Mittwoch, 16. Juni 2010

Der "Volks- und Hauskreis" ist da!




Der Basler Historiker Georg Kreis schliesst mit seinem Buch eine Lücke in der Literatur zur historischen Landeskunde.


Um die Deutungshoheit in der Willensnation wird wieder eifrig gestritten. «Henri Guisan» wurde zum 50. Todestag erneut aufpoliert, «Heidi» triumphiert als Milchproduktelabel und Tourismusregion. Das «Bankgeheimnis» droht uns wieder ein «Marignano» mit der Schwesterrepublik (den USA) zu bescheren und noch immer fühlen wir den Phantomschmerz der «Swissair». Wenn uns nicht bald ein «Wilhelm Tell», ein «Arnold Winkelried» oder ein «Niklaus von der Flüe» beispringt, bleibt uns nichts anderes, als in frommer Einmütigkeit das «Beresinalied» zu singen.


Erinnerungsorte. Das handliche und reich illustrierte Büchlein «Schweizer Erinnerungsorte: aus dem Speicher der Swissness» des Basler Emeritus Georg Kreis schliesst eine Lücke in der Literatur zur historischen Landeskunde. Denn seit die Unwägbarkeiten der Globalisierung mit dem Mauerfall und der Holocaust-Debatte über uns hereinbrachen, antwortete zwar eine Heerschar von Journalisten und Publizisten auf das Bedürfnis nach nationaler Selbstvergewisserung oder eben dem Inbegriff dessen, was dem anglofonen Investor als «swissness» entgegentritt. Eine helvetische Version des französischen Haute-Couture-Modells «lieux de mémoire» fehlte jedoch noch. Andere europäische Nationen hatten das Konzept « Erinnerungsorte» («lieux de mémoire»), das der Franzose Pierre Nora 1984 lancierte, längst in Sammelbänden ihren Vaterländern auf den Leib geschneidert.


Nutzwert. 2010 haben nun auch die beiden Nachzügler, die Noch-Schweiz und die Ex-DDR, je ein Buch über ihre « Erinnerungsorte» erhalten. 26 davon (der Zahl der Kantone folgend), von «Rütli» (1291) über «Chalet», «Rösti» und «Swatch» bis «Kaiseraugst» (1979–2005) hat Georg Kreis zusammengestellt. Er zeigt kenntnisreich, wie diese gut gewählten neuralgischen Kristallisationskerne nationalen Bewusstseins als symbolische Kampfplätze politischer Auseinandersetzungen, aber auch als Reizworte des Marketings in verschiedenen Epochen von unterschiedlichen «Usern» in Anspruch genommen wurden.
Er zeigt, wie Aussenwirkung und innenpolitische Verwertbarkeit das schillernde Bedeutungsfeld eines «Erinnerungsortes» ausmachen. In jedem Kapitel findet Georg Kreiseinen originären Ansatz, stellt Verbindungen her, welche überraschen: etwa die Abstammung des Soldatenmessers vom berüchtigten «Schweizerdolch». Andererseits folgt er in Nibelungentreue seinem eben verstorbenen Professorenkollegen Roger Sablonier in der kategorischen Ablehnung der Gründungsmythen: «Wilhelm Tell» wird absichtlich nicht im «Tellenlied» von 1477 vorgestellt, sondern erst als Hirngespinnst aufsässiger Bauern im 17. Jahrhundert. Und auf dem Rütli war auch ganz bestimmt nie nichts.


Anti-Blocher. Die Sache, die Kreis im Blick hat, ist das filigrane diskursive Gehäuse von Wirkungen, das sich um den mythischen Nukleus aufbaut. Den Kern selber stellt er – wenn nicht in der Tradition der «dissidenten Kulturschaffenden» stehend, so doch als deren Verbindungsoffizier zum Liberalismus fungierend – schier durchs Band infrage.
Ein Gräuel müssen ihm daher «liebe Miteidgenossen» sein, die – wie alt Bundesrat Blocher – sich ein «intaktes Verhältnis zur eigenen Geschichte» bewahrt haben. Welche in «nationalpädagogischer Absicht» unentwegt «Geschichte predigen». So ist Blocher der heimliche Held derKreis’schen «Erinnerungsorte», denn als politischer Power-User von Erinnerungsorten wird er in einigen Kapiteln als degoutantes Exempel angeführt.


Nachgeschmack. Der Geschichtslaie findet hier eine überraschende Fundgrube von Fakten und Zusammenhängen, der Geschichtsfreund findet zwei Essays zum Konzept «Erinnerungsort», der Nationalkonservative kann dem «Historiker aufs Maul schauen» und lernt, wie Kreis mit selektiver Wahrnehmung und rhetorischen Zwischentönen Stimmung erzeugen kann. So wird zwar die Rede Peter von Matts auf dem Rütli 2009 erwähnt, aber ihr unpassender Inhalt – von Matt lobte die Mythen als unverzichtbare Handlungsmuster einer Willensnation – werden dem Leser vorenthalten.
Da von Matt auch in die Phalanx der «Professoren gegen die SVP» gehört, verschweigt Kreis seine Wortmeldung. Eine Fussnote zur Rütli-Rede 2009 muss aber trotzdem sein: Inwiefern aber das dort erwähnte Buch «Die tintenblauen Eidgenossen» 2001 Peter von Matts Rütli-Rede 2009 erhellt, bleibt schleierhaft. Sollte es kein Versehen sein, so ists ein übler Rosstäuschertrick, der einem redlichen Gelehrten und der Debattenkultur der helvetischen Geistesrepublik kein gutes Zeugnis ausstellt.


> GeorgKreis: «SchweizerErinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness». Verlag NZZ Libro 2010, 352 S., Fr. 44.–.


Erschienen in der "Basler Zeitung", vom 15. Juni 2010 im Kulturteil

2 Kommentare:

uertner hat gesagt…

Leserbrief in der "Basler Zeitung", 19. Juni 2010
Entdeckungslustig und etwas polemisch

Schillerndes Bedeutungsfeld/ «Erinnerungsorte»; BaZ 15. 6. 10

Die Besprechung des Buches von Georg Kreis hinterlässt Fragen. Neben dem Gewinn, den das Buch dem «Geschichtsfreund» biete, lehre es den «Nationalkonservativen», «wie Kreis mit selektiver Wahrnehmung und rhetorischen Zwischentönen Stimmung» erzeugen könne. Dazu wird behauptet, Kreis erwähne Peter von Matts Rütli-Rede von 2009, spare aber deren Inhalt aus, weil sie ihm nicht ins Konzept passe. In seiner Rede wies von Matt damals daraufhin, dass der Mythos Rütli (wie die Wirklichkeit des donnernden Gotthardtunnels) seine Bedeutung über die Frage «Mythos oder Wahrheit?» hinaus habe. Nichts anderes passiert in Georg Kreis’ Buch. «Erinnerungsorte» demontiert und zementiert keine Mythen, sondern erzählt die Geschichten zur Geschichte: entdeckungslustig und etwas polemisch gegen selbsternannte Heimatschützer.

Guy Krneta , Basel

uertner hat gesagt…

Nun, wie sehr Georg Kreis mit Kritik Mühe hat, zeigt seine geharnischte Reaktion auf meinen Bettagsbeitrag in der "Basler Zeitung", in dem ich unter "spoken words" den wackeren Guy Krneta wecken wollte:

http://willensnation.blogspot.com/2010/12/dieser-autor-hat-muhe-mit-der-vernunft.html

Guy Krneta und Georg Kreis schützen und schirmen einander durch dick und dünn.