Donnerstag, 17. November 2011

Fight for your right to Party

Folgende Carte Blanche aus dem Mamablog von Julian J. Schärer übernehmen wir aus folgenden Gründen: 1. Es meldet sich eine Jugend zu Wort mit dem Willen zur Verantwortung, 2. Der Text hat etwas im besten Sinne "bekenntnishaftes", 3. es scheint am Ende die Sehnsucht nach einer generationen-übergreifenden "Liturgie" auf, die sich aus dem herrschenden Mainstream des individualistischen Konsumismus abheben will.


»Fight for your Right to Party» sangen die Beastie Boys. Heute bedeutet Party für viele einfach nur noch zerstören aus persönlicher Wut.

Früher wurde dafür gekämpft, das man Partys feiern durfte. Heute sind Partys für viele einfach nur ein Ventil für Wut und Zerstörung: «Fight for your right to party» ist ein Song der Band Beastie Boys (im Bild oben).

Ich bin 19 Jahre alt und ein Wohlstandskind. Ich hatte nie echte Probleme oder Ängste und dafür bin ich dankbar.

Trotzdem, oder gerade deswegen, zieht es mich Wochenende für Wochenende an Partys. Auch und besonders an exzessive und illegale. Die ganzen Strapazen des mühsam und sinnlos erscheinenden Schulalltags, die nervigen Gesichter von Lehrern und Mitschülern, der sonst omnipräsente Weltschmerz gehen vergessen. Ich suche nicht Krawall, sondern ausgelassene Momente mit Freunden und Fremden, den Rausch und das Versprechen der Nacht, an einem Ort zu landen, den ich noch nicht kenne, Grenzen zu überschreiten, die mir bis dato unbekannt waren. Dieses Gefühl, wenn jegliches Streben vergeht, wenn bloss Glück und Zufriedenheit bleiben.

Allzu oft bleibt dieser Moment aus. Weil ich mir die Party nicht leisten kann oder zu jung bin, um reinzukommen. Weil die Leute bescheuert, unsympathisch, aggressiv sind. WeilTürsteher, Polizisten und besoffene Stressköpfe dich doof anmachen. Oder am schlimmsten: Die Musik so scheisse ist, dass es einer akustischen Vergewaltigung gleichkommt. Danach ist der Heimweg hart und einsam, es bleibt nur die Hoffnung auf das nächste Wochenende.

Mamablog

Ein Jugendlicher bewirft nach einer Party in Zürich Polizisten.

Fight for your right to party? Die hohen Ansprüche eines Wohlstandskindes machen vor Partys nicht Halt. Wo diese nicht erfüllt werden, lauert Frustration. Und die kennt viele Wege, um sich ihre Bahn zu brechen. Ich persönlich nehme keine Eisenstangen zur Hand oder werfe Steine und Armeemesser, wie andere Vertreter meiner Generation. Aber ich kenne jene, die es tun, und es hat selten ausschliesslich mit fehlenden Freiräumen zu tun, auch selten mit fehlendem Wohlstand, sondern mehr mit individuellen Problemen. Unter dem Beastie-Boys-Deckmantel wird der persönlichen Wut freien Lauf gelassen.

So sehr ich illegale Partys schätze, ich finde dieses Verhalten einfach nur kriminell. Natürlich spielt Gruppendynamik bei den Ausschreitungen eine Rolle. Aber ich und die «Szene», welche solche Veranstaltungen organisieren, wir müssen uns eingestehen, dass wir die falschen Leute anziehen. Diesbezüglich herrscht eine fatal naive Toleranz. Man denkt, es sind doch nur ein paar Spinner. Leben und leben lassen, wir wollen schliesslich auch illegale Partys feiern. Aber langsam denke ich, dass darunter noch eine grössere, gesellschaftspolitische Frage lauert.

Wir sind alle überfordert. Für die Politik sind die Krawalle ein Anlass, ihre Lieblingsbegriffe Kuscheljustitz und Integration in die Runde werfen, die Medien schlachten das Ganze aus und die Intellektuellen können sich mit ihren Kommentärchen dazu rühmen. Für Jugendliche wie mich sind sie nur ein weiterer Grund, neue Partys zu feiern. All dies zusammen ergibt diese Suppe von Gesellschaft, die mir einfach nicht schmeckt.

