Sonntag, 21. September 2008

Der Kirchgang




1.1. Warum dieser lange Post?

Ich habe einst Blogger mit Predigern verglichen. Darum will ich in meinem Blog hier für die Arbeit der alten „Gottes-Blogger“ im „Realen Leben“ werben und gleichzeitig zeigen, welche grossen Möglichkeiten das Internet mittlerweile für den religiösen Diskurs bietet. Selber Historiker, werde ich also zeigen, wie der reformierte (aber auch der katholische, der christliche und überhaupt jeder religiöse) Gottesdienst eine Einkehr in der eigenen Geschichte ist. Darum werden auch möglichst viele Begriffe mit dem neutralen Online-Lexikon „Wikipeda“ verlinkt. Ich will aber auch surfenden Kirchensteuerzahlern zeigen, welche Leistungen von Profis (studierter Theologe, dipl. Organist, tüchtiger Siegrist) sie jeden Sonntag mitfinanzieren, ohne diese Leistung im „Realen Leben“ auch zu beziehen oder durch kräftigen Gesang, Gebet und konstruktive Kritik mitzutragen und mitzugestalten. Was verpasst der Mensch, der nur als Täufling, Konfirmand, Brautpaar und Leiche die Kirche von innen sieht?

1.2. Was geschieht in der Kirche eigentlich während des Gottesdienstes?
Früh hat der heute im Zürcher Einkaufszentrum Sihlcity tätige Pfr. Jakob Vetsch die Möglichkeiten des Internets für die Kirche erkannt, indem er für den Fall, dass der Pfarrer unversehens verhindert ist, eine Not-liturgie in das Netz gestellt hat. Unter Nummer 150 klärt auch das neue reformierte Kirchengesangbuch über den Aufbau des gewöhnlichen Gottesdienstes (Liturgie) auf. Da dieses Kirchengesangbuch nicht im Netz verlinkbar ist (dies würde neue Möglichkeiten der Verkündigung erschliessen) sei das klassische reformierte Liturgie-Schema nach 150 unten wiedergegeben:

Sammlung Eingangsspiel (Orgel)
Gruss- und Eingangswort
Eingangslied (mit Orgelbegleitung)
Anbetung Gebet
Loblied (mit Orgelbegleitung)
Verkündigung Schriftlesung
Lied
Predigt
Zwischenspiel (Orgel) od. Lied (mit Orgelbegleitung) od. Glaubensbekenntnis
Fürbitte Abkündigungen
Fürbitten und Unser Vater
Lied (mit Orgelbegleitung)
Sendung Mitteilungen
Sendung
Schlusslied (mit Orgelbegleitung)
Segen
Ausgangsspiel (Orgel)

Dieses Gerüst, diese jahrhunderte-alte Form, muss vom Pfarrer jeden Sonntag mit einem der Erbauung der Gemeinde dienenden Inhalt gefüllt werden. Dies ist die hohe Anforderung an das Amt der Verkündigung. Unten sei nun geschildert, wie Frau Pfarrerin Yvonne Meitner am Sonntag, den 7. September 2008 in der Kirche Bubikon, dieses Amt versah.

2. Die Liturgie vom Sonntag 7. September 2008 in Bubikon

Die Kirchenglocken rufen die Kirchgänger zusammen. Wir setzen uns in die Kirchenbank und nehmen das bereitliegende Kirchengesangbuch. Neben der Kanzel sind die Lieder notiert, die heute gesungen werden: 162, 1.4.7 / 258, 1-5 / 8 / 813 / 27, 1-3 (Blaues Büchlein)

2.1 Sammlung
Die Orgel spielt das Eingangsspiel. Ich blättere schon mal das Kirchengesangbuch auf:

162, „Gott ist Gegenwärtig“ T(ext): Gerhard Tersteegen M(usik): Joachim Neander 1680; S(atz): nach Joachim Neander 1680 und Zürich 1727.

Ich schlage den Textverfasser im Kirchengesangbuch nach:

Tersteegen, Gerhard, * 1697 in Moers, gest. 1769 in Mülheim/Ruhr (Nordrhein-Westfalen). Kaufmann, Bandwirker, Erweckungsprediger, Seelsorger, Schriftsteller, Dichter, pietistisch-ref. Mystiker.

