Sonntag, 3. Oktober 2010

Das erste Helvetisches Bekenntnis (1536)

(Confessio Helvetica prior 1536)


Die helvetische Confession stammt von Heinrich Bullinger (1504-1575), dem Nachfolger Ulrich Zwinglis in Zürich. Anscheinend hat er sie verfaßt, um sich selbst über die neue Glaubenslehre, zu der er sich bekannte, klarzuwerden. Sie gelangte an die Öffentlichkeit, als Kurfürst Friedrich III. Bullinger bat, für ihn eine Darstellung des reformierten Glaubens auszuarbeiten. Bullinger sandte ihm daraufhin das Dokument, das er für seine eigenen Zwecke verfaßt hatte, und der Kurfürst ließ es veröffentlichen. Seither hat es in den reformierten Kirchen weite Verwendung gefunden. (Quelle) Der Text ist fehlerhaft hier die gute Information.



Wir glauben und bekennen, daß die biblischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre und ächte Wort Gottes sind, und daß sie in sich selbst hinreichende Beweiskraft und Ansehen haben, und der Bewährung von Menschen nicht bedürfen. Denn Gott selbst hat mit den Vätern, Propheten und Aposteln geredet und redet noch immer zu uns durch die heiligen Schriften.


Wir glauben, daß man in diesen Schriften die wahre Weisheit und Frömmigkeit suchen müsse, daneben auch die Verbesserung und Leitung der Kirche und den Prüfstein zur Annahme oder Verwerfung einer Lehre. Denn obschon niemand zu Christo kommt, er werde denn innerlich vom heiligen Geiste erleuchtet; so wissen wir, daß Gott dennoch sein Wort auch äußerlich gepredigt haben will.


Diejenige Auslegung der heiligen Schrift halten wir aber für die wahre und natürliche, welche aus der heiligen Schrift selbst hergenommen ist, aus der Art und Eigenschaft der Sprache, in welcher sie geschrieben ist, wobei man alle Umstände ermißt, und andere ähnliche oder unähnliche, doch vorzüglich deutlichere Stellen mit den dunklem vergleicht.


Daher verschmähen wir nicht die Schriftauslegung der alten Väter in der griechischen und lateinischen Kirche, insofern sie mit der Schrift übereinstimmen. Dann da, wo ihre Schriften der heiligen Schrift widersprechen, treten wir bescheiden von ihnen ab. Darum lassen wir uns in Glaubenssachen von keinem anderen Richter leiten, als Gott selbst, welcher in seinem Worte deutlich genug ausgesagt, was wahr oder falsch sei, was wir anzunehmen haben oder nicht. Wir lehren, es solle Gott allein angebetet werden ”im Geist und in der Wahrheit; und zwar einzig durch den einzigen Mittler, unsern Herrn Jesum Christum.


Anfänglich war der Mensch von Gott nach dem Bilde Gottes geschaffen, in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit, gut und recht; aber durch Anstiftung der Schlange und durch eigene Schuld von seinem Zustande der Güte und der Rechtschaffenheit einmal abgewichen, fiel er der Sünde, dem Tod und mancherlei Jammer und Mühseligkeiten anheim. Wir verstehen durch die Sünde das dem Menschen angeborene Verderben oder Verschlimmerung, von unsern ersten Eltern auf uns alle fortgepflanzt oder vererbt, wodurch wir, in arge Lüste versunken, dem Guten zuwider, zu allem Bösen geneigt sind und aus uns selbst nicht Gutes zu tun, ja auch nicht zu denken vermögen; und wodurch wir, mit den Jahren, durch arge Gedanken, Worte und Taten, ganz wider das Gesetz Gottes, als schlechte Bäume schlechte Früchte bringen. Damit aber hätten wir billig verdient, von Gott gestraft, ja verworfen zu werden.


Wir lehren davon also, daß die Beschaffenheit oder der Zustand des Menschen in dreifacher Hinsicht zu betrachten sei


Erstlich, wie der Mensch vor dem Fall gewesen, freilich recht und frei, so zwar, daß er im Guten verharren, aber auch zum Bösen sich neigen könnte.


Hernach ist zu betrachten, was der Mensch nach dem Fall geworden ist. Ihm ist keineswegs der Verstand gänzlich entzogen, noch ist er seines Willens beraubt, als wäre er zu Stock und Stein geworden; aber solche Gaben wurden doch so verändert und entkräftet, daß er nun nichts mehr vermag, was er Anfangs und vor seinem Fall vermochte; denn der Verstand ist verfinstert, der Wille aus einem freien ein dienstbarer geworden. Denn er dient der Sünde nicht wider Willen oder gezwungen, sondern mit Willen.


Was die irdischen und äußeren Dinge betrifft, so hat hier selbst der gefallene Mensch nicht geringe Freiheit nach der Barmherzigkeit Gottes.


Endlich müssen wir sehen, ob und wie fern der wiedergeborene Mensch eines freien Willen sei. In den Wiedergeborenen wird der Verstand durch den heiligen Geist erleuchtet, damit er die Geheimnisse und den Willen Gottes verstehe. Und der Wille wird durch den Geist nicht nur verändert, sondern auch mit der Fähigkeit ausgerüstet, das Gute von selbst zu wollen und zu tun.


Gott hat sich von Ewigkeiten, ohne Ansehen der Menschen, frei und aus lauter Gnade diejenigen Auserwählten, die er selig machen will, in Christo ausersehen und erwählt.


Darum hat uns Gott erwählt in Christi und um Christi willen, als diejenigen, die die Auserwählten Gottes sind, welche durch den Glauben Christo eingepflanzt sind; die Verworfenen aber sind die, welche sich außerhalb Christi befinden.


Und wiewohl Gott weiß, wer die Seinigen sind, und in der Schrift gesagt wird, daß der Auserwählten wenige sind, ist doch von jedermann Gutes zu hoffen, es ist auch niemand unbesonnen unter die Verworfenen zu zählen.