Wenn ich mich unter Freunden und Bekannten umhöre, stimmt mich das wenig optimistisch. Alles und jeder ist unverbindlich, spontan und von Kopf bis Fuss durchindividualisiert. Ein geschlossenes Agieren wird so fast unmöglich. Ich wünsche mir mehr Zusammenhalt und Organisation. Die Schnittmenge von Konsumenten und Produzenten muss sich vergrössern. Das würde von Wertschätzung zeugen. So dass alle als Gleichgesinnte, ohne Gesindel, die Musik, dieses Gefühl feiern können, das uns doch alle verbindet. Auch generationenübergreifend.

Auch wenn die gewalttätigen Chaoten nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen, müssen wir uns fragen: Wollen wir diese Gewaltbereitschaft noch länger hinnehmen? Dieser Verantwortung kann sich meine Generation nicht entziehen.

Wir danken Julian J. Schärer für diesen Beitrag.


Freitag, 4. November 2011

Lübbe: Das Recht der Religionen

aus der FAZ 26.04.2011

Der folgende Artikel nimmt Bezug auf die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Diese sind bezüglich des Staatskirchenrechtes den schweizerischen nicht unähnlich. Darum und weil Lübbe lange Jahre in Zürich wirkte, wo er jetzt auch wohnt, sei der Artikel - der in einer etwas zweifelhaften Umgebung vorgefunden wurde - in die Willensnation eingefügt.

Von Professor Dr. Hermann Lübbe: Emeritierter Professor für Philosophie und Politische Theorie (Universität Zürich) und Senior Fellow an der Universität Essen.

Lauter und häufiger hört man wieder in Deutschland Stimmen, die eine radikale Trennung von Staat und Kirchen verlangen. Die „Staatsleistungen“ an die Religionsgesellschaften seien endlich abzulösen, wie es die Verfassung selber verlange. Auch von den Kosten der Pfarrerausbildung an den Theologischen Fakultäten der staatlichen Universitäten seien die Länder zu entlasten. Den Einzug der Kirchensteuern sollten künftig die Kirchen selbst bewerkstelligen. Die Anrufung Gottes sei im Verfassungsrecht unpassend. Die Europäische Union habe doch darauf in ihrer Grundrechte-Charta, entgegen bischöflichen Wünschen, gleichfalls verzichtet. Wieso sei in Deutschland immer noch, sogar im Grundgesetz festgeschrieben, der Religionsunterricht „ordentliches Lehrfach“, dem einzig durch Berufung durch das Menschenrecht der Religionsfreiheit zu entkommen sei? Andere große und wichtige Länder der westlichen Wertegemeinschaft kennten doch dergleichen auch nicht – Frankreich zum Beispiel oder auch die Vereinigten Staaten.

Mit Argumenten wie diesen wird schließlich das ganze traditionsreiche deutsche Staatskirchenrecht in Frage gestellt. Die Kirchen ihrerseits fühlen sich kulturkämpferisch von einem neuen Laizismus attackiert, der wieder einmal die Religion vollständig in das Privatleben zurückdrängen möchte. Überreste laizistischer Orientierung gibt es tatsächlich. Wichtiger sind andere Gründe, die das Verhältnis von Staat und Kirchen neuerlich zum Problem haben werden lassen.

Worum handelt es sich? Zunächst: Die Präsenz der Kirchen in der kulturellen und politischen Öffentlichkeit hat sich durch die Kirchenaustritte geändert, und zwar dramatisch. Die Bewegung verläuft seit einem halben Jahrhundert kontinuierlich. Austrittsschübe gab es um 1970 und um 1990 mit jeweils nachfolgender Beruhigung. Die Protestanten sind von den Austrittsschüben am stärksten bedrängt. Aber die Katholiken folgen ihnen mit einigem Abstand in verblüffender Parallelität. Um 1950 waren noch gut 95 Prozent der Deutschen zugleich Kirchenmitglieder. Inzwischen sind es nicht einmal mehr 70 Prozent. Die Zahl der Städte wächst, in denen der Anteil der kirchenverbundenen Einwohner auf weniger als 50 Prozent gesunken ist. Das ist sogar ein europäischer Trend. Zu Beginn des Jahres 2011 gab der Wiener Erzbischof bekannt, in der Hauptstadt Österreichs betrage der Anteil der Katholiken gerade noch 40 Prozent.

