Dienstag, 17. Mai 2011

Bettagsmandat, das (swissness: Girardets kleines Lexikon der Schweiz)





Vorbemerkung: Der untenstehende Text hat nach seiner (redaktionell gekürzten) Publikation in der "Basler Zeitung" im September 2005 und seiner Freischaltung in der ungekürzten Version auf meiner Domain www.uerte.ch einen grossen Erfolg im Netz gehabt. Im Frühjahr 2007 verlinkte eine wohl freikirchliche Gruppierung den Text prominent. Er wurde zum "google"-Nummer 1 hit für "Bettagsmandat". Nachdem er auf www.uerte.ch nicht mehr greifbar war, hat ihn Beat Weber, der Pfarrer von Linden, für den Bettag 2010 auf der Homepage seiner Kirche als pdf greifbar gemacht. Herzlichen Dank! Nun soll er hier, in der Willensnation, wieder prominent auffindbar sein!

"Ist er nun autofrei, der eidgenössische Bettag?", fragte mich Helvetia plötzlich am Dienstag. Morgen begehen wir zum 173. Mal den 1832 von der eidgenössischen Tagsatzung auf den 3. Septembersonntag gelegten eidgenössische Dank-, Buss-, und Bettag. Es ist der älteste nationale Feiertag unseres 157jährigen Bundesstaates und gleichzeitig ein ökumenischer "Hoher kirchlicher Feiertag" Ostern, Karfreitag, Pfingsten und Weihnachten gleichgestellt. Eine merkwürdige Verschränkung von Staat und Kirche erinnert uns an diesem Tag an Moses, der sein Volk vom Tanz um das goldene Kalb zur Annahme der zehn Gebote führte. Diese Umkehr des gottvergessenen Volkes, hin zu den Gesetzen Gottes ist das Grundmotiv des Bettages.
In der charismatischen Person Moses sind politische und priesterliche Macht noch nicht geschieden. Erst die Tat Moses, die erste Herstellung "Heiliger Schrift", der zehn Gebote, erlaubt uns Juden, Christen und Muslims zwischen weltlicher Herrschaft und geistlichem Heil zu unterscheiden. Seither sind Priesteramt und Herrscheramt geschieden. Der Staat sorgt an diesem Tag für grösstmögliche Ruhe, damit die bestellten Prediger und Priester aller Konfessionen die Gläubigen zu individueller Ein- und Umkehr begleiten. (2. Mose 31, 18)

Wann trat dieses Bedürfnis nach Umkehr im staatlichen Verband der Eidgenossenschaft auf? Wer schlüpfte jeweils in die Rolle Moses? Das erste schriftlich Überlieferte "Grosse Gebet der Eidgenossen" fällt ins Jahr 1517. Eine grosse Teuerung lastete auf der Eidgenossenschaft, die zwei Jahre zuvor in Marignano das "Grounding" ihrer Grossmachtpolitik erlebte. Im selben FettJahr schlug Luther seine Thesen an, die zur Reformation (>Abendmahlstreit) führten. Über Jahrhunderte dankten, büssten und beteten nun Katholiken und Reformierte an getrennten Tagen in frohem Wettstreit um das Heil der Eidgenossenschaft.

Erst als der Würgegriff der Französischen Revolution sich um die Herrschaft der "Gnädigen Herren" der Alten Eidgenossenschaft legte, beantragte Bern (>Bernergeist) auf der Tagsatzung von 1796, am 8. September, erstmals das Heil in einer gesamteidgenössische Festfeier zu suchen. Die Franzosen kamen trotzdem. Es waren dann die von den Franzosen befreiten Untertanen des Kantons Aargau, die, nachdem sie sich eine radikal-liberale Verfassung gegeben hatten, am 1. August 1832 der Tagsatzung beantragten, den jeweils 3. Septembersonntag als eidgenössischen Bettag zu begehen. So ist der heutige Bettag ein Zugeständnis des siegreichen radikalen Liberalismus an unverzichtbare Besinnung auf die biblische Tradition.

Seither werden in den Kantonen von Regierungen, Kirchenräten und Bischöfen Bettagsmandate und Hirtenbriefe formuliert. Den Neoliberalen, welche um das goldene Kalb der "unsichtbaren Hand des Marktes" tanzen, ist der Bettag als Mutter aller gesetzlichen Ruhetage ein Dorn im Auge. In Deutschland wurde zugunsten eines zusätzlichen Arbeitstages der an einem Novembermittwoch stattfindende Busstag denn auch abgeschafft. Auf den Bettag 2003 hat darum Georg Kohler, Zürcher Ordinarius für politische Philosophie, als säkularer Ausleger des hegelschen Weltgeistes in der NZZ erklärt, weshalb der Bettag und die dem rationalen "homo öconomicus" archaisch anmutenden Begriffe "danken", "büssen" und "beten" durchaus eine Berechtigung hätten und ein solcher Tag helfe "gut in der Welt zu sein und es eine Zeit lang zu bleiben".

Der Bettag als "Wohlfühl-Accessoire" für säkulare Gutmenschen? Den Kerngedanken des Zürcher Professors finden wir im Bettagsmandat 2004 der Liestaler Regierung wieder. So haben sich im Zuge des Säkularisationsprozesses, der von vielen Zeitgenossen als unabwendbarer und unumkehrbarer eigengesetzlicher historischer Prozess betrachtet wird (ähnlich der kommunistischen Weltrevolution, der Ankunft der Geschlechtergleichheit oder der Globalisierung), sich die weltlichen Obrigkeiten des geistlichen Predigtamtes im Bettagsmandat bemächtigt. Seit dem Jahr 2000 verschliesst die Zürcher Regierung nicht mehr Theater, Museen und Kinos an hohen kirchlichen Feiertagen (auch am Bettag nicht), seit dem Jahr 2000 formuliert die Basler Regierung ihre Bettagsmandate nicht mehr im Wechsel mit den Landeskirchen.

Doch die Stifter des Bettages hatten weder in Philosophie dilettierende Regierungsräte, noch marktschreierische Prediger mit Event-Marketing- Ausbildung im Auge, sondern eine in verschiedenen Konfessionen auf den Allmächtigen der Verfassung bezogene nationale Wertegemeinschaft, die sich einmal im Jahr dem mosaischen Psychodrama der Umkehr stellt, zu dem auch der Prophet Joel im Alten Testament sein von Heuschrecken geplagtes Volk aufruft: "Doch auch jetzt noch spricht der Herr, kehret um zu mir von ganzem Herzen, mit Fasten, Weinen und Klagen; zerreisset eure Herzen und nicht eure Kleider." (Joel, 2, 12-13) Das Solothurner Stimmvolk hat mit 70% eine vom Parlament gegen den Willen der Regierung beschlossene Schwächung des Bettags an den Urnen wuchtig verworfen und damit bewiesen, dass der Geist des Bettags allem Kleinmut der Kirchen und Feuilletton-Geschwätz zum trotz im Volk noch mächtig verwurzelt ist. "Aber autofrei ist er wohl trotzdem nicht", meinte Helvetia resigniert und versank in ehernes Schweigen.

Giorgio V. Girardet

Keine Kommentare: