen Relevanz halte ich die Klappe, das sollen die Leser „Innen und Aussen“ entscheiden.

Vorauszuschicken ist, dass ich als freier Journalist das Privileg habe, in verschiedenen Organen Texte unterzubringen. Der Blog dient deshalb auch als „Werkverzeichnis“. Wer alle Texte im Auge behalten will, verfolgt mich auf „twitter“ wo ich als „uertner“ einen Kanal habe.

Das „Set zusammenhängender Themen“ ist im semantischen Wortfeld „uerte“ enthalten, das als das Zauberwort des psychosozialen Zusammenhangs der „Willensnation Schweiz“ angenommen wird („swissness“ im Sinne der „histoire des institutions“ oder des „esprit des lois“). (Darüber habe ich an der Herbsttagung der Symbolforschenden Gesellschaft der Schweiz 1995 gesprochen). Als „uertner“ begebe ich in dieses semantische Feld und kommentiere daraus Tagesaktualität. Wichtig wird aber auch sein, über die Bruchzeiten der nationalen Geschichte nachzudenken. Dies in der Gewissheit, dass wir uns seit 1968 und zunehmend nach 1989 in einer Umbruchzeit uns befinden, in der es nützlich sein kann, die Klassiker vorangehender Bruchzeiten wieder ins Bewusstsein zu heben. Der erste Eintrag ist darum nicht nur eine Auslegung der Verfassungspräambel sondern auch eine Hommage an Jeremias Gotthelf (1797 – 1854), der in der letzten grossen Umbruchphase (1755 – 1848) der Sattelzeit mit grosser Wortgewalt die Idee des christlichen Staates verteidigt hat.

Weiter wird im Fokus die Zeit der Schweizergeschichte von 1515 – 1575 sein: die Epoche der Errichtung des bikonfessionellen Staatenbundes, der als europäischer „Sonderfall“ von Josias Simler 1576 in seinem grossen lateinischen Standardwerk zu Handen der europäischen Staatenwelt erklärt wurde.

Endlich werde ich mir erlauben auf die Zeit der „geistigen Landesverteidigung“ einzugehen (1933 – 1968), im Wissen, dass in dieser Epoche existenzieller Bedrohung Werke ans Licht gebracht wurden, die oft mit weit grösserer intellektueller Eindringlichkeit ausgestaltet wurden, als die Papierflut, die sich heute aus den vielen Hochschulen über uns ergiesst.

Dies mag genügen: ansonsten fragt.

Donnerstag, 4. September 2008

"grosse Flaschen" (botellones) und die "Führung"



Peter Hartmeier: "Das schrib ich morn i mim kommentar!"

Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben,
dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt
und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.
(Mth. 18,6 nach Luther)