Anders als Deutschland kennt Österreich einen staatlichen Kirchensteuereinzug nicht. So oder so: Die wichtigsten Einnahmen der Kirchen, die Steuern eben, sinken ihrerseits mit den Mitgliederzahlen. Kirchenleistungen, die unabhängig von den Mitgliederzahlen zu erbringen wären, werden mitunter unfinanzierbar. Die Absicht, Kirchensteuern zu ersparen, ist eines der stärksten Motive für den Kirchenaustritt – häufig in Verbindung mit der bemerkenswerten Auskunft, Christ könne man auch außerhalb der Kirche sein.

Das Motiv, Steuern zu sparen, entfiele bei einer staatlichen sogenannten Widmungssteuer, wie sie zum Beispiel Italien eingeführt hat. Diese Steuer verpflichtet die Bürger, den Steueranteil, den sie der Kirche nicht mehr zukommen lassen möchten, alsdann einer anderen gemeinnützigen Körperschaft zuzuwenden. Es hat seine Evidenz: Allein schon die Kirchensteuerfrage wird eine Revision des geltenden Staatskirchenrechtssystems erzwingen.

Schon hat man in den Kirchen hören können, komplementär zu den schwindenden Steuereinnahmen müssten dann eben Staatsleistungen umso wichtiger werden, deren sich die Kirchen in Deutschland erfreuen können – zum Teil in kontinuierlich gewährleistetem Ausgleich staatlicher Einziehung kirchlichen Vermögens, der Klöstergüter zum Beispiel, im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss des Jahres 1803. Das sind die „besonderen Rechtstitel“, die das Grundgesetz im fortgeltenden Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung erwähnt. Indessen: Derselbe Verfassungsartikel verlangt, die historisch begründeten Staatsleistungen zugunsten der Kirchen abzulösen, und es ist kein Zufall, dass inzwischen öffentlich verlangt wird, diesen Verfassungsauftrag endlich zu erfüllen.

Wieso geschah das bislang nicht? Formell fehlt es an einem Bundesgesetz, das nach dem Wortlaut der Verfassung „Grundsätze“ für die fragliche Ablösung aufzustellen hätte. In der Realität ließe sich freilich mit diesem unerfüllten Verfassungsauftrag gut leben, und für die Kirchen gilt das zumal. Jetzt also wird öffentlich an diesen Auftrag erinnert, und es handelt sich dabei nicht um eine juristische Konsequenzmacherei, die verlangt, dass doch, was seit mehr als neunzig Jahren von der Verfassung verlangt wird, endlich auch zu geschehen habe. Die Kirchenaustritte haben den Kreis der Wähler anschwellen lassen, die als Steuerzahler für jene Staatsleistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden möchten.

Gewiss: Die „Rechtstitel“, die die Staatsleistung der Kirchen historisch legitimieren, sind gut beurkundet. Aber ihr Alter macht sie allmählich kraftlos. Man stelle sich eine Haushaltsdebatte in einem Parlament vor, in der die Verteidiger traditioneller Leistung zugunsten kleiner Kirchenstiftungen, argumentativ bedrängt, schließlich auf den Paragraphen 35 des Reichsdeputationshauptschlusses als letztinstanzliche Verpflichtungsgrundlage verwiesen. Man hätte mit verständnislosem Kopfschütteln, ja mit Gelächter zu rechnen.

In der politischen Quintessenz heißt das: Der verlässlich realisierbare materielle Wert vieler Anspruchsgrundlagen der Staatsdotationen nimmt fortschreitend ab. Die Kirchen könnten gut beraten sein, den noch realisierbaren Wert der verfassungsgemäßen Ablösung dieser Dotationen alsbald in Anspruch zu nehmen.

Auch subtiler als Geld wirkende Faktoren gibt es, über die das geltende Staatskirchenrecht dazu beiträgt, die öffentliche kulturelle und politische Präsenz der Kirchen zu schwächen, anstatt zu stärken. Das gilt auch für den Religionsunterricht, den das Grundgesetz in öffentlichen Schulen als „ordentliches Lehrfach“ festschreibt. Zugleich aber gewährleistet die Verfassung, ungleich wichtiger, die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und damit das Recht religionsmündig gewordener Schüler, sich vom staatlichen Religionsunterricht abzumelden. Gelegentlich taten das viele, heute eher nicht mehr.

