Mittwoch, 21. März 2012

"Vertikalspannung" der Christen

Der Basler Münsterpfarrer Franz Christ hat einen Katechismus für die Basler Reformierten verfasst

Von Giorgio Girardet*

Basel. Nur noch die älteren Reformierten erinnern sich daran, im Konfirmationsunterricht mit dem «Katechismus», den «FAQ» (Frequently asked Questions) des Glaubens mit den richtigen Antworten, geschult worden zu sein. Katechese mit fertigen Antworten gilt als überholt. Doch seit Kurzem gibt es den «Basler Katechismus» aus der Feder des ehemaligen Münsterpfarrers Franz Christ. Es ist der Versuch, die Essenz des evangelisch-reformierten Christentums für eine jüngere Generation zu würdigen. Es ist ein von Basler Eigensinn geprägter Beitrag zum «Bekenntnisprozess» der seit 1868 bekenntnisfreien Schweizer Reformierten auf das Reformationsjubiläum 2019 hin. Was glauben eigentlich Christen? Der pensionierte Münsterpfarrer will nicht, wie etwa der erste «Basler Katechismus» Oekolampads, der 1537 posthum im Druck erschien, als «Kinderbericht », als «Frag und antwort jn verhörung der Kinder» von oben herab dozieren. Er nimmt den Abgänger der Volksschule bei der Hand und will ihm «einen Weg zum Verständnis des Gehalts des christlichen Glaubens freilegen».


Im Innersten berührt werden
Im ersten Kapitel werden die Fragen: «Was kann ich wissen? Was muss ich tun?» aufgeworfen. Darüber liesse sich räsonieren, doch Christ führt den Leser zu einem Paulusbrief, in dem von der befreienden Wirkung des Christentums gesprochen wird. Von Religionen im Allgemeinen will er nicht mehr sprechen, denn der Mensch kann nicht die Stelle des Richters einnehmen wie in der Ringparabel aus Lessings «Nathan der Weise». Darum soll der Leser beim Erlebnis gepackt werden («Vielleicht hast du die Erfahrung gemacht, dass du ganz tief in deinem Innersten berührt worden bist»). «Der Stich durchs Herz» (Apostelgeschichte 2, 37) gibt dem zweiten Kapitel den Titel. Damit wird «Gottes Geist» eingeführt und die Bibel «als Text, als Sprache, die von diesem allem redet», vorgestellt.

Das Thema Gebet als Zwiesprache mit dem «grossen DU» wird anhand des 23. Psalms «Der Herr ist mein Hirte» veranschaulicht, das «Unser Vater» aus dem Neuen Testament beigefügt. Danach geht es darum, das gewonnene «Faszinosum und Tremendum» des «Stichs durch das Herz» im Konkreten zu verorten. Denn die Bibel erzählt von Gestalten, die in dieser Gottesbeziehung stehen: Abraham, Isaak und Jakob und seine Nachfahren. Aus der Begegnung der Jünger mit Jesus vor Emmaus in der Ostergeschichte des Lukas-Evangeliums gewinnt Christ eine Metapher für den Gottesdienst («Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt»). Das Brechen des Brotes führt in den sonntäglichen Gottesdienst mit Schriftauslegung in der Predigt und Abendmahl. Es wäre kein evangelisch-reformierter Text, wenn nicht der Hinweis das Kapitel abschliessen würde: «Der Sonntagsgottesdienst findet seine Fortsetzung im Gottesdienst des Alltags.»

Hier kann der Mensch auch Fehler begehen, weshalb im vierten Abschnitt, «Verletzte Liebe», vom Wesen der «Sünde » gesprochen wird – ein Begriff, der uns wie das Verhängnis einer griechischen Tragödie im Bann hält. In der Vergrösserung und im Kenntlichmachen der Sünde wird die Technik gezeigt, auf Barmherzigkeit und Vergebung hoffen zu dürfen. Und hier enthält der Text ein Gran Zeitkritik:
«Permissive Gleichgültigkeit, die kein Gebot mehr respektiert, schlägt um in gnadenlose Verurteilung. »
Grosse Sünder wie Moses und David können auch als Autoritäten durch die Vergebung Gutes bewirken.