Wir glauben und lehren, daß der Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus von Ewigkeit her vom Vater zum Heiland der Welt vorausersehen und bestimmt worden sei, und vor aller Ewigkeit, und zwar vom Vater auf eine unbeschreibliche Weise. Darum ist der Sohn nach der Gottheit dem Vater gleich und gleichen Wesens, wahrer Gott, und nicht daß er nur den göttlicher Namen habe oder trage; oder daß er an Sohnes Statt angenommen oder also begnadiget oder erhoben worden sei; sondern dem Wesen und der Natur nach ist er wahrer Gott.


Wir glauben auch und lehren, daß des ewigen Gottes ewiger Sohn der Menschensohn geworden sei aus dem Samen Abrahams und Davids, und daß er nicht aus einem Manne wie Ebion vorgibt, sondern rein aus dem heiligen Geiste empfangen, und geboren sei aus Maria der Jungfrau, welche eine reine heilige Jungfrau geblieben sei, wie dies alles mit Fleiß das Evangelium beschreibt. Die menschliche Natur Christi war nicht eine Scheinnatur, noch vom Himmel herabgebracht, wie Valentin und Marcion träumten. überdies hatte unser Herr Jesus Christus nicht eine Seele ohne menschliche Empfindung und Vernunft, noch einen Leib ohne Seele, wie Eunomius lehrte, sondern die Seele hatte ihre Vernunft, und das Fleisch hatte seine Sinne und Empfindung, durch welche Sinne er wahre Schmerzen zur Zeit seines Leidens empfand. Darum bekennen wir im einen und eben demselben, unserm Herrn Jesu Christi, zwei verschiedene Naturen, die göttliche und die menschliche und sagen, diese seien also mit einander vereiniget, daß sie weder aufgehoben noch in eine vermengt, oder vermischt worden seien, sondern daß beide Naturen, in ihren Eigenschaften unverändert und unversehrt bleibend, in einer einzigen Person vereint oder verbunden seien.


Wir glauben ferner, daß dieser unser Herr Christus in ebendemselben Fleisch aufgefahren sei über alle sichtbaren Himmel in den obersten Himmel, der die Wohnung Gottes des Vaters, welches, obschon es eine gleiche Gemeinschaft an der Herrlichkeit und Majestät anzeigt, doch auch von einem gewissen Orte verstanden wird.


Im eigentlichen Sinne ist das Evangelium diejenige fröhliche und selige Nachricht von der Erlösung durch Christus, durch den wir Versöhnung, Vergebung der Sünden und das ewige Leben haben. Darum nennt man Evangelium mit Recht auch die Geschichte, welche von den vier Evangelisten beschrieben ist.


Durch die Buße verstehen wir die Verbesserung des Gemüts im sündigen Menschen, welche durch die Predigt des Evangeliums durch den heiligen Geist erweckt und durch den Glauben angenommen wird, da dann von Stund an der sündige Mensch sein angeborenes Verderben und jede Sünde, unter Anklage des Wortes Gottes, erkennt, im Herzen bereut, dieselben nicht nur vor Gott beweint und bekennt und sich derselben schämt, sondern auch mit Unwillen verflucht und der Besserung stets nachstrebt, und von nun an sich der Unschuld und aller Tugend befleißigt. Dies ist also die rechte Buße. nämlich die aufrichtige Umkehr zu Gott und zu allem Guten, und das Wegwenden vom Teufel und von allem Bösen. Wir sagen aber ausdrücklich, daß diese Buße eine lautere Gabe und Gnade Gottes sei und nicht das Werk unserer Kräfte. Wir lehren, daß aus dem wahren lebendigen Glauben, durch den heiligen Geist, wahrhaft gute Werke erwachsen, welche von den Gläubigen nach dem Willen Gottes und nach der Richtschnur seines Wortes getan werden.


Diese soll man tun, nicht daß man dadurch das ewige Leben erlange. Denn das ewige Leben ist eine Gnade und ein Geschenk. Auch nicht um des Ansehens und Ruhms willen, was der Herr strenge verwirft, sondern zur Verherrlichung Gottes, zur Ehre unsres Berufes, aus Dankbarkeit gegen Gott, und dem Nächsten zum Heil. Wiewohl wir lehren, daß der Mensch durch den Glauben an Christum, und nicht durch irgend ein gutes Werk fromm und gerecht werde, so verachten wir doch die guten Werke nicht als wertlos, indem wir wissen, daß der Mensch keineswegs zum Nichtstun weder erschaffen noch durch den Glauben wiedergeboren ist, sondern vielmehr um ohne Aufhören Gutes und Heilsames zu wirken.


Weil Gott von Anfang an uns selig haben wollte, und daß wir zur Erkenntnis der Wahrheit kämen, so war notwendig jederzeit, und ist noch gegenwärtig, und wird auch bis ans Ende der Welt bleiben, eine Kirche, das ist, eine Anzahl von Gläubigen ausgewählt und berufen aus der Welt. Sie ist die Gesamtheit der Gläubigen oder Heiligen, nämlich derjenigen, welche den wahren Gott in Christo dem Heiland durch das Wort und durch den heiligen Geist wahrhaft erkennen und würdig anbeten, und alle ihnen von Christi angebotenen Wohltaten und Güter durch den Glauben annehmen. Diese Alle sind Bürger einer Stadt und Gottes Hausgenossen. Hierher gehört, was wir im Artikel unseres Glaubensbekenntnisses aussprechen: ich glaube an eine heilige allgemeine Kirche, eine Gemeine der Heiligen. Die Kirche teilt man in verschiedene Abteilungen der Gattungen, nicht als wäre sie wirklich unter sich zerteilt oder zerrissen, sondern wegen der Verschiedenheit ihrer Glieder. Die streitende befindet sich noch hienieden auf Erden und hat mit dem Fleische, mit der Welt und mit dem Teufel zu kämpfen. Die triumphierende frohlockt dem Herrn im Himmel. Nichts desto weniger stehen beide unter sich in Gemeinschaft und Verbindung. Die streitende Kirche hienieden hatte zu jeder Zeit viele besondere Kirchen. Diese hatte eine andere Einrichtung vor dem Gesetz zur Zeit der Patriarchen, eine andere unter Moses während dem Gesetz und eine andere seit Christo unter dem Evangelium. Doch alle haben das nämliche Heil unter dem einzigen Messias, in welchem sie alle als Glieder Eines Leibes unter ein Haupt vereint, eines Glaubens und einerlei Speise und Trankes teilhaftig sind. Ein Unterschied ist darin, daß uns ein helleres Licht scheint und eine größere Freiheit gegeben ist.