Der Mainstream, der am reinsten aus den Kanälen des Hauses Tamedia („content for people“) tönt, will von „Führung“ nichts wissen. Daniel Binswanger, der ab und an brillante Tagi-Kolumnist, macht sich in einer Kolumne, die erst auf der news-plattform freigeschaltet wurde, dann in das „Tagi-Magi“ Eingang fand über den Begriff an und für sich lustig und über alle, die nach „Führung“ verlangen (Gratis-Journalismus). Ein in der ganzen Blogosphäre und auf facts.ch euphorisch kommentiertes Interview von Tamedia-Edelfeder Seibt (per Volksakklamation „Journalist des Jahres 2007“), mit dem grossen erbsenzählenden Mediensoziologen und Empörungstheoretiker von Zürich, Prof. Dr. Kurt Imhof (Peter von Matt meinte über diese Sorte „Wissenschaftler“ einmal: „heute gilt ja schon die Beschaffung von Drittmitteln aus der Wirtschaft als wissenschaftliche Leistung“ – ähnlicher Fall: Prof. Dr. Mörgeli), legt den ganzen Opportunismus der „grössten Schweizer Tageszeitung“ schonungslos offen. Denn kaum hat der „botellon“ - ermutigt durch einen steuergeldfinanzierten „ordentlichen Professor“ (ein Züricher Ordinarius!) der Universität, der seinen Schwachsinn noch so gerne in das Mikrofon von Zivilschutz-Verweigerer Seibt absonderte – stattgefunden und kaum musste die vermüllte Blatterwiese auf Kosten der Steuerzahler gesäubert werden, entdeckte – hört, hört – der Chef von Seibt, der wendige Heuchler Peter Hartmeier (FDP), plötzlich die „Verantwortung für den öffentlichen Raum“ (Denn zahlende Abonnenten der Print-Ausgabe wollen, wie Imhof richtig diagnostizierte, Moral: „Die SP vertritt längst nicht mehr das Proletariat. Sondern den Mittelstand (Tagi-Abonnenten: Anm. der „Willensnation“). Und der kauft momentan Moral“). Ja – so fragen wir – hatte dieser Hartmeier, dieser scharfe Vordenker, nicht genug Fantasie, sich auszumalen, was passiert, wenn die heutige Jugend von einem durch sein Organ im Internet in Verbindung mit einem Kult-Journi tönenden professoralen Welterklärer zum öffentlichen Saufen ermutigt wird? „Das schrib ich denn no im mim Kommentar“ (auf den können wir nicht linken, den gabs am Dienstag nur für die zahlenden „Moralkäufer“) empörte er sich am Montagabend in Gillis Mikrofon (das auch der Tamedia gehört) der Chef des Tages-Anzeigers, der hinwiederum dem Jung-Raubauken der Juso (Ja, der mit dem Kiff-Provokatiönchen) aber in serviler Anbiederung zubilligte „philosophisch händ si rächt“. Tja, ist nun der Chefredaktor („macrobotellon“) des Tagi auch nur so ein imhofscher „Empörungsbewirtschafter“: es scheint so. Aber getoppt wurde der Chef der Zeitung gar vom Bundespräsidenten der schweizerischen Eidgenossenschaft („Couchepin el macrobotellon maximo“) der von seinem jährlichen Medien-Event in Zimmerwald aus (Moment: fand dort nicht ein Kommunistentreffen im Ersten Weltkrieg statt? Egal, wen schert schon Symbolträchtigkeit) ganz Staatsmann und eingedenk der dramatisch Fehler, die 1968 gegenüber der aufbegehrenden Jugend gemacht wurden (Res Strehle leidet noch heute), mit der saufwilligen Jugend „subito“ in den „Dialog“ treten will. Arme Helvetia. Die Swissair gegroundet, die UBS schlingert, die Armee pinkelt führungslos in die amerikanische Botschaft und schiesst unkontrolliert um sich, während die „oberste Landesbehörde“ der saufenden Jugend durch Couchepin und dem Welt-Terroristen Bin Laden durch Calmy-Rey den „Dialog“ anbietet. Nein wir brauchen keine Führung: Hauptsache die Empörung wird medial gut „bewirtschaftet“. Und so betrachtet ist Peter Hartmeier der „führende Mann“ der Branche. Eine grosse leere Flasche, die auf den Wogen des Zeitgeistes immer obenauf schwimmt. Tamedia-Aktien? Kaufen!

Montag, 25. August 2008

Nebelspalterei ins Allzumenschliche

«Eine Fliege die nicht geklappt werden will,
setzt sich am besten auf die Klappe selbst.»

