Giorgio Girardet
Seit das Stimmvolk den Anhängern des Propheten Mohammeds in der Eidgenossenschaft verboten hat, weitere Moscheen mit Minaretten zu schmücken, hat sich ein tiefer Graben geöffnet. Auf der einen Seite die Intellektuellen: Professoren, Politiker, Schriftsteller, Kulturschaffende, die sich im "Club Hélvetique" den Kopf darüber zerbrechen, wie sie dieser Sünde an der Vernunft wieder abhelfen könnten. Auf der anderen Seite die in der Minarettfrage siegreiche Blocher-Partei, die im Schützenhaus Albisgütli in Zürich alljährlich einen Gastredner zum Rededuell lädt.
Tiefer noch war in den 1830er-Jahren der Graben zwischen Konservativen und Liberalen, als Bürger mit der Büchse in der Hand Ratsherren wegputschten und Stand um Stand im metternichschen Staatenbund von 1815 zu liberaler Verfassung, Religions- und Pressefreiheit fand. Doch nur in Basel kam es zum Bruch: 1832 - just in jenem September, da der erste "Eidgenössische Dank-, Buss-, und Bettag" begangen wurde - blieb der Tagsatzung nichts anders übrig, als die Spaltung des Standes Basel in zwei Halbkantone zu sanktionieren. Die Liberalen Landleute wollten sich nicht länger von der patrizischen Pfaffheit die Leviten lesen lassen.
Kulturkanton. Der Bettag kam für das protestantische Basel zu spät. Seine Einführung erfolgte auf Antrag des Aargaus, jenes 1803 aus reformierten, katholischen und paritätischen Landstrichen zusammengeschusterten Gebildes, das nur durch republikanischen Gemeinsinn zu einen war. "Kulturkanton" wurde er aufgrund der geistigen Ausstrahlung seiner damaligen Staatsmänner genannt. Mit dem Bettagsmandat bemächtigten sich die Liberalen des Mediums der Konservativen: des sonntäglichen Pfaffenworts.
Indem in der ganzen Eidgenossenschaft am gleichen Sonntag gebetet wurd, entstand ein mächtiger Erinngerungsort, der Konservative und Liberalen wider den säkularen Zeitgeist an die Busstraditionen des Volkes Israel knüpfte. Der Gemeindepfarrer, ob nun geweihter Priester oder protestantischer "Prophet", wurde zum Medium einer theologischen Gardinenpredigt der Obrigkeit, die jene Werthaltungen und jenen Gemeinsinn stärkt, von denen der moderne Staat lebt, ohne sie selber herstellen zu können.
Föderalismus. So spiegeln seit 1832 Gebetsformeln, Bettagsmandate und Hirtenbriefe die konfessionelle Verfassung unseres föderalen Staatskunstwerks wider. Von 1862 bis 1872 schrieb der radikale Atheist Gottfried Keller die Bettagsmandate des Standes Zürich, und Jeremias Gotthelf musste als konservativer Pfarrer in Lützelflüh ab 1832 die Bettagsmandate seiner literarisch bekämpften liberalen Obrigkeit verlesen. 1886 beschlossen die Bischöfe, für die durch den 1848 siegreichen Freisinn gedemütigte katholische Schweiz einen Hirtenbrief mit einheitlicherFestordnung einzuführen. Dieses Jahr erläutert er am Exempel der Heiligen Mutter Theresa, die in Bosnien unter dem Ruf des Muezzins geboren wurde und durch die Pflege der Hindus in Indien ihre katholische Heiligkeit erwarb, wie Katholizismus im multireligiösen Umfeld gelingen kann. Und im konfessionell geteilten Kanton Glarus schreibt Landammann Dr. Marti zusammen mit Schreiber, Sekretär und Geistlichkeit ein gehaltvolles Bettagsmandat zum Thema "Verantwortung" für die Front des Amtsblattes.
So entstand über gemeinsame "spoken words" gemeiner Sinn - Gemeinsinn. Ein analoger Prozess ist auch im liberal-katholischen Luzern zu erhoffen, wo schon das zweite Jahr die Regierung vereint mit den drei öffentlich anerkannten christlichen Konfessionen und mit der islamischen Gemeinde Luzern einen gemeinsamen Bettagsaufruf formuliert.
Prophetenamt. Die Regierung Basel-Stadts dankt dieses Jahr "den Religionsgemeinschaften". Nicht nur für karitative Freiwilligenarbeit, sondern auch für die Kritik, welche sie an der Regierungstätigkeit üben sollen. Dieser Auftrag zum Wächteramt im Staat wurde von den Reformatoren ausdrücklich der Landeskirche zugewiesen und als Prophetenamt bezeichnet. Im Basler Münster wird am Bettag der Zürcher Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist die auf die Bergpredigt folgenden Worte zu den "falschen Propheten" (Mtth. 7, 15ff.) auslegen. Gerade jene "Kulturschaffenden", die sich in jüngster Zeit vor dem Gegenwind aus dem Albisgüetli unter die Rockschösse des Präsidenten der Eidgenössischen Antirassismus-Kommission flüchten, hätten Gelegenheit, den Worten eines ordinierten "Kollegen" die Ehre zu erweisen.
Denn: trauten nicht schon 1832 die liberalen "Pfaffenfresser" des Kulturkantons der Pfaffenstimme mehr als ihrem in der Pressefreiheit gedrucktem Vernunftlärm?
Erschienen in der "Basler Zeitung" vom 18. September 2010. Sie wollen solche Texte (die online nicht erhältlich sind) in Zukunft in der Print-Premiere geniessen? Abonnieren Sie hier.
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