Dienstag, 25. Januar 2011

Gnadenglanz

Susanne Schwagers "Ida" erkundet die Wertewelt des schweizerischen Katholizismus

Giorgio Girardet

Mit der Lebensbeichte ihres antiklerikalen Grossvaters machte sie 2004 den Metzger Hans Meister zum heimlichen Star der Schweizer Literatur. In «Ida» jetzt widmet sie sich ihrer katholischen Grossmutter und vollendet – nach «Die Frau des Metzgers» – die Trilogie ihrer Familienaufstellung.

Was wissen wir Aufgeklärten noch vom abgrundtiefen Glauben? Wir, die wir um das Linsengericht eines Castings im Bikini das Himmelreich verspielen?

Dass es absolute Werte geben muss, ahnte Susanna Schwager in der modrig-kampfgeschwängerten Wohnung ihrer Grossmutter Ida, einem Kirchenlicht in katholisch Örlikon. Deren Küsse wurden der Enkelin zum Wegweiser in die schroffe Gottseligkeit des vorkonziliarischen Katholizismus des «Heiligen Strichs» um Bichelsee nahe dem Kloster Fischingen, wo der bärtige Seelenhirte Evangelist Traber über die Jungfrauenkongregation wachte und die unberührten Bräute Klöstern oder frommen Katholiken zur Christenzucht zuführte.

Ida aber musste Johannes, den Hilfsförster, nehmen und ihn an ihr im falschgläubigen Örlikon ein paarmal seine Mannespflicht vollziehen lassen. Ein Leben mit vielen Kindern und wenig Brot.

Schreibarbeit. Anders als in ihrem Werk «Fleisch und Blut», wo Susanna Schwager des Grossvaters sprudelnde Lebensbeichte gestalten durfte, und anders auch als bei der «Frau des Metzgers», wo sie das familiäre Raunen über den Inzest zu einem vielstimmigen Chor montieren konnte, musste Susanna Schwager die Glaubenswelt der Grossmutter Ida aus Brevieren, frommen Traktaten, Nachrufen und Predigtnotizen der Beichtväter und aus Verwandtenbriefen rekonstruieren.

In gewohnt musikalischer Sprache gelingt es Schwager, gefundene und erfundene Motive fugenhaft zu einem dichten Text zu weben. Und so legt man dieses Buch nicht aus den Händen, bis die letzte Zeile verklungen ist und man den Weihrauchduft von «säbi zyt» durch Leben, Wirken und Sterben der Ida erschnuppert hat.

Man wünschte sich die Trilogie in Leinen und Fadenheftung bei einem renommierten Literaturverlag. Sie gehört neben Charles Lewinskys «Melnitz», neben Alex Capus Erzählwerk und Walter Kempowskis «Heile Welt» in die Epoche des post-ideologischen, humanistischen Realismus. Die grosse Resonanz, die Susanna Schwager mit ihrem Schreiben findet, macht sie den Gralshütern des Feuilletons suspekt. Ihre Beliebtheit erklärt sich aus dem Geheimnis ihrer Kunst, so etwas wie den Gnadenglanz Gottes in ihrer dichten Erzählung aufscheinen zu lassen. In der lichten Würdigung dessen, was war, wird Literatur zur verborgenen Theologie. Hierin gleicht sie Gotthelf und dem «kitschigen» malenden Theologen Albert Anker.

Obwohl sie sich «unreligiös» nennt, endet ihr barockes Figurengedicht auf dem Frontispiz zur «Ida» mit der Zeile «wo Gott hockt». Und diese Gottsuche ist nicht nur Schwagers Geschäft, es ist jenes der Dichtkunst.

> Susanna Schwager: «Ida». Wörterseh Verlag, Gockhausen 2011. 216 S., ca. Fr. 33.–.

Erschien in der "Basler Zeitung" vom 21. Januar 2011 in "Kultur". Abonnements hier.

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