Georg Christoph Lichtenberg,
1742 – 1799, deutscher Aufklärer

Man will, man muss – und das natürlich auch frau, aber in diesem Kontext doch eher man, ­ und dieses vor allem in der Medienszene – up to date sein, in und sexy. Wie kann man sich als in der Schweiz als «Kerl von Geist und Witz» beweisen? Indem man sich über die «helvetische Humorpostille» das «biedere Schweizer Witzblatt», kurz: «die älteste Satire-Zeitschrift der Welt», den 133jährigen ‹Nebelspalter› erhebt, sich lustig macht, ihn schlecht schreibt. Franz Hohler (einst fleissiger Nebi-Mitarbeiter) tat es in seinem jüngsten Bestseller «Es klopft». Das muss uns nicht schmerzen, denn einen Franz Hohler («einer der grössten Erzähler seines Landes», Klappentext) kann sich der ‹Nebelspalter› nicht (mehr) leisten, einen Peter Schneider (dessen Honorar für seinen Textschnipsel in der «Sonntagszeitung» wir hier nicht breitschlagen wollen) auch nicht. Und weder Lorenz Keiser (der im ‹Nebelspalter› seine Karriere begann) noch «Victor Giacobbo» (dessen Casino-Theaterinserate im ‹Nebelspalter› von einem kaufkräftigen Publikum beachtet werden) liegen im Budget: Aber selbst die finanzstarke Tamedia konnte die beiden letztgenannten nicht als Freitags-Satiriker halten.

Eine der gröbsten – und dümmsten – Breitseiten schoss der im fernen Berlin weilende Medienblogger Schweizer R. G. ab. Ergebnis seines Nebelspalter-Tests: einer von zehn Punkten («Micky Maus»: neun von zehn). Der Tagi-Journi T. K. charakterisierte das im thurgauischen Horn produzierte Satiremagazin als «den kranken Mann vom Bodensee», der deshalb nicht schlecht zu den Ärzte-Wartezimmern passe, in denen er doch vornehmlich anzutreffen sei. Und auch B. F., eine bloggende Kolumnenschleuder, «kotzte» in die «NZZ am Sonntag» folgenden Befund: «Der ‹Nebelspalter›, einst die humoristische Landesverteidigung der Schweiz, dümpelt nur noch vor sich hin. Mehr als antiamerikanische Zeichnungen und Fasnachtswitze scheinen den Zeitschriftenmachern nicht mehr einzufallen.»

Spalten wir also etwas den Nebel. Könnte es allenfalls sein – wir fragen –, dass einer der soeben zitierten geschmacksicher-ennuyierten Satireexperten sich allenfalls 2004 vergeblich um die Stelle als Chefredaktor des ‹Nebelspalter› bewarb? Es wurde eine andere Wahl getroffen, sorry. Könnte es weiter sein – wir fragen –, dass ein anderer unter den oben Zitierten, kaum war seine «fundierte» Analyse des helvetischen Humorschaffens erschienen, dem Nebi mildtätig seine Mitarbeit angeboten hat? Und können Sie es mir als Leser verargen, wenn wir nun dem Gerücht, auch der dritte der oben Zitierten werde demnächst Texte zur «Verbesserung des Humor-Niveaus» nach Horn schicken, einige Glaubwürdigkeit beimessen? Wäre dies nicht menschlich - vielleicht allzu menschlich? (über journalistische "Nestbeschmutzer" hier)

Kleiner Hinweis: Constantin Seibt («Journalist des Jahres 2007», Verlagswerbung: «Nebelspalter tot – Seibt lebt»), der als Widerpart des preisgekrönten «Weltwoche»- Kolumnisten Mörgeli scheiterte und nun als Freitags-Satiriker des «Tages-Anzeigers» die Probezeit überlebt hat (1. Kolumne nach den Ferien am 5. September), versuchte es Mitte Neunziger – als er noch jung und hungrig war – zusammen mit dem heute gefeierten Literaten Peter Stamm mit der «Rettung des Nebelspalters». Doch der Erfinder der «Familie Monster» (WoZ-Kultkolumne) räumt der «Willensnation» gegenüber ein: Neben der Arbeit bei der «Wochenzeitung», sei eine weitere Satirefront trotz «geschissen guter Honorare» damals für ihn einfach «little too tough» gewesen. Es war übrigens diese geniale «Raschle-Truppe», die für jene Abonnentenflucht sorgte, die den «Nebelspalter» wirtschaftlich an den Abgrund brachte.

