Kanzel-Geschichten (1) – Pfarrerin Käthi La Roche predigt dort, wo die Zürcher Reformation begann: im Grossmünster. Die Kanzel von Reformator Huldrych Zwingli steht zwar nicht mehr, aber dessen Predigt-Tradition setzt La Roche fort.
Von Giorgio Girardet*
«Zu Beginn hat es mich etwas eingeschüchtert, am Ort, wo Zwingli wirkte, zu predigen», sagt Pfarrerin Käthi La Roche. Auch heute noch flösst ihr der Kirchenraum Respekt ein: «Hier wurde seit Jahrhunderten jeden Sonntag gepredigt, ganze Generationen haben ihre Kinder getauft und ihre Toten beweint.»
Geschichtsträchtig
Käthi La Roche predigt Sonntag für Sonntag an einem geschichtsträchtigen Ort: Von der Grossmünsterkanzel hat Huldrych Zwingli am 1. Januar 1519 in Zürich die Reformation eingeläutet: Er verkündete, er werde fortan nicht mehr der bisher verbindlichen liturgischen Ordnung des katholischen Kirchenjahres, den Perikopen, folgen, sondern seiner Gemeinde in mehreren Predigten das ganze Matthäus-Evangelium auslegen. Damit führte er die «lectio continua» ein, wie diese Art zu predigen in der theologischen Fachsprache heisst.
Allerdings: Die Kanzel, die Käthi La Roche am Sonntag besteigt, ist nicht die Kanzel, auf der Reformator Zwingli vor knapp fünfhundert Jahren predigte. Zwar ist sie, wie es zur Zeit Zwinglis üblich war, in gotischen Formen gehalten. Tatsächlich aber ist die heutige Grossmünsterkanzel der letzte Überrest der Umgestaltung des Grossmünsters im neugotischen Stil aus dem Jahr 1853.
Opfer des Bildersturms
Oft überleben Kanzeln den Umbau von Kirchenräumen. Doch ausgerechnet die Kanzel, auf der in Zürich die Reformation begann, fiel der Reformation zum Opfer: Das aufgebrachte Volk zerstörte sie 1524. Im Bildersturm wurden alle Altarbilder, Schnitzereien und Bilder aus den Kirchen getragen und vernichtet. Man weiss deshalb heute nicht mehr genau, wo die Kanzel des Reformators ursprünglich gestanden hat. Der Kunsthistoriker Daniel Gutscher vermutet, dass sie sich, wie auch in anderen Kirchen üblich, gegenüber der Orgel vor einem der östlichen Pfeiler des Mittelsschiffs befand.
Erst zwei Jahre nach dem Bildersturm wurde im Grossmünster eine neue Kanzel errichtet. Sie entsprach der «neuen Lehre» der Reformation: Die katholische Messe galt als überwunden, und neu stand das Wort im Zentrum des reformierten Gottesdienstes. Dieses Programm wurde auch architektonisch umgesetzt: Die Kanzel als Ort der Verkündigung rückte in den Mittelpunkt des Kirchenraumes. Sie ersetzte den Altar, der das Zentrum der katholischen Messe gewesen war.
Um diesen Wandel symbolisch zu untermauern, wurden aus allen Kirchen Zürichs die Altarsteine entfernt und für den Bau eines Lettners verwendet, einer Trennmauer zwischen Chor und Hauptschiff des Grossmünsters. Auf dem Lettner wurde daraufhin ein Balkon mit einer Kanzel errichtet. Diese Lettnerkanzel bestieg im Jahr 1531 Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, nachdem der Reformator in der Schlacht von Kappel sein Leben gelassen hatte. 1853 wurde sie entfernt und durch die heutige, neugotische Kanzel ersetzt.
Erbe bewahren
Bullinger setzte die von Zwingli eingeführte «lectio continua» fort. In den ersten zwölf Jahren seiner Predigttätigkeit – er predigte fast jeden Tag – behandelte er die ganze Bibel von Anfang bis Ende. Diesem Erbe ist Pfarrerin Käthi La Roche noch heute verpflichtet. Zusammen mit ihrem Amtskollegen Christoph Sigrist wählt sie abwechselnd ein Buch des Alten und des Neuen Testaments aus und gestaltet darüber eine Folge von Predigten. «Ich kann nicht auf die Kanzel steigen, ein Gedicht aufsagen und dann darüber improvisieren», grenzt sich Käthi La Roche gegen neuere Predigtstile ab. «Wir haben hier ein reformatorisches Erbe zu bewahren, diese Kirche muss ein klares Profil haben. Das heisst für mich auch Treue zur Wortauslegung.»
* Giorgio Girardet, Historiker, hat die Serie «Kanzel-Geschichten» für den «Kirchenboten» konzipiert.
Kanzel-Geschichten
Längst nicht mehr alle Pfarrerinnen und Pfarrer steigen zum Predigen auf die Kanzel. Früher war das anders. Die Serie porträtiert sechs Kanzeln im Kanton: Was haben sie für eine Geschichte, und wie gehen Pfarrerinnen und Pfarrer heute mit ihnen um?