Denn wir lehren, Christus sei der Herr und bleibe der einzige gemeinschaftliche oberste Hirte bis ans Ende der Welt. Daher bedarf er keines Statthalters, denn nur wo der Herr abwesend ist, ist ein Statthalter nötig. Die wahre Einheit der Kirche beruht aber nicht in äußern Zeremonien und Gebräuchen, sondern vielmehr in der Wahrheit und Einheit des allgemeinen Glaubens; derselbe nun stützt sich auf die göttliche Schrift, davon das apostolische Glaubensbekenntnis ein kurzer Inbegriff ist. Daher lesen wir, daß bei den Alten eine große Verschiedenheit in den Gebräuchen war, auch dachte niemand, daß die Einigkeit der Kirche deshalb verletzt sein sollt.


Die Diener an der Gemeine des Neuen Testamentes heißen Apostel, Propheten, Evangelisten, Wächter, Aufseher oder Bischöfe, Priester, Hirten und Lehrer. Uns aber genügen die Einrichtungen der Apostel für die Lehre und Leitung der Kirche.


Es ist aber den Dienern allen die nämliche Gewalt erteilt. Denn wenigstens im Anfang besorgten die Bischöfe oder Ältesten die Gemeinen gemeinschaftlich, eingedenk der Worte des Herrn: ”Wer unter euch der erste sein will, der sei euer Diener.”


Die Hauptverrichtungen der Diener sind die Lehre oder Predigt des Evangeliums, und die gehörige Verwaltung der heiligen Sakramente, die Sorge für das Seelenheil und die Aufrechterhaltung der Ordnung. Damit aber die Diener alles dieses besser und leichter zu tun vermögen, so müssen sie vor allem aus Gott fürchten, im Gebete verharren, immerfort die heilige Schrift lesen, überall und allezeit wachen, und mit einem frommen und heiligen Wandel jedermann vorleuchten. Und weil in der Kirche Zucht und Strafe sein muß, so sollten sich die Diener dieser Kirchenzucht bedienen und immer die Vorschrift des heiligen Apostels erwägen, ”daß alles ohne Herrschsucht und Entzweiung ehrbar, anständig und zur Erbauung geschehe und nicht zur Zerstörung”.


Die Sakramente des alten Volkes waren die Beschneidung und das Osterlamm. Die Sakramente des neuen Volkes sind die Taufe und das Abendmahl des Herrn.


Alle Obrigkeit ist von Gott selbst zur Ruhe und zum Frieden des menschlichen Geschlechtes geordnet. Ist sie der Kirche feind, so kann sie unsäglich viel hindern und stören; ist sie aber ein Freund, dann kann sie ihr sehr viel nützen und helfen.


Ihre Hauptpflicht ist, öffentliche Ruhe und Friede zu erhalten, die Wahrheit und den Glauben zu fördern; mit guten, dem Worte Gottes entsprechenden Gesetzen das ihr von Gott anvertraute Volk regieren; Übeltäter, Aufrührer, Räuber, Mörder und Lästerer strafen und in Schranken halten die unverbesserlichen Ketzer, wenn sie wirklich Ketzer sind.


Allen Untertanen ist geboten, die Obrigkeit als Gottes Dienerin zu ehren und allen ihren gerechten und billigen Befehlen zu gehorchen, und selbst Blut und Leben hinzugeben für das allgemeine Wohl. Wir verwerfen daher alle Verächter der Obrigkeit, die Rebellen, und Feinde des Staats und endlich alle die, welche offenbar oder listig sich den schuldigen Pflichten entziehen.


Aus: http://www.theology.de/ (2006)

Samstag, 18. September 2010

Der Bettag, die Intellektuellen und das Prophetenamt

Basel-Stadt dankt "den Religionsgemeinschaften"

Giorgio Girardet

Seit das Stimmvolk den Anhängern des Propheten Mohammeds in der Eidgenossenschaft verboten hat, weitere Moscheen mit Minaretten zu schmücken, hat sich ein tiefer Graben geöffnet. Auf der einen Seite die Intellektuellen: Professoren, Politiker, Schriftsteller, Kulturschaffende, die sich im "Club Hélvetique" den Kopf darüber zerbrechen, wie sie dieser Sünde an der Vernunft wieder abhelfen könnten. Auf der anderen Seite die in der Minarettfrage siegreiche Blocher-Partei, die im Schützenhaus Albisgütli in Zürich alljährlich einen Gastredner zum Rededuell lädt.

Tiefer noch war in den 1830er-Jahren der Graben zwischen Konservativen und Liberalen, als Bürger mit der Büchse in der Hand Ratsherren wegputschten und Stand um Stand im metternichschen Staatenbund von 1815 zu liberaler Verfassung, Religions- und Pressefreiheit fand. Doch nur in Basel kam es zum Bruch: 1832 - just in jenem September, da der erste "Eidgenössische Dank-, Buss-, und Bettag" begangen wurde - blieb der Tagsatzung nichts anders übrig, als die Spaltung des Standes Basel in zwei Halbkantone zu sanktionieren. Die Liberalen Landleute wollten sich nicht länger von der patrizischen Pfaffheit die Leviten lesen lassen.

