Freitag, 10. Juni 2011

Die Umkehrung des Pissoirs

Giorgio Girardet

Bitte keine Berührungsängste: Nationalrat Oskar Freysinger überschreitet auf Einladung der Netzzeitung «:rubikon» Lötschberg und Aare und debütiert als Literat vor einem Dutzend Medienvertreter und ebenso vielen Kunstsinnigen im Zürcher Dada-Haus.

Kein Exponent der Zürcher-SVP hat je einen Fuss dahin gesetzt - und es war auch am Mittwoch keiner da: in dem von der Häuserbesetzerszene mit Hilfe der rot-grünen Stadtregierung und «kapitalistischer» Sponsoren ertrotzten Kulturschuppen an der Spiegelgasse. Hier schleuderten in den Jahren, als die SVP gegründet wurde und Ernst Jünger Eindrücke für «Stahlgewitter» sammelte, waffenscheue Emigranten im «Café Voltaire» den DADAismus gegen den Irrsinn des Ersten Weltkrieges, unweit schmiedete Lenin Revolutionspläne. Nun schweigen die Waffen, der Marxismus-Leninismus ist gefallen, aber die Schweiz soll ein Hort urchiger Freyheit bleiben - so will es die SVP - und mit ihr auch Oskar Freysinger, Basketballer, Gymnasiallehrer, Gründer der SVP Wallis, Nationalrat und zweisprachiger Barde. Mit Christoph Mörgeli will er ein «rechtes» Kulturkonzept basteln. Der Reihe nach.

«dr tyfel». «Pissoir-Poet» und «Pinocchio»: So lancierte ihn der «Blick» als nationale Figur und der Vorstand des schweizerischen Autorenvereins verlieh ihm durch die verwehrte Aufnahme zusätzliche Publizität. Der braungebrannte Bergler mit dem Lagerfeld-Schwänzchen stellte sich denn auch mephistophelisch-ironisch auf wallissertytsch als «dr Tyfel» vor. Sein ansprechender Vortrag im grauen Zweireiher hilft drei von schiefen Metaphern durchwucherten Texten aus seinem Erstling «Brüchige Welten» auf die Beine. Eine kafkaeske Parabel über baulich-gesellschaftliche Eingriffe («Wohnungsangst»), ein Ganovenstück über Moral und die Unentrinnbarkeit der «höheren Macht» («Vorahnung») und die symbolschwangere Darstellung eines «kalten Ehekrieges» in «trauter Herd». Die kruden Schilderungen von Schiessereien, Vergewaltigungen und talibanischem Analverkehr («Berührungsängste»), auf die sich der Boulevard stürzte, bleiben ungelesen. Jenes seien eben die «besten Beispiele» für das, «was er mit Sprache erreichen» möchte, erklärt er im Gespräch mit Martin Otzenberger, Geschäftsführer der Zeitschrift «:rubikon».

Kampfkuh. Die Unart, seine Werke auch gleich zu interpretieren, teilt der Walliser Platzhirsch mit dem international bejubelten Hirschhorn, dem er - ihn karikierend - ein witziges von infantiler Urinseligkeit und üppigen Kalauern ("Pinkel, Pinkel, macht Pinke, Pinke") geprägtes Kunstmanifest in den Mund schiebt. Und wie er am Abgrund der Rampe seinen Schillerschen Freiheitsbegriff darlegt und gestikulierend erklärt, es sei «nur mystisch möglich frei zu sein», schimmert der Pädagoge durch, der auch am Lagerfeuer unter sternklarem Himmel Jugendliche zu packen weiss: ein Überzeugungstäter. Stolz ist er auf die Wirkung seiner agrarisch-deftigen Versfabel vom Euro-Stier auf die dumpfen SVPler («sie sehen die Rasse vor sich?») an der Delegiertenversammlung von Martigny: das Schmatzen sei verstummt, Blocher vor Lachen unter dem Tisch und wohlig grinsend hätten die Delegierten die Wiederholung verlangt. Solches vermöge die Kunst. Der warme Applaus nach zwei Chansons in der Brassens-Tradition bezeugte, die dribbelnde Walliser Kampfkuh hat in der skeptischen Zwinglistadt emotionales Terrain gewonnen: ein Kleinkünstler mit Qualitäten, ein Slam-Poet, ein streitbarer Musenalp-Hemingway vielleicht, aber kein Troubadix, den man geknebelt und mit zertrümmerter Leier auf Dauer von Kulturdebatten fernhalten muss, soll und schon gar nicht wird können.

Erschien zuerst in der "Basler Zeitung". Solche Texte druckfrisch? Hier abonnieren

Basler Zeitung|11.03.2005|Seite: 8

http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=0fmJ6PKZRxs

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