Das Lied führt mich also in die Stimmung des Pietismus, einer spirituellen Strömung zur Zeit der Aufklärung. Ist das Verhältnis von Religion und Aufklärung nicht ein Dauerbrenner in den geschwätzigen Debatten unserer Zeit? Ich bin gespannt. Ein Mystiker: es wird ein stark spirituelles Lied sein, das an das religiöse Empfinden vieler Weltreligionen anklingt, denn alle Religionen kennen die Mystik als religiöse Erfahrungsmöglichkeit. Es kommt aus der Zeit als im Kanton Zürich viele neue Kirchen gebaut wurden, weil die Bevölkerung durch den langen Frieden, den zwinglianischen Fleiss und die religiöse Erweckung stark zunahm (zum Beispiel hier). Dank Wikipedia entdecke ich noch, dass Pfarrer „Neander“ eigentlich „Neumann“ hiess – seinen Namen der Zeitmode entsprechend „gräzisierte“ - und dass nach ihm das „Neandertal“ benannt wurde, in dem später die Skelette des „Neandertalers“ gefunden wurden.

Nun begrüsst die Pfarrerin die Gemeinde und spricht die Eingangsworte (die werden hier nicht gebloggt: „Der Pfarrer predigt nur einmal“). Sie stimmt uns mit dem Zitat des schweizerisch-französischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau auf das Thema der Predigt ein:

„Das Geld, das man besitzt, ist das Mittel zur Freiheit, dasjenige, dem man nachjagt, das Mittel zur Knechtschaft.“

(hier gibt es mehr Zitate)

Wir singen nun die drei Strophen des Liedes des deutschen Mystikers:

1. Gott ist gegenwärtig
Lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten
Gott ist in der Mitte
Alles in uns schweige
Und sich vor ihm beuge.
Wer ihn kennt, wer ihn nennt
Schlag die Augen nieder, geb das Herz ihm wieder

4. Luft, die alles füllet,
drin wir immer schweben,
aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende,
Wunder aller Wunder:
Ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir,
lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.

7. Herr, komm in mir wohnen,
lass mein Geist auf Erden
dir ein Heiligtum noch werden;
komm du nahes Wesen,
dich in mir verkläre,
dass ich dich stets lieb und ehre.
Wo ich geh, sitz und steh,
lass mich dich erblicken / und vor dir mich bücken.

2.2. Anbetung
Nun das Lied verfehlt seine Wirkung nicht. Es folgt ein Gebet, das die Pfarrerin spricht. (Auch diese Worte gibt es nur im „realen Leben“).

Ich blättere zu Lied 8 „Ich lobe meinen Gott“. Es folgt dem Psalm 9. Damit tauchen wir in die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens hinab, wohl 3000 Jahre alt sind diese Texte. Das Psalmenbuch soll im 2. Jh. V.Chr. redigiert worden sein, aber viele der Texte so auch (Psalm 9) werden König David zugeschrieben, der um 1000 v.Chr. lebte. Wir singen die ersten beiden Strophen:

1. Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen
Und ich will erzählen von all seinen Wundern
Und singen seinen Namen.

Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen,
ich freue mich und bin fröhlich, Herr, in dir.
Halleluja!

2. Je louerai l Eternel de tout mon coeur,
Je racconterai toutes tes merveilles,
Je chanterai ton nom,

Je louerai l Eternel de tout mon coeur,
Je ferai de toi le sujet de ma joie.
Alleluja !

Gott ist auch « l Eternell » erfahre ich im Lied und es erinnert mich daran, dass der reformierte Glaube die mächtige geistige Klammer zu den Romands (zu den Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg) darstellt. Hätte nicht Jean Calvin auf den Schutz des mächtigen Bern gebaut, würden wir heute nicht in einer mehrsprachigen Willensnation leben. Das 1566 von allen reformierten Orten ausser Basel angenommene „Helvetische Bekenntnis“ ist die Klammer, welche die heute bekenntnislosen Reformierten eint.

Nun haben wir uns gesammelt, haben Gott mit den ältesten Worten gelobt, die uns auch mit den Juden verbinden (älter noch als buddhistische Weisheiten). Nun sind wir bereit für die

2.3. Verkündigung
Das Gemeindeglied Erika Wegmann tritt zum Lesepult und liest den Text über den gepredigt wird. Aus dem Lukasevangelium das Gleichnis vom „gerissenen Verwalter“ (Neue Zürcher Bibel von 2007) oder nach der Lutherbibel das „Gleichnis vom ungetreuen Hausverwalter“.