Kulturkanton. Der Bettag kam für das protestantische Basel zu spät. Seine Einführung erfolgte auf Antrag des Aargaus, jenes 1803 aus reformierten, katholischen und paritätischen Landstrichen zusammengeschusterten Gebildes, das nur durch republikanischen Gemeinsinn zu einen war. "Kulturkanton" wurde er aufgrund der geistigen Ausstrahlung seiner damaligen Staatsmänner genannt. Mit dem Bettagsmandat bemächtigten sich die Liberalen des Mediums der Konservativen: des sonntäglichen Pfaffenworts.
Indem in der ganzen Eidgenossenschaft am gleichen Sonntag gebetet wurd, entstand ein mächtiger Erinngerungsort, der Konservative und Liberalen wider den säkularen Zeitgeist an die Busstraditionen des Volkes Israel knüpfte. Der Gemeindepfarrer, ob nun geweihter Priester oder protestantischer "Prophet", wurde zum Medium einer theologischen Gardinenpredigt der Obrigkeit, die jene Werthaltungen und jenen Gemeinsinn stärkt, von denen der moderne Staat lebt, ohne sie selber herstellen zu können.

Föderalismus. So spiegeln seit 1832 Gebetsformeln, Bettagsmandate und Hirtenbriefe die konfessionelle Verfassung unseres föderalen Staatskunstwerks wider. Von 1862 bis 1872 schrieb der radikale Atheist Gottfried Keller die Bettagsmandate des Standes Zürich, und Jeremias Gotthelf musste als konservativer Pfarrer in Lützelflüh ab 1832 die Bettagsmandate seiner literarisch bekämpften liberalen Obrigkeit verlesen. 1886 beschlossen die Bischöfe, für die durch den 1848 siegreichen Freisinn gedemütigte katholische Schweiz einen Hirtenbrief mit einheitlicherFestordnung einzuführen. Dieses Jahr erläutert er am Exempel der Heiligen Mutter Theresa, die in Bosnien unter dem Ruf des Muezzins geboren wurde und durch die Pflege der Hindus in Indien ihre katholische Heiligkeit erwarb, wie Katholizismus im multireligiösen Umfeld gelingen kann. Und im konfessionell geteilten Kanton Glarus schreibt Landammann Dr. Marti zusammen mit Schreiber, Sekretär und Geistlichkeit ein gehaltvolles Bettagsmandat zum Thema "Verantwortung" für die Front des Amtsblattes.
So entstand über gemeinsame "spoken words" gemeiner Sinn - Gemeinsinn. Ein analoger Prozess ist auch im liberal-katholischen Luzern zu erhoffen, wo schon das zweite Jahr die Regierung vereint mit den drei öffentlich anerkannten christlichen Konfessionen und mit der islamischen Gemeinde Luzern einen gemeinsamen Bettagsaufruf formuliert.

Prophetenamt. Die Regierung Basel-Stadts dankt dieses Jahr "den Religionsgemeinschaften". Nicht nur für karitative Freiwilligenarbeit, sondern auch für die Kritik, welche sie an der Regierungstätigkeit üben sollen. Dieser Auftrag zum Wächteramt im Staat wurde von den Reformatoren ausdrücklich der Landeskirche zugewiesen und als Prophetenamt bezeichnet. Im Basler Münster wird am Bettag der Zürcher Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist die auf die Bergpredigt folgenden Worte zu den "falschen Propheten" (Mtth. 7, 15ff.) auslegen. Gerade jene "Kulturschaffenden", die sich in jüngster Zeit vor dem Gegenwind aus dem Albisgüetli unter die Rockschösse des Präsidenten der Eidgenössischen Antirassismus-Kommission flüchten, hätten Gelegenheit, den Worten eines ordinierten "Kollegen" die Ehre zu erweisen.
Denn: trauten nicht schon 1832 die liberalen "Pfaffenfresser" des Kulturkantons der Pfaffenstimme mehr als ihrem in der Pressefreiheit gedrucktem Vernunftlärm?

Erschienen in der "Basler Zeitung" vom 18. September 2010. Sie wollen solche Texte (die online nicht erhältlich sind) in Zukunft in der Print-Premiere geniessen? Abonnieren Sie hier.

Freitag, 17. September 2010

Bettagsmandate 2010


Karte der konfessionellen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft 2000 (Quelle)



1. Bettagsgebet der Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen der Schweiz (AGCK)

Ab 1886 erliessen die Bischöfe einen Hirtenbrief und eine Festordnung für die katholische Schweiz, ab dem 2. vatikan. Konzil (1962 - 65) wurde der Eidg. Bettag zum ökumenischen Feiertag. (Quellen: hls)
Bis in die 60er Jahre waren die Diözesanbischöfe abwechslungsweise die Autoren, in den 70er und 80er Jahren wurde er vermehrt von einer Fachperson verfasst. Die Bischöfe gaben nur noch ihr nihil obstat dazu. (Luzzato, Franco. Öffentlichkeitsdefizit der Katholischen Kirche: Organisationskommunikation und Kommunikationsstruktur der katholischen Kirche Schweiz - Bedingungen für ein Ende der Stagnationskrise. Diss. Freiburg, 2002, S. 136, FN 401)

3. Bettagsmandate der Regierungen der eidgenössischen Stände oder deren Landeskirchen.

3.1 Zürich (1351, 1525 reformiert)
Regierung erlässt seit 1873 keine Bettagsmandate mehr
Wort des Kirchenrates der reformierten Landeskirche Zürich zum Bettag

3.2 Bern (1353, 1528 reformiert)

3.3 Luzern (1332, katholisch)
Regierung erlässt seit 2009 zusammen mit der katholischen, christkatholischen und reformierten Landeskirchen und der "Islamischen Gemeinde Luzern" einen Bettagsaufruf.