Eine Liebesgeschichte
Im zentralen fünften Abschnitt geht es nun um die «Liebesgeschichte» Gottes mit dem Menschen über seinen Sohn Jesus. Aus dem Korintherbrief, dem zeitnächsten Textzeugen, wird die Auferstehung zitiert. Es folgt die kurze Darlegung der Dreieinigkeitslehre, wie sie im Konzil von Nicea (325) formuliert wurde. Im Lichte der Begegnung mit Jesu wird nun die ganze biblische Geschichte zu einer «Liebesgeschichte höherer Ordnung». Gott sucht und findet Menschen und begleitet sie auf ihrem Weg. «Gnade» wird dies genannt und mit dem Anteil an dieser Geschichte sei etwas gewonnen, «was ewiges Leben genannt zu werden verdient». Von diesem zentralen Hochplateau nimmt nun der Text den Abstieg wieder in den Alltag und die irdischen Institutionen unter die Füsse (6. «Vereinzelung und Gemeinschaft »). Die Christen verbindet «etwas Gemeinsames», die Bibel kann in alle Sprachen übersetzt werden und wird in allen Sprachen verstanden. Hier wird von den sichtbaren und greifbaren Formen des christlichen Lebens gesprochen: Gottesdienst, Bibellektüre, Taufe und Abendmahl, das Gebet und die Organisation der christlichen Gemeinde.

Es folgt eine eigentliche Sakramentslehre und Ekklesiologie. Die Gemeinde wird als «priesterliches Volk oder als Heilige» bezeichnet. «Heilig» nicht im Sinne von «moralisch perfekt», sondern «zu Gott gehörig». Die Gleichheit von Männern und Frauen betonend, wird auf etwas hingewiesen, das von säkularen Rationalisten verdrängt wird: «Die Synoden sind in unserer schweizerischen demokratischen Tradition Kirchenparlamente. Die reformierte Tradition hat die moderne Demokratie mitgeprägt und diese hat wieder in unsere Kirchen zurückgewirkt.» Im siebten Kapitel erst («In der Liebe tätig») werden die zehn Gebote erwähnt, um das «Feld des christlichen Handelns» abzustecken. Aber als wichtigstes Gebot bleibt das Doppelgebot der Liebe: «deinen Nächsten lieben wie dich selbst». Christ greift listig auf eine Übersetzung Martin Bubers zurück und macht aus den Geboten die «zehn grossen Freiheiten»: «Du sollst nicht töten» wird so zu «Du wirst nicht morden».

Konnten frühere Katechismen die Kinder mit den Schöpfungswerken des Allmächtigen abholen und Gott so «beweisen », so «weiss» heute jeder Dreikäsehoch, dass das Universum mit einem Knall einsetzte und die Krone der Schöpfung nicht aus Lehm geformt wurde. Im zweitletzten Kapitel wird die Trennung von Schöpfer und Schöpfung thematisiert, die für die jüdisch-christliche Tradition konstitutiv ist und der letztlich auch die Entfaltung der naturwissenschaftlich- technischen Zivilisation zu danken ist. Die zu bewahrende Schöpfung und das verheissene Reich Gottes werden in Wechselbeziehung gebracht.

Sehnsucht nach Vollendung
Im letzten Kapitel wird das, was Peter Sloterdijk «Vertikalspannung» nennt, die «Sehnsucht nach Vollendung », evoziert. Mit Karl Barth, der dem Theologiestandort Basel zu Weltruhm verhalf, wird gesagt: «Gott ist unser Jenseits.» Und mit dem Titel der 1908 erschienenen Predigtsammlung des einstigen Basler Münsterpfarrers und Begründers der Religiös-Sozialen in der Schweiz, Leonhard Ragaz, klingt dieser Basler Katechismus aus: «Dein Reich komme».

Zweimal wurden je 1300 Exemplare gedruckt. Der auch downloadbare Text soll eine Debatte auslösen, soll aufgrund der Rückmeldungen noch nachgebessert werden. Die ebenso verständliche wie theologisch wetterfeste Sprache zeigen etwas, was alle grossen Dichter deutscher Zunge, vom linken Brecht bis zum grossbürgerlichen Thomas Mann, wussten: Die Beschäftigung mit der Bibel verhilft zu klarer, wirkungsvoller Sprache, weshalb dieser Text nicht nur von Menschen mit pädagogischen oder religiösen Interessen gelesen und diskutiert werden sollte, sondern auch von Kulturbeflissenen.