Hier die Stelle Lukas, 16, 1-13

Nun besteigt die Pfarrerin für die Verkündigung die Kanzel. Diese beiden unterschiedlichen Uebersetzungen erzeugen denn auch ein Flimmern im Kopf. Wir wollen nun Aufkärung, wie das zu verstehen sei. Die Pfarrerin nimmt weitere Bibelstellen zu Hilfe (es gibt über 700 zum Thema Geld)

Was ihr für einen meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.(Matthäus 25, 40)
Häuft in dieser Welt keine Reichtümer an! Sie verlieren schnell ihren Wertoder werden gestohlen. Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel, die nieihren Wert verlieren und die kein Dieb mitnehmen kann. (Matthäus 6, 19.20)

Wer den Armen etwas gibt, gibt es Gott, und Gott wird es reich belohnen.(Sprüche 19,17)
Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein. (Matthäus 6, 21)

Sie beendigt dann die Predigt (die es nur real in der Kirche gibt) mit den Worten des Gründers der Methodistenbewegung John Wesley (1703 - 1791):

1. Verdiene, soviel du kannst.
2. Spar, soviel du kannst.
Und 3. Gib soviel du kannst.

Während eines Zwischenspiels der Orgel kann nun die Predigt im Geiste vertieft werden. Habe ich sie verstanden, bin ich einverstanden? Die Aussage des Gleichnisses verstört. Sie ist „kafkaesk“. Auch Kafka schrieb Gleichnisse in der biblischen Tradition.

2.4 Fürbitten
Nach dem Zwischenspiel erheben wir uns für die von der Pfarrerin, welche die Kanzel als Ort der Verkündigung wieder verlassen hat, vorgetragenen Fürbitten (bei Wikipedia leider nur konfliktuöse Sonderaspekte). Nach jeder Fürbitte singen wir gemeinsam das Lied 813, das uns in das Klosterleben der Karolingerzeit zurückführt und innerhalb der TaizÖ-Bewegung sich grosser Beliebtheit erfreut.

Ubi caritas et amor,
ubi caritas, Deus ibi est.

Wir bleiben stehen und beten nun das « Unser Vater », dies ist der älteste christliche Text der Liturgie, das Gebet, das mündlich überliefert in die Evangelien Eingang fand. Mit der Vergebung der Schulden und der Versöhnung – Pfr. Thomas Muggli hat es in seinem Zyklus über das apostolische Glaubensbekenntnis als „Kerngeschäft“ der christlichen Kirche bezeichnet – endet die Liturgie.

2.5 Sendung
Nun erfolgt die Abkündigung (im Netz noch keine schlüssige Erklärung dieses kirchlichen Begriffes) eines Gemeindeglieds das in der vergangenen Woche gestorben ist. Für alle gibt es hier die gleichen Worte, ob arm oder reich. Die Veranstaltungen der nächsten Woche (nachzulesen hier) und die Bestimmung der Kollekte (für diese Institution) wird auch bekannt gemacht.

Danach bitten wir mit dem „Monatslied“ aus dem „blauen Büchlein“ 27, 1-3 „Wir bitten Gott um seinen Segen“

Die Pfarrerin erteilt den Segen und entlässt die Gemeinde. In einer Art „Abspann“ wird allen beteiligten Personen am Gottesdienst gedankt:

Der Organistin
Der Lektorin
Dem Sigrist

Im Hinausgehen gebe ich meinen Beitrag für die Kollekte. Ich schüttle im Hinausgehen Pfarrerin und Sigrist die Hand und mach ncoh einen Schwatz mit der einen oder dem andern vor dem Kirchentor auf dem Labyrinth auf dem Kirchenvorplatz.

Diskussionsrunde im Chor
Danach treten wir in den Chor der Kirche, dem einst „Allerheiligsten“ des Kirchenbaus. Doch mit der Reformation riss der Vorhang zum Allerheiligsten in der altgläubigen Kirche und so nutzen wir interessierten Gemeindeglieder das einst „Allerheiligste“ als Raum für eine Diskussion über die Predgt und „das liebe Geld“. Der Kirchenpfleger Thomas Illi hat die Diskussion etwas vorbereitet. Einige sind irritiert übber John Wesleys Aufruf „Verdiene möglichst viel“. Ist dies heute nicht die ideale Rechtfertigung für „Abzocker“? Eine Diskussion über sehr aktuelle Fragen entbrennt. Verschiedene Gemeindeglieder bringen sich ein. Auch hier im Chor sind wir über das alte Gemäuer mit unseren Vorfahren verbunden und ihren Glaubensvorstellungen. In der Nische, in der zu katholischen Zeiten die Hostien aufbewahrt wurden, ist das hölzerne Abendmahlgeschirr aus der Reformationszeit ausgestellt. Die zum Teil restaurierten Fresken zeigen die Glaubensvorstellungen des Spätmittelalters: Himmel und Hölle.