3.4 Uri (1291, katholisch) der Regierung, Hirtenbrief

3.5 Schwyz (1291, katholisch)
Kein Mandat der Regierung, Hirtenbrief

3.6 Unterwalden (1291)
3.6.1 Nidwalden (katholisch)

3.7 Zug (1353, katholisch)
Evangelisch-Reformierte Kirche Zug kein Bettagstext im Netz

3.8 Glarus (1352, konfessionell gemischt)
Bettagsmandat des Landammanns im Amtsblatt.

3.9 Fribourg (1481, katholisch)

3.10 Solothurn (1481, katholisch, bis auf Bucheggberg)
Evangelisch-Reformierte zu Bern (kirche Jura-Bern-Solothurn)
Katholiken Hirtenbrief. Bettagskollekte (eingeführt 1776, wurde 2010 abgeschafft) Betrachtungen eines Gemeindepräsidenten dazu.

3.11 Schaffhausen (1501, reformiert)

3.12 Basel (1501, reformiert)
3.12.2 Basel-Land

3.13 Appenzell (1513)
3.13.1 Appenzell Innerrhoden (katholisch)
3.13.2 Appenzell Aussderrhoden (reformiert)
Weder Regierung, noch Kirche scheinen Bettagsbotschaft zu erlassen.

3.14 St.Gallen (1803, konfessionell gemischt)

3.15 Aargau (1803, konfessionell gemischt)
Regierung und Kantonalkirchen der drei christlichen Konfessionen (Reformierte, Katholiken, Christkatholiken) geben im Wechsel ein Bettagsmandat heraus. Das Bettagsmandat von 2010 verantworten die Kirchen.
3.16 Graubünden (1803, konfessionell gemischt)
Bettagsmandat der Regierung

3.17 Tessin (1803, katholisch)

3.18 Thurgau (1803)
Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons Thurgau, Bettagsansprache des Kirchenrates (zu verlesen am 12. oder 19. September im Gottesdienst)

3.19 Waadt (1803)


3.20 Wallis (1815)


3.21 Neuenburg (1815)


3.22 Genf (1815)


3.23 Jura (1979)



4. Bettagsmandate anderer christlicher Bekenntnisse
4.1. Bettagsaufruf der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA)

5. Bettagsbotschaften anderer Religionen


6. Bettagsbotschaften der Areligiösen

Mittwoch, 8. September 2010

Mut zur Lächerlichkeit

Gibt es eine richtige Partei? Hier denkt einer darüber nach, warum er sich ausgerechnet für die Evangelische Volkspartei entschieden hat.

Ich bin einer Partei beigetreten mit 43.

Unsereins vom Jahrgang 1965 fiel das sich vollendende Schlaraffenland der 68er in den Schoss, diese unbedingte Zuversicht in den guten, spontanen und kreativen Menschen. Aber wir erbten die apokalyptischen Erwartungen des Club of Rome, die sich auf das dräuende "1984" hin in autorfreien Sonntagen, im drohenden Atomstaat Robert Jungks, dem Waldsterben und Tschernobyl allmählich menetekelhaft materialisierten. So meinte ich lange ein "Linker" oder ein "Grüner" sein zu müssen. Aber nein: Ich könnt mich nicht auf Dauer bei gewissen Genossinnen einreihen, die unter Absingen der Internationalen der Ausssicht auf ein Verwaltungspöstchen ihre ersten Föten opfern. Leider ist auch mein Leistungsausweis zu dürftig, um beim kravattierten Schaulaufen der FDP-Bierdeckel-Ideen mitzumachen, der Partei, die unseren Staat, den sie ersonnen und aufgebaut hat, nur noch als durch Wählermandate getarntes Geflecht von Verwaltungsratspfründen verwaltet.

Und endlich komme ich aus dem falschen Milieu, um mich organisch der CVP anzuschliessen. Die Unverfrorenheit, mit welcher der Walliser Condottiere Darbellay den ausstehenden Sold der Grossbanken für die Abstimmungsleistungen seiner Beichtkinder reklamierte, erinnert mich fatal an den verkrachten Sozialismus eines Bettino Craxi. Bei den Grünen überwiegen - bei einem grossen Respekt vor Einzelfiguren und dem Grundanliegen - Schwarmgeister und von der "Ästhetik des Widerstandes" träumende Utopisten. Und für die SVP endlich, das Geschöpf des "Unternehmers in Chemie und Volkszorn" (Adolf Muschg, 1997), müsste ich mich als Opportunist auf den Karren des Siegers schwingen: nimmer.

