Montag, 19. März 2012

«Harmonie ohne Klang»?

Die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer stellen sich am Wochenende der Volkswahl

Alle vier Jahre müssen sich die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer im Kanton Zürich der Wiederwahl stellen. Das neue Kirchengesetz hat ihre Amtszeit reduziert, um die Einbindung der Kirche in die demokratischen Strukturen zu betonen.

Giorgio Girardet

Das erste Mal seit der Einführung der neuen Kirchenordnung werden an diesem Wochenende im ganzen Kanton Zürich die Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Kirchgemeinden an der Urne auf Vorschlag der Kirchenpflegen bestätigt – oder allenfalls nicht mehr wiedergewählt. Die Amtsdauer von neu vier Jahren ist die logische Folge des 1967 eingeführten Zuordnungsmodells in der Gemeindeleitung – der Organisationsform also, in der Pfarrer und Kirchenpflege Entscheide in einem fairen, respektvollen Meinungsbildungsprozess gemeinsam fällen müssen.Wie eine Umfrage unter den Dekanen zeigt – sie vertreten die Pfarrkapitel gegenüber den Bezirks-Kirchenpflegen und dem Kirchenrat –, sind die verkürzte Amtsdauer und die zusätzlichen Kosten der häufigeren Wahl nach wie vor Gesprächsthema in der Pfarrerschaft.


Wahlen nach neuer Regelung
Erstmals können sich an dieser Bestätigungswahl alle Reformierten beteiligen, die über 16 Jahre alt sind, auch die ausländischen Kirchenmitglieder – eine Regelung der neuen Kantonsverfassung, welche die Gemüter einiger bürgerlicher Politiker erhitzte, weil damit das Ausländerstimmrecht zumindest im Kirchenvolk verankert wurde. Mit der neuen Kirchenordnung findet das Zuordnungsmodell
nun – analog zu den Mid-Term-Wahlen in den USA – im Wahlrecht seinen sichtbaren Niederschlag. Wurden 2010 die Kirchenpflegen mit der üblichen Legislatur von vier Jahren nach der neuen Kirchenordnung bestellt, ist es nun – zwei Jahre später – am Kirchenvolk, die Pfarrer entsprechend den Empfehlungen der Kirchenpflegen zu bestätigen. Aber die Analogie zu den Mid-Term-Wahlen ist trügerisch. Während der Präsident der USA mit einem Veto alle Beschlüsse der Legislative stoppen kann, nimmt der Pfarrer nur mit beratender Stimme und Antragsrecht an den Sitzungen der Kirchenpflege teil. Das Zuordnungsmodell bleibt deshalb in der Pfarrerschaft umstritten. Es sei ein Schönwettermodell, das in Konfliktsituationen keiner Seite erlaube, den «Karren aus dem Dreck zu ziehen», wird oft kritisiert.  


Antiautoritäres Erbe

Der Abbau der einstigen Machtstellung des auf Lebenszeit gewählten Gemeindepfarrers vollzog sich Ende der sechziger Jahre im Gleichschritt mit der Entzauberung der Volksschullehrer und der «Götter inWeiss». Hatte der Gemeindepfarrer vor 1869 eine Stellung, wie sie heute nur noch Universitätsprofessoren geniessen, wurde er durch die Idee der demokratischen «Volkskirche» den Lehrern gleichgeordnet. Diese verloren mit dem neuen Volksschulgesetz sowohl die Volkswahl wie den Beamtenstatus. Indem die Pfarrwahlen einem in die Behördenwahlen eingepassten Vierjahresrhythmus unterworfen werden, gleichen sich die Pfarrer in der Wahrnehmung des Wahlvolks den Politikern an, die sich alle vier Jahre an der Urne einem «Rating» stellen müssen. Was man im Fall der Lehrer wegen der Möglichkeit einer Abwahl als unwürdig empfand und im neuen Schulgesetz abschaffte, wurde nun für die Pfarrerinnen und Pfarrer als sinnvoll beurteilt und eingeführt. Mit dem partnerschaftlichen Modell in der Gemeindeleitung wurde bei den Zürcher Reformierten eine Organisationsform eingeführt, die der damalige Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer 1973 beim 450-Jahre-Jubiläum der Zürcher Disputation als «Harmonie ohne Klang» kritisierte. Die Befürworter der neuen Regelung argumentierten damit, die Wahl gebe den Kirchenmitgliedern eine Möglichkeit, sich zu beteiligen.
Wüste Abwahlschlachten seien bei der verkürzten Amtsdauer nicht zu erwarten. Anderseits werde das Pfarramt durch dieWahl in kürzeren Abständen wahrnehmbarer.


Abwahlen unwahrscheinlich
Die Abwahl des von der Kirchenpflege empfohlenen Pfarrers wird nur in Rafz von einer Gruppierung angestrebt. Solche Bestrebungen kamen auch schon unter der alten Ordnung vor, wie Nicolas Mori, Mediensprecher der Landeskirche, bestätigt. In 5 bis 6 der 179 Kirchgemeinden im Kanton Zürich kam
es jeweils zu strittigenWahlen, die allerdings nur in 1 bis 2 Fällen eine Abwahl zur Folge hatten. Es zeigte sich immer, dass gewichtige Gruppierungen unzufrieden sein müssen, damit eine Abwahl
oder nur schon ein knapper Wahlausgang zustande kommt.
Allgemein werde die Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer geschätzt, so die Dekane. Darum sei auch mit einer höheren Stimmbeteiligung zu rechnen als bei den Wahlen ins Kirchenparlament, die Synode. Diese sind vor einem Jahr bei einer Beteiligung von unter 30 Prozent sehr geräuschlos verlaufen, obwohl es in einzelnen Bezirken zu Kampfwahlen kam. Ob sich der Vierjahresrhythmus in der Pfarrwahl bewähren wird, lassen die Dekane offen. Immerhin äussern sie eine gewisse Skepsis. Möglicherweise werde diese Regelung durch die gesellschaftlichen Veränderungen ohnehin bald überholt.
Tatsächlich muss sich die Kirche fragen, ob sie durch Bestätigungswahlen im fast schon «sowjetischen Stil» nicht eher eine Karikatur der Demokratie liefert, als dass sie einen Beitrag dazu leisten
würde, dass sich die Pfarrerinnen und Pfarrer wieder vermehrt profilieren – das heisst, dass sie auch einmal ein unbequemes Wort wagen und sich nicht nur unter Vermeidung von Fettnäpfchen
im geschmeidigen Pas de deux mit der Kirchenpflege von Wiederwahl zu Wiederwahl hangeln.

Erschienen in der "Neuen Zürcher Zeitung" Nr. 58 vom 9. März 2012, Seite 20






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