Epilog
Und so „erbaut“ verlasse ich dann die Kirche. Ich wurde an den „Neandertaler“ erinnert, sang einen Psalm König Davids (1000 v.Chr.), ich betete das „Unser Vater“ (um 28 n.Chr.), dass uns mit allen Christen der Welt verbindet, ich sang mit dem Mönchen des karolingischen Frühmittelalters (9./10. Jh.), ich wurde an die reformatorische Einfachheit (1525 - 75) erinnert, ich versenkte mich in den mystischen Text Tersteegens aus der Zeit des Pietismus (1670 - 1750), ich machte mir Gedanken über die richtige Anwendung finanzieller Ressourcen mit Zitaten von Aufklärern (1720 - 1780) und ich bekam ein Gleichnis mit auf den Weg, das Kafka nicht besser hätte schreiben können: wie ist das nun mit den Schätzen im Himmel und auf Erden? Mit Tradition und Zukunft konnte ich eine Stunde lang mich beschäftigen, in einem wunderbar gepflegten Raumm, mit einer community, die nicht virtuell ist, sondern der ich in der kommenden Woche überall wieder begegnen werde: an der Kasse im Landi, auf der Post, im Bus.

Falls Sie auch Kirchensteuerzahler sind: Warum nicht mal wieder einen Sonntag hören, was der Pfarrer oder die Pfarrerin, die sie mit Ihrem Geld am Leben erhalten für sie blogt? Denn die Kirche sind Sie als Kirchensteuerzahler. Sie bestimmen an der Kirchenversammlung, wer, was und wann in diesem Raum am Sonntag geschieht. Und Sie sind aufgerufen, die Kirche der Zukunft zu gestalten aus der Tradition.

Update 23.09.2008: Gedanken zum katholischen Kirchgang fand ich hier und hier, Gedanken zur Auswirkungen des Kirchgangs auf die Scheidungsrate hier. Gedanken zur Ernährunspsychologischen Auswirkungen des Kirchganges hier. Beschreibung eines lutheranischen Kirchganges hier. "Gender" und Kirchgang in den Alten und Neuen Bundesländer: interessante Studie. Ostschweizer katholischer Kirchgang in Fotoreportage

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Vielleicht ist es ja gerade dieser immergleiche öde Ablauf, das dünne, schiefe Gesinge von alten Liedern, die kaum mehr etwas mit unserer Lebenswelt zu tun haben, die muffigen, Jahrhunderte lang abgestandenen hochmoralischen Botschaften, die die Leute aus den Kirchen treiben? Aus diesen modernen Zweckbauten mit leeren Kreuzen und trockenen Toastbrotwürfeln und Traubensaft aus dem Aldi-Tetrapack beim Abendmahl. Wo das Sinnliche, das Mystische, das Ekstatische, das Meditative von Religion so gründlich ausgesperrt wurde, aber die kritische Vernunft dennoch allzu selten Einlass findet.

uertner hat gesagt…

Der immergleiche öde Ablauf: der Mensch braucht Rituale. Jede Fernsehshow, die Oscar-Verleihung, ein Fussballmatch, hat diesen "immergleichen, öden Ablauf" und wenn der Traubensaft aus dem Aldi kommt, dann fehlt es eben an der kritischen Teilnahme, wacher Kirchenmitglieder. In der Schweiz werden die Kirchen von deutschen Neumitgliedern geflutet. Offenbar wären die Leute vorhanden, nur wandern sie lieber aus, als die deutsche tristesse zu gestalten. Und die Forderung nach Ekstase und kritischer Vernunft verkennt wohl etwas die beschränkten Möglichkeiten der Bio-Plattform "Mensch". Ist das nicht einfach eine pubertäre Forderung?

Anonym hat gesagt…

Wenn man beim Fussballmatch schon vorher wüsste, wer gewinnt und wer die Tore schiesst, dann wäre auch das Match öde. Wenn Rituale zur leeren Form verkommen, dann bekommen sie etwas Zwangsneurotisches.
Fluten muss man die Kirchen deswegen aber nicht gleich.
Irgendwer hat mal den schönen Satz gesagt, man könne Gott überall finden, sogar in der Kirche.

Kritische Vernunft ist pubertär? :-)