Und deshalb die EVP? Nicht nur. Im Versuch, schreibend Geld zu verdienen, hatte ich bald "Kolumnen", war angewiesen auf "Meinung", die sich auch "kreativ" und "spontan" einstellte - aber nicht immer dem entsprach, was der helvetische Rudeljournalimus wünscht. Und da vieles von dem, was ich sagen will, "unsäglich" erscheint und sich offenbar nur noch als Satire sagen lässt, endete ich beim Nebelspalter. Satire - Tucholsky sagte es - "darf alles" und sei ein Produkt von "Moralisten" und "gekränkten Idealisten". Aber Himmel? Wo sollte ich das Mass der Gerechtigkeit für meinen beissenden Spott finden, wenn nicht in der Gottesfurcht?
Darum einer Partei beitreten? Der Partei, die mit Pfarrer Sieber warb? Vielleicht eher der Partei Ruedi Aeschbachers (NR, ZH), der als Stadtrat die Zwinglistadt - die "Grünen" steckten noch in den Kinderschuhen - zum verkehrsberuhigten Weltwunder machte, der vor laufenden Kameras mit heiterer Gelassenheit Christoph Blocher die Qualifikationen zum Bundesratsamt weglachte, wo andere in schäumendem Parteigeist die Contenance verloren. Es ist der ruhige Mut zum Unzeitgemässen, zur Lächerlichkeit, der mir bei der EVP imponiert.
Nur darum zur EVP? Nein, ich geb's zu, es ist auch: die Macht. Oft Zünglein an der Waage, sitzt die EVP im geometrischen Gleichgewichtspunkt des Meinungsspektrums des Parlaments in der Position des allseits respektierten Schiedsrichters. Und aus dieser Position kauft man ihr auch grossartige Dummheiten ab.
Ausgerechnet mein neuer Parteipräsident, Heiner Studer (NR, AG, 2007 abgewählt) hat die dümmste Erkenntnis der eidgenössischen Räte 2003 durch eine Motion initiert: die Abschaffung der Gewissensprüfung für Wehrdienstverweigerer. Am 1. April 2009, im Calvin-Jubeljahr, detonierte diese tempierte Handgranate, die vertrauensselig ob des ach so frommen Absenders ungeprüft durch die beiden Kammern der eidgenössischen Räte gereicht wurde. Sie ist geeignet, die alte Milizarmee vollends zum gefährlichen Sammelbecken patriotischer Zivilversager zu machen.
Der Typus des skrupelbeladenen Milizoffiziers (wie Adolf Muschg), der seine Verantwortung ernst nimmt, wird aussterben, Zivilversager und Uniformnarzissten werden weiter "frivole Unglücksfälle" mit Untergebenen organisieren. Die Räte sollen sich an ihren Amtseid erinnern und ihrem Schildbürgerstreich, den sie einer SP-Frau, einem Kommunisten oder einem Grünen nie durchgelassen hätten, Remedur schaffen. Als Publizist bleibe ich nur glaubwürdig, wenn ich meine Partei nicht von Kritik ausnehme, auch meinen abgewählten Präsidenten nicht.
GIORGIO GIRARDET

Erschienen in der Schweizer Ausgabe der "Zeit" vom 22. Dezember 2009

Sonntag, 29. August 2010

Bö: Urgestein der "geistigen Landesverteidigung"


Vorwort, das C.A.Loosli der Originalausgabe von "So simmer" (1953), voranstellte:

Lachend die Sitten zu geisseln, wird gelegentlich jedem einigermassen beobachtungsfähigen, humorbegabten Menschen gelingen. Zwar sind diese, namentlich bei uns nicht eben allzudicht gesät, aber immerhin - es gibt welche!
Dagegen vor keiner Erscheinung weder des häuslichen, noch des gesellschaftlichen, noch des wirtschaftlichen und politischen Lebens zurückweichen, sie alle satirischen Geistes erfassen, ihre Gebrechen und Lächerlichkeiten in Wort und Bild jahrzehntelang, Woche um Woche, schonungslos treffend, dabei nie verletzend, sondern so drastisch überzeugend darzustellen, dass die Verulkten selber hell auflachen, ohne zu grollen, ja, sich getroffen fühlend, gelegentlich in sich kehren, das ist mehr, besser, das ist geradezu genial!

Darin nun ist Bö unser unerreichter, nie übertroffener, bewundernswerter Meister!
Er hat sich einen unverkennbar eigenpersönlichen, jedermann unmittelbar verständlichen Stil errungen. In seinen fröhlichen Zeichnungen, die stets mit den denkbar einfachsten Mitteln gerade das Wesentliche und nur das Wesentliche zur Darstellung zu bringen; in seinen Begleittexten, die ebenso eindeutig als eingenwüchsig dermassen eindringlich wirken, dass sich viele darunter bereichts dem Sprichwörtergut unseres Volkes einverleibt haben! Ganz abgesehen davon, dass sich Bö eine ganz eigenartige phonetisch treue Sprache schuf, die an sich belustigt und die möglicherweise dereinst berufen sein wird, den immer noch wogenden Streit um die sogenannte Rechtschreibung unserer Mundarten auszutragen.
Bö ist Künstler und Poet zugleich, reich begabt mit sich stets verjüngender üppiger Phantasie, die einem reichen Gemüt, einer nie versagenden Menschlichkeit entspringt. Er ist erdverwachsen, mit ganzer Seele volksverbunden, daher immerdar lebensnah! Er freut sich und er leidet mit der breiten, namenlosen Masse und bringt


Der legendäre Dr.h.c. Carl Böckli (1889 - 1970) prägte in der entscheidenden Zeit (1927 - 1966) die heute "älteste Satirezeitschrift der Welt" den schweizerischen "Nebelspalter". Darum wurde er auch am 5. Juni 2004 vom damaligen Bundesrat Christoph Blocher bei der Eröffnung des Museums Full-Reuenthal zitiert.
Einzelne seiner Bücher sind noch beim "Nebelspalter" im online-shop erhältlich. Unvergessen ist er auch im Appenzellerland.
Die Historische Museum der Gemeinde Heiden wird ab dem 4. Dezember 2010 eine Sonderausstellung zu Carl Böckli zeigen.

Freitag, 23. Juli 2010

Eine Spur in die «gute alte Zeit»

Lisa Tetzner und Kurt Held: Sie schrieben gemeinsam den populären Jugendroman «Die Schwarzen Brüder».

Das Buch und seine Autoren sind halb vergessen, aber «Die Schwarzen Brüder» leben dank des Musicals in Walenstadt fort. Die Geschichte einer Dichterehe.

Gestern Abend feierte das Musical «Die Schwarzen Brüder» in Walenstadt Premiere (Kritik folgt im Samstagsblatt). Der Tessiner Verdingbub Giorgio wird von jetzt an von Geigen unterlegt durch die verrussten Kamine Mailands kraxeln. Durch den Schweizer Jugendbuchbestseller von Lisa Tetzner wurde ihr kommunistischer Ehemann Kurt zu jenem Kurt Held, dem wir auch «Die rote Zora» danken.

