Sonntag, 8. Mai 2011

Vernunft und Religion: Bullingers Kategorien

Heinrich Bullinger, Lateinlehrer im Kloster Kappel, der 27jährig an die Spitze der Zürcher Landeskirche berufen wurde.


In der grossen Schar der nun allenorten herumlärmenden „Freidenker“ und „Humanisten“ besteht eine grosse Wut auf die institutionalisierte Kirche und die akademische Theologie. Kaum eine Figur ist geeigneter das Verhältnis von „Vernunft und Religion“ im reformierten Humanismus besser zu klären als der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger, der von 1531 bis zu seinem Tode 1575, 44 Jahre das Oberhaupt der Zwingli-Kirche, der heutigen reformierten Zürcher Landeskirche, war (unsere hier noch nicht publizierte Kurzvita). In seiner Studienanleitung „Studiorum Ratio“ (Hg. Von Peter Stotz. Heinrich Bullinger Werke: Studiorum Ratio – Studienanleitung. 1. Teilband: Text und Übersetzung. Zürich, 1987) gibt Heinrich Bullinger einen kategorialen Raster für den Studenten, an den er sich halten soll, um sich die Welt intellektuell anzueignen. Dieses kategoriale Raster belegt eindrücklich, wie die reformierte humanistische Theologie den Naturwissenschaften die "pole position" im Weltzugang einräumte (Physiko-Theologie). Hier die acht „ordnenden Gesichtspunkte“ nach denen der Student sich seinem Stoff zuwenden und wie er ihn gliedern soll:


1. Die stoffliche Welt
2. Die Zeit
3. Der Mensch
4. GOTT
und seine Verehrung

5. Die Obrigkeit
6. Künste, Wissenschaften und Fertigkeiten
7. Tugenden und Laster
8. Einige
Bezeichnungen allgemeiner Dinge


Bevor "Gott" ins Spiel kommt, hat sich der Student mit der Trias „Materie – Zeit- Mensch“ zu beschäftigen. Aber der Gotteserkenntnis nachgelagert sind Politik (5), Kultur und Wissenschaft (6), die Sittlichkeit (7) und die Philosophie (8).
Interessant ist nun, wie der Theologe Bullinger den Punkt 4 „GOTT“ in Unterkategorien ordnet.

Gottheit
Es gibt einen Gott/ es gibt keinen Gott; Vorsehung; Schicksal; Zufall; Vielzahl von Göttern; Verehrung der Götter; Spiele; Festtage; Kultfeiern zu Ehren der Götter; Gelübde und Weihegabe; Zehnten; Bittfeiern; Verehrung der Götter eingehalten/vernachlässigt; Bestrafung ihrer Verachtung; Tempel oder Heiligtümer; Bilder; Priester; Opferschauer; Orakel und ihre Sprüche; Vorzeichen; Wunder und Wunderzeichen; Träume; Prophezeiungen; Weissagung.

Auch hier scheint mir bemerkenswert, wie die Aufzählung mit den Schlüsselbegriffen der „Kontingenzbewältigung“ (vgl. Hermann Lübbe: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, 1998, in: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München, S. 35-47): Vorsehung, Schicksal, Zufall einsetzt. Der Kategorienreihe vorgeschaltet ist die Frage nach der Existenz Gottes. Was dann nach dem Punkt „Vielzahl von Göttern; Verehrung der Götter“ folgt, ist ein Kategorienraster, wie es auch moderne Religionswissenschaft und Ethnologie durchaus aufstellen könnte. Auffällig ist, wie die sehr „irrationalen“ Ausformungen der Religion: Opferschau ff. bis Weissagung, an das Ende der Kategorienliste geschoben werden. In Bullingers Kategorienlisten für Studenten ist das pragmatische „Vernunftdenken“ der Aufklärung schon präfiguriert. Die Kategorien Materie / Zeit stehen am Anfang seines Weltzuganges, gefolgt vom Menschen, das Wort „Gott“ wird als "Kontingenzformel" der religiösen Sinnfindung an den Anfang der politischen, wissenschaftlichen, moralischen und philosophischen Fragen gestellt.

Aus dem "Carolinum" wurde dann 1833 die moderne Universität Zürich nach humboldtschen Vorbild, die derzeit auch nach "Bologna" funktioniert.

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