Donnerstag, 10. September 2009

Bettagsmandat 1862 (abgelehnt) von Gottfried Keller


Gottfried Keller, seit 1861 Staatsschreiber des Kantons Zürich, verfasste als Atheist - ein vom der Kantonsregierung abgelehntes - Bettagsmandat für das Jahr 1862. Damals war die Emanzipation der Juden aktuell.

"Mitbürger! Wir heißen auch heute die Pflicht willkommen, welche uns auferlegt, beim Herannahen des eidgenössischen Bettages ein getreuliches Wort an Euch zu richten. Als die Eidgenossen diesen Tag einsetzten, taten sie es wohl nicht in der Meinung, einen Gott anzurufen, der sie vor andern Völkern begünstigen und in Recht und Unrecht, in Weisheit und Torheit beschützen solle; und wenn sie auch, wo er es dennoch getan, in erkenntnisreicher Demut für die gewaltete Gnade dankten, so machten sie um so mehr diesen Tag zu ihrem Gewissenstag, an welchem sie das Einzelne und Vergängliche dem Unendlichen und ihr Gewissen, das in allen weltlichen Verhandlungen so oft durch Rücksichten des nächsten Bedürfnisses, der scheinbaren Zweckmäßigkeit, der Parteiklugheit befangen und getäuscht wird, dem Ewigen und Unbestechlichen gegenüberstellen wollten.
Mitbürger! Wenn in ernster Feierstunde sich jeder von Euch fragen wird: Welches ist mein innerer und sittlicher Wert als einzelner Mann, welches ist der Wert der Familie, welcher ich vorstehe? so stellt er sich diese Fragen, zum Unterschied von den übrigen Festtagen unserer Kirche, vorzugsweise mit Beziehung auf das Vaterland und fragt sich: Habe ich mich und mein Haus so geführt, daß ich imstande bin, dem Ganzen zum Nutzen und zur bescheidenen Zierde zu gereichen, und zwar nicht in den Augen der unwissenden Welt, sondern in den Augen des höchsten Richters? Und wenn sodann alle zusammen sich fragen. Wie stehen wir heute da als Volk vor den Völkern und wie haben wir das Gut verwaltet, das uns gegeben wurde? so dürfen wir nicht mit eitlem Selbstruhm vor den Herrn aller Völker treten, der alles Unzureichende durchschaut und das Glück von ehrlicher Mühewaltung, das Wesen vom Schein zu unterscheiden versteht.
Zwar ist unserm Volke neulich Ehre geworden bei edlen und großen Völkern, welche das zu erringen trachten, was wir besitzen, und unsere Absendlinge als Beispiele und Lehrer in den Hantierungen nationalen Lebens gepriesen haben, und erleuchtete Staatsgelehrte weisen schon allerwärts auf unsere Einrichtungen und Gebräuche als auf ein Vorbild hin. Aber wenn auch, wie einer unserer Redner am frohen Volksfeste es aussprach, der große Baumeister der Geschichte in unserem Bundesstaate nicht sowohl ein vollgültiges Muster als einen Versuch im kleinen, gleichsam ein kleines Baumodell aufgestellt hat, so kann derselbe Meister das Modell wieder zerschlagen, sobald es ihm nicht mehr gefällt, sobald es seinem großen Plane nicht entspricht.
Und es würde ihm nicht mehr entsprechen von der Stunde an, da wir nicht mehr mit männlichem Ernste vorwärts streben, unerprobte Entschlüsse schon für Taten halten und für jede mühelose Kraftäußerung in Worten uns mit einem Freudenfeste belohnen wollten...
Was unsere kantonale Gesetzgebung betrifft, so dürfte es hier der Ort sein, eines kurzen aber vielleicht folgennahen Gesetzes zu erwähnen, welches seit dem letzten Bettage geschaffen wurde. Der von Euch erwählte Große Rat, liebe Mitbürger, hat mit einigen wenigen Paragraphen das seit Jahrtausenden geächtete Volk der Juden für unsern Kanton seiner alten Schranken entbunden, und wir haben keine Stimmen vernommen, die sich aus Eurer Mitte dagegen erhoben hätten. Ihr habt Euch dadurch selbst geehrt, und Ihr dürft mit diesem Gesetze, das ebensosehr von der Menschenliebe wie aus Gründen der äußern Politik endlich geboten war, am kommenden Bettage getrost vor den Gott der Liebe und der Versöhnung treten. An Euch wird es sodann sein, das geschriebene Gesetz zu einer fruchtbringenden lebendigen Wahrheit zu machen, indem Ihr den Entfremdeten und Verfolgten auch im gesellschaftlichen Verkehr freundlich entgegengehet und ihrem guten Willen, wo sie solchen zeigen, behilflich seid, ein neues bürgerliches Leben zu beginnen. Was der verjährten Verfolgung und Verachtung nicht gelang, wird der Liebe gelingen; die Starrheit dieses Volkes in Sitten und Anschauungen wird sich lösen, seine Schwächen werden sich in nützliche Fähigkeiten, seine mannigfaltigen Begabungen in Tugenden verwandeln, und Ihr werdet eines Tages das Land bereichert haben, anstatt es zu schädigen, wie blinder Verfolgungsgeist es wähnt...
Möge am 21. Herbstmonat unsere Landeskirche in ihren einfachen Räumen ein einfach frornmes, hell gesinntes Volk vereinen! Möge aber auch der nicht kirchlich gesinnte Bürger im Gebrauche seiner Gewissensfreiheit nicht in unruhiger Zerstreuung diesen Tag durchleben, sondern mit stiller Sammlung dem Vaterlande seine Achtung beweisen."


Aus Gottfried Kellers "Bettagsmandaten" 1862 - 1872
(nach der Ausgabe von R.Faesi; Zürich 1951)

Der Text der übrigen Bettagsmandate Gottfried Kellers kann hier als Text-Dokument eingesehen werden.

Adolf Muschg wurde 2009 von der Schweiz-Ausgabe der "Zeit" aufgefordert ein eigenes Bettagsmandat zu verfassen. In seinem Text "Selbstachtung 2009" denkt der Keller-Biograph über die Gründe der Ablehnung dieses Bettagsmandates nach und analysiert die "geistige Situation" der Schweiz. Die Kontroverse, die der Text in den Schweizer Medien auslöste, ist hier dokumentiert.

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