Dienstag, 16. August 2011

Mitbestimmung - eine universitäre Tradition

Giorgio Girardet

Mit einer Mischung aus gemahlenen Ziegelsteinen und Stierblut pflegen noch heute einige erfolgreiche Doktoranden der 1134 gegründeten Universität von Salamanca ihre frischerlangte akademische Würde der Stadt kundzutun. In Pisa sind noch heute Spuren ähnlicher Wandmalereien auf der Fassade der Kirche von San Michele in Borgo festzustellen. Nicht die frischen doctores, sondern die neuernannten rectores des pisanischen Studiums gaben auf der gotischen Kirchenfassade ihrer Freude mit roter Farbe Ausdruck. Das Erstaunliche daran: Das Alter der Pisaner Rektoren lag meist unter dem der Salmantiner Doktoren. Was heute undenkbar wäre, war im Mittelalter der normale Gang der Dinge. Die Studenten selber standen der Universität als rectores vor. Damit konnten die Professoren ganz der Lehre und Forschung leben, ohne durch den lästigen administrativen Alltagskram abgelenkt zu werden.

Um dies zu verstehen, müssen wir uns vor Augen halten, was eine Universität im Mittelalter war. Es war ein Ausbildungsverein für Juristen und Theologen, manchmal auch Mediziner, die sich zuvor in den artes liberales, dem Kanon der mittelalterlichen Wissenschaften, zu üben hatten. Die universitas meinte durchaus nicht die Gesamtheit des Wissens, sondern die Gesamtheit der Lehrenden und Lernenden; ein Rechtskollegium (Körperschaft), wie es auch eine Zunft darstellte. So gehörte die Kirche San Michele dei Calzolai in Lucca der universitas der Schumacher, was keine Abendschule für Handwerker war, sondern schlicht deren Zunft. Die Körperschaft "Universität" wurde in Südeuropa institutionell ganz entscheidend von denen getragen und mitgestaltet, die heute sich mehr und mehr in die Rolle von blossen Wissenskonsumenten abgedrängt sehen.

"Das ist finsteres Mittelalter", werden nun einige einwenden. Spätestens mit der Renaissance wird man festgestellt haben, dass man solche grosse Verantwortungen nicht unpromovierten Schnöseln überlassen kann. Das musste schon der neue uomo univers(it)ale her. Doch weit gefehlt: Ein Eidgenosse aus Mollis (GL) namens Heinrich Loriti oder Glareanus, wie er sich als Humanist nannte, gründete nach langer studentischer Wanderzeit durch Europa in Basel eine Schule für Sprösslinge aus den Patrizierfamilien, die bald zu einer Konkurrenzanstalt für die Basler Universität wurde. Die Schule Glareans war wie die Römische Republik organisiert: Es gab Konsuln, Ädile, Quästoren etc. und ... diese Ämter wurden nicht etwa der Ruhmsucht des Lehrkörpers überlassen, sondern sämtlich von Studenten ausgefüllt.

Erstveröffentlichung im "Zürcher StudentIn" 20.01.1991



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