Dienstag, 30. November 2010

Regeneration (I): Anbruch der helvetischen Moderne (1829 - 1833)

Professor Peter von Matt hat in einem Interview mit der NZZ am Sonntag vom 31. Oktober 2010 auf die Frage
Welche Perioden der Schweizer Geschichte sind ihrer Meinung nach bis heute noch nicht genügend ausgeleuchtet worden?

Ich finde das 19. Jahrhundert rasend interessant. Und sage immer, dass 1830 das eigentliche Revolutionsjahr der Schweiz war, nicht 1848. Da gab es in allen grossen Kantonen erfolgreiche Revolutionen. Moderne, liberale Regierungen, welche die Grundrechte einführten. Universitäten wurden gegründet. Die Wirtschaft und die Medien befreit. Seit damals gibt es eine moderne Schweiz. 1830 war ein europäisches Revolutionsjahr, das in der Schweiz ganz gewaltig gezündet hat, aber ich kann mit fast niemandem darüber reden.

Nachdem der „stadtwanderer“ schon Abhilfe versprochen hat und die „Willensnation“ mit dem Offiziersfest 1822 und dem eidgenössischen Bettag 1832 zwei Eckpunkte der Entwicklung thematisierte, wollen wir hier einen ersten Überblick in Listen geben.

1. patriotische Feste der 1820er Jahre

1.1. Offiziersfest Langenthal 1822
1.2. Schützenfest Aarau 1824

2. Publizistische Rahmenbedingungen der Metternich-Zeit in der Schweiz
1812 (Russland-Feldzug Napoleons) verabschiedete die Tagsatzung ein Pressekonklusum, das die Kantone aufforderte, "gegen den Missbrauch der Pressefreiheit" in polit. Angelegenheiten vorzugehen. Als einziger Schweizer Kanton schrieb Genf schon 1814 die Pressefreiheit in der Verfassung fest. (Quelle)
1823 wurde nach Drohungen der konservativen Mächte das Presse- und Fremdenkonklusum verabschiedet, das eine Kontrolle der Auslandsberichterstattung und eine stärkere Aufsicht über Exilanten ermöglichte, 1829 aber wieder aufgehoben wurde. (Quelle)

3. Verankerung der Pressefreiheit in den Kantonen
1829 Luzerner Pressegesetz / Die Affäre um das Bankhaus Finsler in Zürich und die Pressefreiheit /



4. Neugründungen von Zeitungen
Das erste unitarisch-liberale Blatt der Schweiz war Heinrich Zschokkes "Der aufrichtige und wohlerfahrene Schweizerbote" der 1798-1800 in Luzern, ab 1804 in Aarau erschien (bis 1878).
1821, aus der aus der "Montagszeitung" 1780 hervorgegangenen"Zürcher Zeitung" wird die "Neue Zürcher Zeitung", liberal (Zürich, Paul Usteri)
1828, "Appenzeller Zeitung", liberal (Herisau)
1828, "Schweizer Beobachter" liberal
26. November 1830, "Der Schweizerische Republikaner" (der schon von 1798 - 1803 von Paul Usteri herausgegeben wurde), liberal (Zürich, Gessner)
1. Januar 1831 Solothurner Blatt liberal
1831, "Basler Zeitung", konservativ
Juli 1831 - Dez. 1832, "Berner Zeitung", liberal
1832, "Schweizerische Kirchenzeitung", kath. konservativ
1840, "Der Freiämter", kath. konservativ
1842, "Die Stimme von der Limmat", kath. konservativ (Johann Nepomuk Schleuniger)
1845-94, "Berner Zeitung", radikal-liberal (Jakob Stämpfli)


5. Volkstage als Katalysatoren liberaler Verfasssungen
Kanton / Ort / Datum / Führende Politiker
Luzern / Surental / 1. – 15. November / Paul Ignaz Vital Troxler
Thurgau / Weinfelden / 22.10.1830 / Thomas Bornhauser
/ Weinfelden / 18.11.1830
Aargau / Wohlenschwil / 7.11.1830 / Karl Rudolf Tanner, Johann Martin Geissmann (*)
Luzern / Sursee / 21.11.1830 / Josef Leu von Ebersol, Jakob Robert Steiger
Zürich / Uster / 22.11.1830 / Heinrich Gujer, Johannes Hegetschweiler, Johann Jakob Steffan (*)
St. Gallen / Wattwil / 4.12.1830 / Ignaz Bernet (*)
/ Altstätten / 5.12.1830 / Joseph Eichmüller (*), Gallus Jakob Baumgartner
/ St. Gallenkappel / 10.12. 1830 / Lorenz A. Raymann, Johann Josef Kägi (*), Franz Josef Ricklin (*)
Solothurn / Balsthal / 22.12.1830 / Josef Munzinger, Johann Baptist Reinert
Bern / Münsingen / 10.1.1831 / Karl Schnell, Johann Schnell