Erstveröffentlichung im "Kirchenboten für den Kanton Zürich" Ausgabe 20, 18. Oktober 2006
Von Giorgio Girardet*
«Zu Beginn hat es mich etwas eingeschüchtert, am Ort, wo Zwingli wirkte, zu predigen», sagt Pfarrerin Käthi La Roche. Auch heute noch flösst ihr der Kirchenraum Respekt ein: «Hier wurde seit Jahrhunderten jeden Sonntag gepredigt, ganze Generationen haben ihre Kinder getauft und ihre Toten beweint.»
Geschichtsträchtig
Käthi La Roche predigt Sonntag für Sonntag an einem geschichtsträchtigen Ort: Von der Grossmünsterkanzel hat Huldrych Zwingli am 1. Januar 1519 in Zürich die Reformation eingeläutet: Er verkündete, er werde fortan nicht mehr der bisher verbindlichen liturgischen Ordnung des katholischen Kirchenjahres, den Perikopen, folgen, sondern seiner Gemeinde in mehreren Predigten das ganze Matthäus-Evangelium auslegen. Damit führte er die «lectio continua» ein, wie diese Art zu predigen in der theologischen Fachsprache heisst.
Allerdings: Die Kanzel, die Käthi La Roche am Sonntag besteigt, ist nicht die Kanzel, auf der Reformator Zwingli vor knapp fünfhundert Jahren predigte. Zwar ist sie, wie es zur Zeit Zwinglis üblich war, in gotischen Formen gehalten. Tatsächlich aber ist die heutige Grossmünsterkanzel der letzte Überrest der Umgestaltung des Grossmünsters im neugotischen Stil aus dem Jahr 1853.
Opfer des Bildersturms
Oft überleben Kanzeln den Umbau von Kirchenräumen. Doch ausgerechnet die Kanzel, auf der in Zürich die Reformation begann, fiel der Reformation zum Opfer: Das aufgebrachte Volk zerstörte sie 1524. Im Bildersturm wurden alle Altarbilder, Schnitzereien und Bilder aus den Kirchen getragen und vernichtet. Man weiss deshalb heute nicht mehr genau, wo die Kanzel des Reformators ursprünglich gestanden hat. Der Kunsthistoriker Daniel Gutscher vermutet, dass sie sich, wie auch in anderen Kirchen üblich, gegenüber der Orgel vor einem der östlichen Pfeiler des Mittelsschiffs befand.
Erst zwei Jahre nach dem Bildersturm wurde im Grossmünster eine neue Kanzel errichtet. Sie entsprach der «neuen Lehre» der Reformation: Die katholische Messe galt als überwunden, und neu stand das Wort im Zentrum des reformierten Gottesdienstes. Dieses Programm wurde auch architektonisch umgesetzt: Die Kanzel als Ort der Verkündigung rückte in den Mittelpunkt des Kirchenraumes. Sie ersetzte den Altar, der das Zentrum der katholischen Messe gewesen war.
Um diesen Wandel symbolisch zu untermauern, wurden aus allen Kirchen Zürichs die Altarsteine entfernt und für den Bau eines Lettners verwendet, einer Trennmauer zwischen Chor und Hauptschiff des Grossmünsters. Auf dem Lettner wurde daraufhin ein Balkon mit einer Kanzel errichtet. Diese Lettnerkanzel bestieg im Jahr 1531 Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, nachdem der Reformator in der Schlacht von Kappel sein Leben gelassen hatte. 1853 wurde sie entfernt und durch die heutige, neugotische Kanzel ersetzt.
Erbe bewahren
Bullinger setzte die von Zwingli eingeführte «lectio continua» fort. In den ersten zwölf Jahren seiner Predigttätigkeit – er predigte fast jeden Tag – behandelte er die ganze Bibel von Anfang bis Ende. Diesem Erbe ist Pfarrerin Käthi La Roche noch heute verpflichtet. Zusammen mit ihrem Amtskollegen Christoph Sigrist wählt sie abwechselnd ein Buch des Alten und des Neuen Testaments aus und gestaltet darüber eine Folge von Predigten. «Ich kann nicht auf die Kanzel steigen, ein Gedicht aufsagen und dann darüber improvisieren», grenzt sich Käthi La Roche gegen neuere Predigtstile ab. «Wir haben hier ein reformatorisches Erbe zu bewahren, diese Kirche muss ein klares Profil haben. Das heisst für mich auch Treue zur Wortauslegung.»
* Giorgio Girardet, Historiker, hat die Serie «Kanzel-Geschichten» für den «Kirchenboten» konzipiert.
Kanzel-Geschichten
Längst nicht mehr alle Pfarrerinnen und Pfarrer steigen zum Predigen auf die Kanzel. Früher war das anders. Die Serie porträtiert sechs Kanzeln im Kanton: Was haben sie für eine Geschichte, und wie gehen Pfarrerinnen und Pfarrer heute mit ihnen um?
Erstveröffentlichung im "Kirchenboten für den Kanton Zürich" Ausgabe 20, 18. Oktober 2006
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