So oder so sind die Religionsunterrichtsdissidenten verpflichtet, an einem Ersatzunterricht teilzunehmen, der vielerlei und jedenfalls „Ethik“ bietet. Das hört sich gut an. Auch unsere Religionen und Konfessionen halten uns zur Beachtung der Regeln guten Lebens an, und das sollte auch für diejenigen gewährleistet bleiben, die im Übrigen auf Religion keinen Wert mehr legen.

Religion nach freiem Belieben, Ethik unbedingt – so also wollen es bei uns Verfassung und Unterrichtsgesetze. Tatsächlich ist, wenn man am staatlichen Religionsunterricht festhalten möchte, eine andere Gewichtung von Religion einerseits und Ethik andererseits rechtlich nicht möglich. Aber diese Regelung beschädigt zugleich öffentlich die Wahrnehmung dessen, worum es sich bei der Religion überhaupt handelt. Unser Staatskirchenrecht fördert die Neigung, die Religion hauptsächlich noch wegen ihres moralischen Mehrwerts zu schätzen.

Ein Anzeichen dieses Vorgangs, der die religiöse Kultur tiefreichend schädigt, ist der inflationäre Gebrauch des Wertebegriffs in der Politik. In den kanonischen Schriften unserer religiösen und ethischen Überlieferung kommt der Begriff Werte gar nicht vor. Er entstammt der Ökonomie. „Wert“ – das ist ein Begriff für unsere umständehalber stets schwankende Schätzung von Gütern und Tugenden. Und der Wert des Kulturguts der Religion sinkt, wenn sie in unserer Religionsunterrichtsgesetzgebung hauptsächlich ihrer ethischen Gehalte wegen verpflichtend gemacht wird.

Dabei ist es nicht schwer, sich daran zu erinnern, worum es sich bei der Religion weit über Moral hinaus und sogar vorrangig handelt. Die drei ersten der Zehn Gebote der mosaischen Gesetzestafel haben mit Moral nicht das mindeste zu tun, die Hochfeste des christlichen Kirchenjahres von Weihnachten über Ostern bis Pfingsten ebenso wenig, und sogar das Grundgesetz schützt den christlichen Sonntag und nicht einen Wertebekenntnistag als Tag der „seelischen Erhebung“.

Gottesliebe ist als religiöses Gebot aus dem kategorischen Imperativ nicht ableitbar, und besser als bei Immanuel Kant, der über die religiösen Riten der Tibeter zum Beispiel in verblüffender, aber im Aufklärungszeitalter verbreiteter Weise spottete, ließe sich bei Friedrich Schleiermacher lernen, worum es sich bei der Religion weit über die Moral hinaus handelt.

Einst hat das Staatskirchenrecht vor allem die Aufgabe gehabt, in strikter Parität die Rechte und die öffentliche Präsenz der Großkirchen unserer nachreformatorischen, konfessionellen Traditionen gesetzlich zu festigen und zu sichern. Heute erweist sich die Fähigkeit des Staatskirchenrechts als unzureichend, die unaufhaltsamen Pluralisierung religiöser Kulturen zu verarbeiten. Der Versuch, die muslimischen „Religionsgesellschaften“, soweit sie überhaupt schon rechtlich konstituiert sind und somit auch eindeutig identifizierbare Mitgliedschaften kennen, analog zu den Kirchen zu kulturell und politisch repräsentativen Körperschaften des öffentlichen Rechtes erheben zu wollen, ist in absehbarer Zeit weder aussichtsreich noch sinnvoll.

Die Orientierung am Staatskirchenrecht bei Bemühungen, den auch für muslimische Kinder schulrechtlich verbindlichen Religionsunterricht endlich effektiv anzubieten, beschädigt sogar die Geltung des Staatskirchenrechts durch den Erweis seiner einschlägigen Untauglichkeit.

Die vermeintlich gute politische Meinung ist, die muslimischen Kinder aus der „Koranschule im Hinterhof“ zu emanzipieren und mit Hilfe der Staatsschule an den Segnungen der Aufklärung teilhaben zu lassen. Verkannt wird darüber in schwerwiegender Weise die Rolle, die die Religionen in Aufklärungsprozessen tatsächlich spielen. Religionen machen politische Aufklärung dauerhaft nicht über eine staatliche Unterrichtung über sie. Staatlich verbindlich gemachter und akademisierter Religionsunterricht erscheint vor diesem Hintergrund eher als ein Relikt aus der Vormodernität einer kleinen Zahl paritätisch privilegierter Vorzugskonfessionen.