*Giorgio Girardet ist Historiker und lebt in Bubikon (ZH)
 
Erschienen in der "Basler Zeitung", 13. März 2012, S. 39

Montag, 19. März 2012

Tagebuch: Bischof Huonder und die Zwingli-Kirche


Bischof Vitus Huonder steht im Kreuzfeuer der Kritik. Michael Meier hat ihm auf der Front des Tages-Anzeigers wieder einmal die Leviten gelesen und auf News-Netz-Online der Tamedia wird verkündet: „Es gibt noch jemanden über dem Bischof“. Wir gehen wohl nicht falsch in der Annahme, der Online Skribent meinte damit nicht Benedikt XVI. in Rom, sondern den allgütigen, allbarmherzigen, allversöhnenden „Allmächtigen“ der Bundesverfassung unseres Rechts- und Sozialstaates. Was wird dem armen Bischof Huonder zur Last gelegt? Einzig, dass er eine gewisse – der Philosoph Peter Sloterdijk würde es vielleicht „ Vertikalspannung“ nennen – Anstrengung gegenüber dem Gebot der ehelichen Treue dem katholischen Kirchenvolk in Erinnerung rief. Die Nidwaldner Geistlichkeit, die anno 1799 ihre Schäfchen in eine ebenso aussichtslose wie verzweifelte Abwehrschlacht gegen die „gottlosen Franzosen“ hetzte, fährt anno 2012 ihrem Bischof gleich frech übers Maul: der Hirtenbrief bleibt ungelesen. Ehescheidung ist ein Menschenrecht, wie der Kirchenaustritt, der Gipfel Religionsfreiheit ist. Denn in der Schweiz ist das Volk der Souverän und allmächtig. Gerade bei uns Reformierten. So stellte sich der Turbenthaler Pfarrer Urs Niklaus schon gar nicht der Wiederwahl für ein neues reformiertes Pontifikat im frommen Tössthal. Zwar mochte er sich mit seiner – unzeitgemässen! – Praxis, geschiedenen Brautleuten vor der kirchlichen Neuvermählung ein Schuldbekenntnis einzufordern, einige Pluspunkte im Schosse Abrahams ausrechnen, hienieden aber, im Freudental der Schlauraffen, meinte er – vielleicht zu Unrecht – keine Volkswahl bestehen zu können und trat erst gar nicht an. Eigentlich hätte ich gern die Stimmbeteiligung und die wahrlich sowjetischen Zustimmungsquoten für die reformierte Zürcher Geistlichkeit hier stolz kommuniziert. Doch an der Blaufahnenstrasse, wo die Profis wirken, fehlt das Zutrauen in die „Vertikalspannung“ der Kirchgemeindebehörden, die Resultate bis Sonntagabend nach Zürich zu übermitteln. Wir vertrauen auf Gott: er wird uns auch diese Trägheit vergeben.

«Harmonie ohne Klang»?

Die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer stellen sich am Wochenende der Volkswahl

Alle vier Jahre müssen sich die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer im Kanton Zürich der Wiederwahl stellen. Das neue Kirchengesetz hat ihre Amtszeit reduziert, um die Einbindung der Kirche in die demokratischen Strukturen zu betonen.

Giorgio Girardet

Das erste Mal seit der Einführung der neuen Kirchenordnung werden an diesem Wochenende im ganzen Kanton Zürich die Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Kirchgemeinden an der Urne auf Vorschlag der Kirchenpflegen bestätigt – oder allenfalls nicht mehr wiedergewählt. Die Amtsdauer von neu vier Jahren ist die logische Folge des 1967 eingeführten Zuordnungsmodells in der Gemeindeleitung – der Organisationsform also, in der Pfarrer und Kirchenpflege Entscheide in einem fairen, respektvollen Meinungsbildungsprozess gemeinsam fällen müssen.Wie eine Umfrage unter den Dekanen zeigt – sie vertreten die Pfarrkapitel gegenüber den Bezirks-Kirchenpflegen und dem Kirchenrat –, sind die verkürzte Amtsdauer und die zusätzlichen Kosten der häufigeren Wahl nach wie vor Gesprächsthema in der Pfarrerschaft.


Wahlen nach neuer Regelung
Erstmals können sich an dieser Bestätigungswahl alle Reformierten beteiligen, die über 16 Jahre alt sind, auch die ausländischen Kirchenmitglieder – eine Regelung der neuen Kantonsverfassung, welche die Gemüter einiger bürgerlicher Politiker erhitzte, weil damit das Ausländerstimmrecht zumindest im Kirchenvolk verankert wurde. Mit der neuen Kirchenordnung findet das Zuordnungsmodell
nun – analog zu den Mid-Term-Wahlen in den USA – im Wahlrecht seinen sichtbaren Niederschlag. Wurden 2010 die Kirchenpflegen mit der üblichen Legislatur von vier Jahren nach der neuen Kirchenordnung bestellt, ist es nun – zwei Jahre später – am Kirchenvolk, die Pfarrer entsprechend den Empfehlungen der Kirchenpflegen zu bestätigen. Aber die Analogie zu den Mid-Term-Wahlen ist trügerisch. Während der Präsident der USA mit einem Veto alle Beschlüsse der Legislative stoppen kann, nimmt der Pfarrer nur mit beratender Stimme und Antragsrecht an den Sitzungen der Kirchenpflege teil. Das Zuordnungsmodell bleibt deshalb in der Pfarrerschaft umstritten. Es sei ein Schönwettermodell, das in Konfliktsituationen keiner Seite erlaube, den «Karren aus dem Dreck zu ziehen», wird oft kritisiert.  


