Jean Tinguely, der Philosoph Jacob Burckhardt, 1988
Giorgio Girardet
Giorgio Girardet
Jacob Burckhardt gilt als Übervater der Kulturgeschichte. Kurt Meyer hat ihm jetzt ein erstaunlich knappes, aber umfassendes Buch gewidmet.
Jacob Burckhardt ziert die höchste Banknote der Eidgenossenschaft, Jean Tinguely hat dem «Philosophen Burckhardt» ein Denkmal gewidmet, die Biografie von Werner Kägi zählt sieben Bände, die kritische Werkausgabe ist auf deren 29 angelegt. Kurt Meyer ist es gelungen, auf nur 286 Seiten den Gulliver der deutschen Kulturgeschichtsschreibung erzählend zu bändigen und uns Lilliputanern fassbar zu machen.
Die Tiefe und Eindringlichkeit des Denkens Burckhardts erklärt Meyer aus den Amputationen, die der 1818 als viertes Kind in den exponiertesten Haushalt des Basler Daigs hineingeborene Jacob erfahren hat. Sein Vater ist als Antistes der Basler Kirche die höchste geistliche Autorität der restaurierten eidgenössischen Stadtrepublik. Früh verliert er seine Mutter, 1833 verliert die Vaterstadt ihr Hinterland.
Frauenverzicht. Burckhardt nimmt 1837 das Studium der Theologie auf, verliert aber 1839 den Glauben, sodass er mit väterlichem Segen zur Geschichte wechselt. In Bonn und Berlin hat er in Ranke, Grimm und Droysen grosse Lehrer. Unglück in der Liebe lässt ihn von einer Familiengründung absehen. Mancher Mann ist ein Genie geworden durch das Mädchen – das er nicht bekam, sagt Sören Kierkegaard.
In den Jahren 1844/45 berichtet er als Journalist über die Innerschweizer Unruhen und Freischarenzüge, an denen der junge Gottfried Keller begeistert teilnahm und die den reifen Jeremias Gotthelf mit Ekel erfüllten. Burckhardt teilt Letzteren: «Ihr im Reich draussen habt die Agitation immer nur erst in abstracto, ich aber habe ihr in das wüste versoffene Auge gesehen», schreibt er nach Deutschland.
Deutschrömer. Er ist ein Konservativer. Labt sich an den Kunstwerken Italiens, das ihm zum «Supplement» seines Wesens wird, füllt Skizzenbücher. Flieht vor «Brüllradikalismus» und den «Vorboten des sozialen jüngsten Tages» in die Sphären der ewigen Kunst. Während des Sonderbundskrieges 1847 weilt er in Rom, nimmt Mass für sein Werk. Der Deutschrömer aus Basel will Klassiker werden.
Mit seinem Erstling löst er sich 1852 vom «historischen Pantheismus» seiner Epoche, dem Historismus, in dem er das «falsche objektive Geltenlassen von allem und jedem» sieht. Er ist Erzähler, der die Phänomene sichtet, psychologisch auslotet, auswählt, hierarchisiert und dann in eine wetterfeste, metaphernreiche, eigenwillige Sprache packt.
Kunstführer. Im «Constantin» schildert er die Wirren, aus welchen das Christentum – das ihm abhanden gekommen – als Staatsreligion hervorging. «Lesen Sie das Buch ‹Die Zeit Constantins des Grossen› von Burckhardt, da bleibt Ihnen die Spucke weg, was das vierte Jahrhundert für eine Zeit war» (Ernst Bloch).
In «Der Cicerone: eine Anleitung zum Genusse der Kunstwerke Italiens» (1855) ordnet er 10 000 Kunstwerke der Halbinsel kunstgeschichtlich ein. Von der Antike bis zum Barock soll die Kunst als organisches Ganzes gefasst werden. Burckhardt folgt den drei Gattungen Architektur, Skulptur und Malerei chronologisch. Erst durch das Ortsregister erschliesst sich dieses Taschenmuseum Italiens dem reisenden Kunstfreund. In «Die Kultur der Renaissance in Italien» gibt er eine lange unübertroffene Schau der Zeit von Dantes «Göttlicher Komödie» bis zur manieristischen Kunst des 16. Jahrhunderts – sein Meisterwerk.
Krisenprophet. In Basel lehrt er ab 1858 Kunstgeschichte. Hier wird er bis 1882 alle zwei Jahre seine gefeierte Vorlesung über das Revolutionszeitalter (1763 bis Waterloo) halten. Der erklärte Gegner des Bruchs von 1789 äussert 1881 die Ahnung, «die Zustände Europens möchten einst über Nacht in eine Art Schnellfäule überschlagen, mit plötzlicher Todesschwäche der jetzigen scheinbar erhaltenden Kräfte».
Professoren-Kollege Friedrich Nietzsche meint, er könne als Einziger den 1868/69 angesichts der nationalen Gärung in Deutschland und Italien von Burckhardt in seiner Vorlesung «Über das Studium der Geschichte» skizzierten Gedanken folgen. Während der spätere Rhapsode Zarathustras 1874 seine «unzeitgemässen Betrachtungen» beginnt, wird 1905 die Vorlesung Burckhardts – als «Weltgeschichtliche Betrachtungen» von Jacob Oeri aus dem Nachlass ediert – zum Trostbuch jener, die im Schützengraben des Ersten und in den Bombenächten des Zweiten Weltkriegs am Nihilismus Nietzsches verzweifeln.
Wertpapier. Wir stecken in der Krisis. Aber: Glücklich das Publikum, dem ein so kluges, brillantes, anschauliches Büchlein geschenkt wird, um sich auf gesicherten Pfaden in das abgründige Dickicht des Denkens Burckhardts zu begeben. Kurt Meyer, der als Lehrer am Humanistischen Gymnasium und Beiträger unter anderem dieser Zeitung diente, hat ein Bijou abgeliefert, hat Leben, Werk und Wirkung Burckhardts meisterhaft wiedergegeben.
Seine Prosa fasst kongenial die verschwenderisch eingestreuten Burckhardtschen Formeln und Sentenzen. Trefflich ist die Auswahl oft bisher ungedruckter Bilder, zweckmässig das Literaturverzeichnis. Ein grober Klotz, wer diese wohlfeile Notration «Burckhardt vom Feinsten» nicht als Wertschrift für die Enkel von des Meisters Hand signieren lässt.
> Kurt Meyer: «Jacob Burckhardt. Ein Portrait». Verlag Neue Zürcher Zeitung. 2009. 286 Seiten, Richtpreis Fr. 42.–. Rezensionen im "Perlentaucher"
erschien zuerst in der "Basler Zeitung" 2009, Frühjahr. Abonnement hier.
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