Die Grenzen des Staatskirchenrechts spiegeln sich auch im jüngeren Umgang mit Religionsgemeinschaften, die im Unterschied zum inzwischen machtvoll präsenten Islam sehr klein sind. Für die Zeugen Jehovas zum Beispiel gilt das. An Wahlen pflegen diese Zeugen in ihrer Rolle als Bürger bekanntlich nicht teilzunehmen. Man versteht durchaus, dass zuständige Landesbehörden fanden, hier mangle es an „Staatsloyalität“, was mit dem begehrten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts unverträglich sei. Andererseits ist die Teilnahme an Wahlen keine gesetzliche Bürgerpflicht. So entschied das Bundesverfassungsgericht dann zugunsten der Zeugen Jehovas. Ernst Wolfgang Böckenförde hatte schon 1999 befunden, dass, wenn der Umgang der Zeugen Jehovas mit dem Wahlrecht ausschlösse, sie zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu machen, doch auch „für die katholische Kirche bis zur Erklärung der Religionsfreiheit des 2. Vatikanischen Konzils, wäre sie nicht schon Körperschaft gewesen, eine Anerkennung“ als solche nicht hätte erfolgen dürfen.

Es erübrigt sich, mit analogen Geschichten fortzufahren. In ihrer Summe machen sie die Sachzwänge sichtbar, die rechtspolitisch einen Wandel des privilegierenden Staatskirchenrechts zu einem allgemeinen Religionsrecht nahelegen. Der vormalige nordrhein-westfälische Kultusminister Paul Mikat (CDU) hatte diesen Wandel schon vor dreißig Jahren angekündigt, und der Grazer Jurist Wolfgang Mantl prognostizierte kürzlich vor dem Hintergrund eines instruktiven Berichts über die älteren und konsolidierteren Erfahrungen Österreichs mit der religionsrechtlichen Integration des Islams, die „Pluralisierung religiöser Assoziationen“ werde „früher oder später . . . zur US-amerikanischen Situation der Minimierung des staatlichen Interesses an der öffentlich-rechtlichen Körperschaftsverfassung der Religionsgemeinschaften führen“. Für ideelle Gruppierungen, also Weltanschauungsgemeinschaften und religiöse Assoziationen, biete sich doch „die Rechtsform des Vereines“ an.

In der Tat kennt das amerikanische Religionsrechtssystem die Schwierigkeiten nicht, die unserem Staatskirchenrecht zwangsläufig aus der rasch fortschreitenden Pluralisierung des religiösen Lebens erwachsen. Selbstverständlich kann man die für Amerika schon immer typische strikte Trennung von Staat und Kirche nicht einfach auf europäische Verhältnisse übertragen. Aber es lohnt sich, bei den Erörterungen über die Zukunft des Staatskirchenrechts europäischer Tradition die Vorzüge gegenwärtig zu halten, die mit einer konsequenteren Trennung von Staat und Kirche gerade auch für die öffentliche Präsenz der Religion in Kultur und Politik verbunden sein können.

Die amerikanische Verfassung verbietet strikt die Gewährung staatlich etablierter Privilegien zugunsten der Religionen, Konfessionen und ihrer Kirchen. Andererseits erwarten die Bürger von ihren Präsidenten religiöse Bindung und Prägung, und ohne diese Prägung wären sie kaum in ihr Amt gewählt worden. Ist der Präsident ein Christ – und das waren die Präsidenten der Vereinigten Staaten bislang ausnahmslos -, so legt er beim Amtseid die Hand auf die Bibel. Sogar öffentlich darf er in Amtsausübung beten. Betanlässe gibt es in der Politik fortdauernd reichlich – den frommen Wunsch „God bless you!“ zum Beispiel am Ende von Staatsbesuchen in katastrophenbedrängten armen Ländern. So tat es Clinton mehrfach in Afrika. Auf jeder Dollar-Note sogar wird inschriftlich Gottvertrauen bezeugt. „Zivilreligion“ nennt man das.

Demgegenüber wirkt bei uns das öffentliche Leben politisch hochsäkularisiert und das christliche Leben hochverkirchlicht. Just die Privilegien, die das Staatskirchenrecht den Kirchen gewährt, sind besonders wirksame Faktoren dieser Verkirchlichung. Die gemeine christliche Prägung unserer Kultur wird demgegenüber öffentlich bis in die Politik hinein eher zögerlich, ja gelegentlich beflissen zurückhaltend bekundet. Sogar in der Rechtsprechung in Religionsangelegenheiten wirkt sich das aus.