Antiautoritäres Erbe

Der Abbau der einstigen Machtstellung des auf Lebenszeit gewählten Gemeindepfarrers vollzog sich Ende der sechziger Jahre im Gleichschritt mit der Entzauberung der Volksschullehrer und der «Götter inWeiss». Hatte der Gemeindepfarrer vor 1869 eine Stellung, wie sie heute nur noch Universitätsprofessoren geniessen, wurde er durch die Idee der demokratischen «Volkskirche» den Lehrern gleichgeordnet. Diese verloren mit dem neuen Volksschulgesetz sowohl die Volkswahl wie den Beamtenstatus. Indem die Pfarrwahlen einem in die Behördenwahlen eingepassten Vierjahresrhythmus unterworfen werden, gleichen sich die Pfarrer in der Wahrnehmung des Wahlvolks den Politikern an, die sich alle vier Jahre an der Urne einem «Rating» stellen müssen. Was man im Fall der Lehrer wegen der Möglichkeit einer Abwahl als unwürdig empfand und im neuen Schulgesetz abschaffte, wurde nun für die Pfarrerinnen und Pfarrer als sinnvoll beurteilt und eingeführt. Mit dem partnerschaftlichen Modell in der Gemeindeleitung wurde bei den Zürcher Reformierten eine Organisationsform eingeführt, die der damalige Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer 1973 beim 450-Jahre-Jubiläum der Zürcher Disputation als «Harmonie ohne Klang» kritisierte. Die Befürworter der neuen Regelung argumentierten damit, die Wahl gebe den Kirchenmitgliedern eine Möglichkeit, sich zu beteiligen.
Wüste Abwahlschlachten seien bei der verkürzten Amtsdauer nicht zu erwarten. Anderseits werde das Pfarramt durch dieWahl in kürzeren Abständen wahrnehmbarer.


Abwahlen unwahrscheinlich
Die Abwahl des von der Kirchenpflege empfohlenen Pfarrers wird nur in Rafz von einer Gruppierung angestrebt. Solche Bestrebungen kamen auch schon unter der alten Ordnung vor, wie Nicolas Mori, Mediensprecher der Landeskirche, bestätigt. In 5 bis 6 der 179 Kirchgemeinden im Kanton Zürich kam
es jeweils zu strittigenWahlen, die allerdings nur in 1 bis 2 Fällen eine Abwahl zur Folge hatten. Es zeigte sich immer, dass gewichtige Gruppierungen unzufrieden sein müssen, damit eine Abwahl
oder nur schon ein knapper Wahlausgang zustande kommt.
Allgemein werde die Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer geschätzt, so die Dekane. Darum sei auch mit einer höheren Stimmbeteiligung zu rechnen als bei den Wahlen ins Kirchenparlament, die Synode. Diese sind vor einem Jahr bei einer Beteiligung von unter 30 Prozent sehr geräuschlos verlaufen, obwohl es in einzelnen Bezirken zu Kampfwahlen kam. Ob sich der Vierjahresrhythmus in der Pfarrwahl bewähren wird, lassen die Dekane offen. Immerhin äussern sie eine gewisse Skepsis. Möglicherweise werde diese Regelung durch die gesellschaftlichen Veränderungen ohnehin bald überholt.
Tatsächlich muss sich die Kirche fragen, ob sie durch Bestätigungswahlen im fast schon «sowjetischen Stil» nicht eher eine Karikatur der Demokratie liefert, als dass sie einen Beitrag dazu leisten
würde, dass sich die Pfarrerinnen und Pfarrer wieder vermehrt profilieren – das heisst, dass sie auch einmal ein unbequemes Wort wagen und sich nicht nur unter Vermeidung von Fettnäpfchen
im geschmeidigen Pas de deux mit der Kirchenpflege von Wiederwahl zu Wiederwahl hangeln.

Erschienen in der "Neuen Zürcher Zeitung" Nr. 58 vom 9. März 2012, Seite 20