Den «Schwarzen Brüdern» verdanke ich manch freundliches Wort. Nannte ich in der Zeit von Schwarzenbachs «Überfremdungsinitiativen» meinen Vornamen, kam ich – der «Tschingg» –, in den Genuss der freundlichen Anteilnahme, die der Held des helvetischen Jugendbuchbestsellers bei seinen Leserinnen und Lesern gewonnen hatte.

Giorgio wird zusammen mit anderen halbwüchsigen Tessiner Buben im finsteren 19. Jahrhundert aus den armen und übervölkerten Tessinertälern nach Mailand als Schornsteinfegergehilfe verdingt. Dort erleben sie die Wohltaten eines gutherzigen Arztes. Aber auch die geballte Härte des norditalienischen Stadtbürgertums, in deren verrussten Kaminen die Kinder in der Blüte des Kapitalismus ihr Leben aufs Spiel setzen müssen.

Wende. Das Buch markiert auch einen Wendepunkt in der Ehe Lisa Tetzner/Kurt Kläber (aka Held). Bis anhin war Frau Tetzner für die Kinderherzen zuständig, während Kurt Kläber als kommunistischer Literat das Weltanschauliche für Erwachsene beackerte. 1933 wurde er nach dem von den Nazis inszenierten «Reichstagsbrand» verhaftet. Seine Bücher wurden verbrannt.

Lisa Tetzner, die unbedenkliche Bürgerstochter und Radiomärchentante, durfte noch bis 1937 in Deutschland publizieren. Aber sie musste um die Freilassung ihres Mannes kämpfen und folgte ihm ins Schweizer Exil nach Carona. Hier erwartete Kläber ein Schreibverbot und die übliche fremdenpolizeiliche Praxis.

Lisa Tetzner nahm einen Lehrauftrag in Basel an, Kurt Kläber versuchte sich in kleinbäuerlicher Selbstversorgung. Im Jahr des Zusammenbruchs Frankreichs, als General Henri Guisan den Rütli-Rapport abhielt und der Schriftsteller Walter Benjamin in Port Bou Selbstmord machte, erschien das Buch unter dem Namen Lisa Tetzner. Es scheint aber wesentlich das Werk Kurt Kläbers gewesen zu sein, der schon im Jahr darauf unter dem Pseudonym Kurt Held den viel gelesenen Klassiker «Die rote Zora» vorlegte.

Jugend. Das Ehepaar trotzte der Zeit. Um das geistige Fundament dieser Dichterehe zu begreifen, sei die erste Begegnung der beiden, wie sie Lisa Tetzner später schilderte, zitiert: «Es war im Jahr 1919. Ich wanderte Märchen erzählend durch den Thüringer Wald. In einer kleinen Stadt, Lauscha, dem Mittelpunkt der Glasbläser, traf ich eine laute Kirchweih (...) Besonders eine Bude fesselte sofort meinen erstaunten Blick. Davor stand ein junger Bursche mit dichtem, braunem, ziemlich struppigem – oder sagen wir offen – liederlichem Haar. Es fiel ihm bei jeder Bewegung über Augen und Nase und wurde dann mit kühner Kopfbewegung nach rückwärts geworfen. Er trug nach damaliger Wandervogelart einen rostbraunen Leinenkittel mit dem freideutschen Jugendabzeichen, kniefreie schwarze Manchesterhosen, nackte Beine und Sandalen, so genannte Jesuslatschen.» 1924 wurde geheiratet.

Gastarbeiter. Kläber hoffte lange auf den Kommunismus. In seinem 1927 erschienenen ersten Roman «Passagiere der III. Klasse», in dem er Gespräche von Atlantikreisenden montiert, lässt er einen russischen Bauern auftreten, der, obwohl es ihm in den USA nicht schlecht ging, nach Hause will, weil ihm sein Vater geschrieben hat: «Wir haben ein neues Väterchen in Moskau: Wladimir Iljitsch (Lenin) ... Er hat allen die Freiheit geschenkt und uns Feld gegeben. Es ist Feld auch für dich da.»

Feld und Freiheit fand Kurt Kläber im Tessin bei Mutter Helvetia und in Lisa Tetzners Liebe. Hier wurde er Held und 1948 – nach «Der Trommler von Faido» – Schweizer Bürger. Lisa Tetzner überlebte ihn um vier Jahre und setzte diesem Tessiner «geistigen Gastarbeiter» in «Das war Kurt Held» 1961 ein literarisches Denkmal.

> «Die Schwarzen Brüder» werden in Walenstadt noch bis zum 21. August gespielt. www.dieschwarzenbrueder.ch

Dieser Artikel erschien am 23. Juli 2010 auf der 2. Seite der "Basler Zeitung".
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kopf des tages
Lisa Tetzner/Kurt Held


Samstag, 10. Juli 2010

Schweiz II (aus Com&Com-Lexikon)


Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in lieblicher Landschaft im Herzen Europas. Entwickelte am Schnittpunkt von römischer Rechtskultur und germanischem Gemeinschaftssinn schon im Hochmittelalter jenen rational-schonenden Umgang mit kargen Natur-Ressourcen und gemeinsamen Waschküchen (Nachhaltigkeit), den Prof. Dr. Ostrom zum Muster erhob (Nobelpreis 2009). Friedrich Dürrenmat, der die Schweiz vor seinem Tod als selbstverwaltetes Gefängnis beschrieb, was überzeugt: „Die Welt wird untergehen oder verschweizern, gemütlich wird es auf alle Fälle nicht.“

