Freitag, 21. Oktober 2011

Schweizerspiegel: Am Tisch wider die Zeit




Die Oltener Intelligenzija hat sich eine Beiz gekauft


VON GIORGIO GIRARDET

Es gibt seit Kurzem ein Widerstandsnest, ein gallisches Bandenversteck. Und das mitten im verkehrstechnischen Herzen der Schweiz. Aber bis es so weit war, sahen sich die drei widerständigen Schweizer vor ein fast unlösbares Problem gestellt.

Der Schriftsteller Alex Capus, ungekrönter "König von Olten" und Präsident der SP-Ortsfraktion, ist als Erster am Ort des Geschehens und erklärt das Problem: "Am Namen Flügelrad wollten wir festhalten, aber heute wird ein Flügelpaar grafisch sofort mit Faschismus assoziiert darum mussten wir das Logo sehr wolkig gestalten."
Vier Jahre lang hing das Schild "Wegen Unfall geschlossen" in der grossen Fensterfront, dann setzten sich Capus und Werner de Schepper, die sich seit ihren Anfängen im Oltener Lokaljournalismus kennen, in Bewegung.

Pedro Lenz stiess zu den beiden Oltner "giue". Werner de Schepper wurde als "Schwiegermuttertraum" auf die hüftoperierte Besitzerin angesetzt. Lange hoffte sie, das Flügelrad, eine Traditionsbeiz der Eisenbahner zwei Schritte neben der Bahnhofshalle, wieder zu eröffnen. Schliesslich verkaufte sie. Als sie im Dezember bei der Neueröffnung im Rollstuhl über den versiegelten Riemenboden glitt, den sie einst mit dem Blocher bohnerte, weinte sie Tränen der Rührung.

Stolz zeigt Capus im Keller den schweren Eichentisch, den man aus dem Natursteingewölbe nicht wird entfernen können: "Hier wollen wir gut essen, gut trinken, erzählen und auf den Tisch klopfen." Man glaubt dem Hünen jede Silbe. Viertel vor zwölf, die ersten Gäste treffen ein.
Für 17 Frankengibt es ein Einheitsmenü à discrétion: 15 Franken darf der Steuerzahler in Solothurn für "Mehrkosten für auswärtige Verpflegung" abziehen: Es soll eine Büezer-Beiz bleiben. Chüschtige Älpler-Maggronen sind es heute am Montag, Gemüsesuppe und Salat inklusive. A la carte gibt es abends. "Das ist eben gut katholisch", verkündet der stellvertretende Chefredaktor der Aargauer Zeitung, Werner de Schepper, am Tisch, "es soll hier keiner hungrig vom Tische gehen, das ist burgundische Tradition."
Ein gemischtes Publikum, Freundinnen, Familien, Angestellte, Studenten findet sich ein. Unweit auch das Isebähnli, eine der ersten Genossenschaftsbeizen der alternativen Achtziger. Aber die drei Musketiere haben eine Aktiengesellschaft gegründet und, was sie mit Worten erworben, in die Rettung der Bähnler-Beiz gebuttert.

Der Verwaltungsrat in corpore sitzt mit dem Chronisten am Runden Tisch. "Du sorry, ig mues det chli lose", entschuldigt sich Lenz, der mit einer Migros-Tasche voller Bücher von seiner Agentin geschickt wurde, "die giue mache süsch gäng projekt oni mig."
Was im Flügelrad ausgeheckt wird, beschäftigt den Stadtrat von Olten. So geisselten Capus im Stadtanzeiger, dem amtlichen Publikationsorgan der Stadt Olten, und de Schepper in der Aargauer Zeitung im Zangenangriff den verpassten Ankauf einer Liegenschaft für die Museen der Stadt. Ob man eine Gegendarstellung einrücken könne, soll der Stadtrat interveniert haben. Unmöglich: Capus und de Schepper hatten nichts als die lauterste Wahrheit geschrieben.

Ein Leichtes wär es, aus der Gaststube, die 30 Bahnminuten vom Hauptbahnhof Zürich, 26 vom Bahnhof Bern und 25 von Basel SBB entfernt liegt, einen trendigen Literatentreff zu machen. Aber nichts da. Die an Stangen gehefteten Zeitungen lagern in den Original-Köchern, eine Ikone der biederen Solidschweiz.
Ein Verleger aus Weinheim, der Alex Capus in Deutschland lesen gehört hatte, ist mitsamt seiner Familie von der Autobahn nach Spanien abgewichen, um im Flügelrad einzukehren. Bankett-Gäste fragen, ob der Pedro, der aus seiner Wohnung über der Gaststube sein burgundisches Dialektreich regiert (Shortlist Schweizer Buchpreis 2010 Der goali bin ig, bald als Hörbuch und demnächst als Film), zum Dessert noch was lesen könnte. Alex Capus ist mit Léon und Louise auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Die Oltener Stadtväter knobeln schon, ob und wer, wenn der "freche Siech" es auf die Shortlist schaffen sollte, ein Reisli nach Frankfurt machen wird. Im Flügelrad ist die "Schwerkraft Olten" (SBB-Slogan) der suisse profonde zur Gaststube geworden, vielmehr: geblieben. Wider die Zeit.

Der Text erschien zuerst in der "Zeit (Schweizausgabe)". Text und Fotos: Giorgio Girardet.

Der fertige Text im Laptop, im Flügelrad mit Capus' Kolumne und einem Mass Rivella.


Ein letzter Blick zurück aus der Oltener Bahnhofshalle.


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