Seit dem Relaunch des «Nebelspalter» 2005 haben nebst den soliden Nebi-Urgesteinen aus der Ex-DDR, den alten Bundesländern, Österreich und der Schweiz folgende extra-lustige Eidgenossen regelmässig Beiträge publiziert: Andreas Thiel (Prix Pantheon 2005, Prix Cornichon 2008), Simon Enzler (Salzburger Stier 2007), Pedro Lenz (Literaturpreis „Arbeit und Alltag“ 2004, CH-Hoffnung Klagenfurt 2008) und Gion Mathias Cavelty (einst «literarische Entdeckung», Klagenfurt-Kandidat nun Weltwoche-Kolumnist und Star-Blick-Reporter).

Die Abonenntenzahl hat seit 2005 um mindestens 20 Prozent zugelegt, preisbewusste Inserenten haben das begriffen, die hippen Tussis in den Medienagenturen in Zürich noch nicht (aber die verlassen sich ja auf die «Kerle von Geist und Witz» in den Blogs und Blätter).

Wer meint, er sei witziger als der ‹Nebelspalter›, der soll es doch zuerst mit Sketches für das «Turnerchränzli» oder Beiträgen für die örtliche Fastnachtszeitung versuchen oder – vielleicht noch besser: Klappe halten. In Horn gesucht sind aber weiterhin hungrige Talente mit Potenzial.

Giorgio Girardet


PS: Am 5. September ist der «Tagi» mit Seibt-Kolumne (Fr 2.50) und der neue «Nebelspalter» (Fr. 9.80) am Kiosk: Wo ist wohl der Satire-Franken besser angelegt?



PPS: Disclaimer: der Verfasser ist seit 2005 Kolumnist im "Nebelspalter"

Dienstag, 15. Juli 2008

"Im Namen Gottes des Allmächtigen"

Gotthelfs Prophezeiung ist eingetroffen: Margrit Sprecher in der "Zeit"

So beginnt auch die 1999 angenommene Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Sie wurde bekanntlich 1848 in ihrer ersten Fassung angenommen (oder von den Liberalen aufgezwungen, da nicht alle Kantone "Ja" sagten) und 1874 durch Initiativ- und Referendumsrecht erweitert.
In der Kampfzeit um die erste Verfassung von 1848 spielt der letzte Roman von Jeremias Gotthelf "Zeitgeist und Berner Geist" (1851) in der folgende kurze "Predigt" über den modernen "Rechtsstaat" enthalten ist (zitiert nach der Ausgabe von Walter Muschg 1951, S. 110):

"Es ist sehr merkwürdig, wie die moderne Staatsjungen faseln. Ehedem wetteiferte jeder Staat um die Ehre, sich einen christlichen zu heissen, ja es gab sogar einen König, welcher sich anmasste, der allerchristlichste heissen zu wollen. Gegenwärtig ist ein kindisches Renommieren an der Tagesordnung, ein sich Schämen alles Christlichen, daher die dumme Rednerei, kein christlicher, sondern ein Rechtsstaat sein zu wollen. Darunter kann man nicht verstehen einen Staat, wo Recht und Gerechtigkeit herrschen. Denn wo sind diese, wo man nicht mehr christlich sein will, und so sind sie in den Ländern zu finden, die sich als Rechtsstaaten proklamiert haben? Das kann nichts anders heissen sollen als ein Staat voll Rechtsgelehrte und Rechtshändel! Dass Gott erbarm! Wären nicht Heuschrecken besser und allerlei Fieber? Und trotz allem Geplapper von Rechtsstaat sind wir doch eigentlich ein Gottesstaat geblieben und gottlob, dass wir es geblieben sind. Gottlob, der Grundsatz herrscht trotz allen Namen dem Wesen nach noch unter uns, alle Obrigkeit sei von Gott, aus Gottes Gnaden, und alle Ordnung sei von Gott, sei in seinem Namen und unter der Verantwortung gegen ihn zu verwalten."


Diese Betrachtung scheint mir würdig für die Eröffnung des neuen Blogs "Willensnation" in dem der "uertner" oder eben ich, Giorgio Girardet, Gedanken zu veröffentlichen.