6. Ausgearbeitete liberale Verfassungen:

23. Dezember 1829 / „Neu umschriebene Verfassung im Kanton Luzern (1814)“
29. Dezember 1830 / Verfassung des Kantons Solothurn
30. Januar 1831 / Verfassung des Kantons Luzern
1. März 1831 / Verfassung des Kantons St. Gallen
10. März 1831 / Verfassung des Kantons Zürich
26. April 1831 / Verfassung des Kantons Thurgau
6. Mai 1831 / Verfassung des Kantons Aargau
31. Juli 1831 / Verfassung des Kantons Bern
27. April 1832 / Verfassung des Halb-Kantons Basel-Land

Web-Site mit weiteren Verfassungen 1776 - 1847

7. Erregung der Öffentlichkeit in den Abstimmungskämpfen

Jakob Baumgartner in seiner Geschichte (Bd. I, 1853, S. 116) zum Verfassungswahlkampf 1831 in Luzern:

"Das Volk, zum ersten Mal zu dem hochwichtigen Souveränetätsakte berufen, wurde mit schriftlicher und mündlicher, geistlicher und weltlicher Rathgebung, mit Versammlungen, Reden in Kirchen und Schenken, wahren und lügenhaften Darstellungen gequält und unterhalten zugleich."
8. Innereidgenössische Frontenbildung

Am 17. März 1832 kommt es zur Unterzeichnung des "Siebnerkonkordates" durch die liberal-regenerierten Stände: Kt. Luzern, Zürich, Bern, Solothurn, St. Gallen, Aargau und Thurgau.

Die provisorische Teilung des Kantons Basel in zwei Hälften durch den Tagsatzungsbeschluss vom 14. September 1832 führte zur Gründung des Sarnerbundes am 14./15. November 1832 in Sarnen: Ob- und Nidwalden, Uri, Schwyz (ohne Ausserschwyz), Neuchatel und Basel (Wallis nahm an den Beratungen teil, trat aber nicht bei). Man beschloss an keiner Tagsatzung mehr Teilzunehmen, an der auch Abgeordnete von Basel-Land und Ausserschwyz eingeladen seien. Als es im März 1833 dazu kam, traf sich der Sarnerbund in Schwyz eine Gegentagsatzung durch, desgleichen im Juli 1833.




Karte der Verfassungsituation 1833 in der Eidgenossenschaft

Montag, 8. November 2010

Zürchs Vermächtnis an die Weltgeschichte

Zur Reformationsgeschichtsschreibung Heinrich Bullingers


Zwei Dutzend Zuhörer hatte Christian Moser anlässlich der zweiten „Bullinger-Wurst“ am Freitag vor dem Reformationssonntag im Oekumenischen Zentrum Wolfhausen (Gde. Bubikon). Vom weltbesten Kenner war Interessantes zur gründlichen Arbeitsweise und heimlichen Wirkung eines der wichtigsten Historikers der Schweiz zu erfahren.

Moser, Oberassistent am Institut für Reformationsgeschichte, gab einen kurzen Abriss von Heinrich Bullingers Leben und beschrieb dessen Machtfülle als „an Zwingli Statt“ berufener Antistes (1531 – 1575, „Vorsteher“) der Zürcher Kirche. Er war nicht nur Kirchenratspräsident, sondern auch Leiter der „Hohen Schule“, Grossmünsterpfarrer, Schulherr (Bildungsdirektor) und nach Calvins Tod (1564) „Vater der reformierten Kirche“. Moser erläuterte die Bedeutung der „Reformationsgeschichtsschreibung“ Bullingers als Beginn seines historischen Spätwerks. Nach dem Tode seiner Gattin, Anna Adlischwyler (1564), nach Abschluss des Tridentinischen Konzils und nach Abfassung des „Zweiten Helvetischen Bekenntnisses“ (1566), setzte er sich hin um das Wirken Zwinglis von 1519 bis 1532, dem ersten Jahr von Bullingers Tätigkeit, möglichst genau und möglichst „unpartheyisch“ zu erzählen. Moser zeigte die theologischen Prämissen zur Historiographie Bullingers auf: Seine Endzeiterwartung, das Studium der Apokalypse, des Buch Daniels und der Glaube, dass sich Gott in der Geschichte äussere und darum die präzise, möglichst quellennahe, objektive Schilderung der Ereignisses genüge, ohne die heilsgeschichtliche Deutung der Ereignisse mitzuliefern. So wurde er zum „modernen“ Historiker vor der Aufklärung. Zur Vollform lief der Referent auf, als er die These seiner preisgekrönten Dissertation „Von der Dignität des Ereignisses“ darlegte. Auf grosses Interess stiessen auch die Ausführungen zur Überlieferungsgeschichte des vierbändigen Werkes, das bis ins 18. Jahrhundert über 200 Mal im Zürichbiet von Hand kopiert wurde und als Quelle aller bedeutenden Historiker der Schweiz bis ins 19. Jahrhundert diente. Moser ergriff die Gelegenheit, in der „gelehrten Kirchgemeinde Bubikon“ für den 1897 gegründeten Zwingli-Verein Werbung zu machen, welcher die internationale Forschung zur Reformation begleitet. http://www.zwingliverein.ch/