Geschichte: Ausgehend von der Nidwaldner „Uerte“ als korporativer Nutzgenossenschaft (Kolchose) von Wald und Weide (Allmende) und der Korporationen Uri, Urseren und Schwyz, entwickelte sich der Bund (CONFOEDERATIO HELVETICA): „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Politische Entscheidungen wurden seit jeher in Mordnächten hinterrügsli“ gesucht („Die Nacht der langen Messer“). 1499 wurden die juristischen und fiskalischen Steinbrücken über den Rhein abgebrochen (Schwaben- oder Schweizerkrieg), weil Maximilian I. die Reichskasse füllen und seinen kühnen Schwiegervater Karl rächen wollte. Nach dem Sieg wollten alle ‚Schweizer werden’. Basel und Schaffhausen durften 1501 beitreten und 1513 auch die Appenzeller (die „wilde 13“ was komplett): Konstanz, Strassburg, Mühlhausen und Vorarlberg schafften es nicht.
In Genf schrieb der Jurist Johannes Calvin die Lehre der „Uerte“ auf Lateinisch und lieferte die Theologie zum Tyrannenmord Tells. Das Spiel dazu schuf 1804 der „RäuberFritz Schiller, nachdem der Professor Friedrich Schiller, geschockt vom Justizmord am wehrlosen „allerchristlichsten König“ 1793 der Menschheit eine „ästhetische Erziehung“ verpassen wollte. Das Fussvolk des konfessionellen Dschihads Zwinglis schöpfte aus der „Kappeler Milchsuppe“ 1529 das helvetische Toleranzmodell. Auch Napoleon begriff nach stürmischen Jahren 1803, dass Eidgenossen keine Freunde des Zentralismus sind und nach Waterloo wurde in Wien die Eidgenosschenschaft der 22 Konatone zur „immerwährenden, bewaffneten Neutralität“ verpflichtet.
1847 fiel im Hochland der erste Schuss für die moderne liberale Demokratie, die 1848 „im Namen des Allmächtigen“ sich nach amerikanischem Vorbild verfasste und Dank dem Franken, auf dem sich die 1850 sitzende Helvetia, 1856 Preussen mit Waffen drohte, 1874 zur stehenden erhob und den obligatorischen Übungen mit der persönnlichen Ordonnanzwaffe ab 1874 setzten sich in dern 1860ern direkte Demokratie, Judenemanzipation, das „Rote Kreuz“ und Bekenntnisfreiheit der Reformierten durch. 1891 feierte der Bund sein 600jähriges Bestehen durch die Aufnahme der Katholiken in die Konkordanz des Bundesrates. Im Ersten Weltkrieg blieb die Schweiz, wie im Zweiten auf einem humanitären aber wirtschaftlich dank der Kundendiskretion („Bankgeheimnis“) nicht unvorteilhaften Beobachtungsposten, der sich im ‚Schweizerspiegel’ Meinrad Inglins spiegelte. Dem Bolschewismus zeigte die Armee 1918 im Generalstreik die blanken Säbel, um 1959 auch die patriotische Sozialdemokratie mit der ‚Zauberformel’ in die Konkordanzregierung einzubinden. Dazwischen lag der ‚Aktivdienst’ im Geist der ‚Landi 1939’. Aus dieser Schicksalsstunde der Willensnation wurde der Kern des Sozialstaates geschmiedet: die 1948 eingeführte AHV.
Kunst Dann kam das ominöse 1968. Die „drei Tellen“ der Kunst, Harald Szeemann (1933 – 2005), der ‚geistige Gastarbeiter’ („when attitudes become form“ Bern, 1969), Dieter Meier (*1945), der urbane Kunstgeck („this man will not shoot“, Matthiasabend 1971 in New York) und H.R. Giger (*1940) der apokalyptische Erotiker („Alien“, Hollywood, 1979) beschworen neu den Kunst-Bund. 1971 wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt. Im gleichen Jahr erblickte Johannes M. Hedinger in St.Gallen das Licht der Welt, das Marcus Gossolt schon zwei Jahre genoss. 1979/1980 setzte Bettina Eichin (*1942) die Helvetia müde und entwaffnet ans Rheinufer in Basel, es kam die Epoche der ‚zynischen Vernunft’ (Sloterdijk, 1983). Und Johannes und Marcus warden Kunst-Zyniker, denn das „Fräulein“ war tot, aber das versicherte Leben mit AHV im Atombunker eidgenössisch garantiert, die Welt nur durch Kunst zu retten. 1989 fiel die Mauer des Bolschewismus, das Schweizervolk wollte direktdemokratisch Armee bleiben, kam aber in den Staatsschutzakten zum Bewusstsein seines Seins: das selbstverwaltete Gefängnis. 1991 beim 700-jährigen Jubeljahr meinten Max Frisch & Konsorten: „Siebenhundert Jahre sind genug“, aber der Niklaus Meienberg rplizierte in heiligem Zorn: „sauvez la suisse, coute que coute!“. 1997 entstand Com&Com, eine Doppel-Ich AG von Johannes zur künstlerisch-medialen Selbstrettung und dem Verkauf von künstlerischen Schrottpapieren (Ospels der Kunstwelt). Im annus horribilis 2001, als die Twin Towers in New York als tönerne Kolosse dich erwiesen, der Gotthard-Tunnel brannte, die Swissair groundete und Friedrich Leibacher im Rathaus des Zuger Steuerparadieses ein Blutbad (‚Zuger Ratsherrenschiessen’) anrichtete, war das Menetekel der apokalyptischen Zeitenwende, trotzdem wurde die Expo.02 zu einem letzten Fest postmoderner Selbstironie. Wie non 2008 die Finanzkrise kam. Steht sie immer noch: die Schweiz.

Aus: „la réalité dépasse la fiction: Lexikon zur zeitgenössischen Kunst von Com&Com“ Johannes M. Hedinger, Marcus Gossolt, Centre PasquArt Biel/Bienne (Hrsg.) Niggli Verlag 2010. S. 150f.
Weitere Lemmata, die online sind:
Tradition (Pius Knüsel)