Der „Kruzifix-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 belegt das eindrucksvoll. Die Richter-Mehrheit, die diesen Beschluss trug, war sichtlich bemüht, das Schulkreuz in seinem Symbolsinn kirchennah als verbindliches Zeichen eines zentralen und verpflichtenden Glaubensgehalts zu interpretieren. Das Kreuz verlange mehr als eine grundrechtlich unschädliche „Anerkennung“ des Christentums als eines „prägenden Kultur- und Bildungsfaktors“, so hieß es in der Urteilsbegründung. Entsprechend sei seine Anbringung in öffentlichen Schulräumen mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit der Schulpflichtigen unverträglich.

Ebendas kann man auch anders sehen – wie die beim Kruzifix-Beschluss unterlegene Richter-Minderheit, welche fand, unbeschadet des sich kirchenintern mit dem Kreuz stets verbindenden Glaubensanspruchs sei es doch weit über die Grenzen der Kirchenräume hinaus ein omnipräsentes Symbol „der christlich geprägten abendländischen Kultur“. Von den Wirkungen und Manifestationen dieser Kultur sich vollständig fernhalten zu sollen, könne auch dem Staat realistischerweise nicht angesonnen werden. Sähe man es nicht so, wären schließlich auch noch die Kreuze aus zahllosen Landes- oder Gemeindewappen zu entfernen oder Kreuze, die Dissidenten, ja auch Muslime oder Juden sich bislang auf Urkunden, Amtsschreiben oder in Gestalt von Bundesverdienstkreuzen gefallen lassen müssen, darüber hinaus sogar auch noch die Mutter Gottes im Dienstsiegel der staatlichen Ludwig-Maximilians-Universität auf den Doktor-Urkunden schiitischer Ärzte aus Teheran, die in München ihr Studium abgeschlossen haben.

Wäre das alles ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit und damit verfassungswidrig, so wären es schließlich die zahllosen Kreuze auf unseren Friedhöfen auch noch, soweit es für sie nach Lage der Dinge bei der Erfüllung gesetzlicher Bestattungspflicht auch für Nichtchristen in Einzelfällen keine Alternative gibt. Sogar die zumeist von Angehörigen privatrechtlicher Vereine errichteten Gipfelkreuze wären eine Verfassungsbeschwerde wert, nämlich dann, wenn für ihre Kosten (was häufig vorkommt) auch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln der Gemeindekasse geflossen wären.

Es hat seine Evidenz: Die fraglichen kulturellen Bestände verlangen eine andere Art der Beschreibung. In ihrer Summe repräsentieren sie bis in die öffentlichen Räume hinein eine religiös mitgeprägte Mehrheitskultur, die Angehörigen religiöser Minderheiten gar nichts aufdrängt. Sie verlangt lediglich den Respekt ihrer faktischen Mehrheitspräsenz: So lebt man hier eben seit langem – mit Kreuzen im Wappen von Trier, Wien oder Schwyz, mit der kulturellen Dominanz christlicher Feiertage im Kalender und auch noch mit einer staatlichen Denkmalpflege, die unbeschadet der Gleichverteilung des Grundrechts der Religionsfreiheit gemäß der Prägung unserer Landschaften und Altstädte disproportional häufig mit der Restauration von Klöstern, Kathedralen und Dorfkirchen beschäftigt ist.

Wahr ist, dass unsere Kultur sich gegenwärtig einschließlich ihrer religiösen Herkunftsprägungen dramatisch wie nie zuvor wandelt und pluralisiert. Die Freiheit der Religion macht es möglich. Aber ein Recht religiöser Minderheiten auf paritätische Präsenz im öffentlichen kulturellen Raum folgt aus dieser Freiheit nicht. Im staatskirchenrechtsfreien amerikanischen Exempel heißt das: Man verstünde durchaus, wenn dort gern auch einmal die Muslime – immerhin etwa drei Prozent der Bürger des Landes – Zeugen des Beginns der Präsidentschaft eines ihrer Gläubigen würden, bei welchem die Schwurhand beim Amtseid, statt wie bisher auf der Bibel, auf dem Koran läge. Aber die Kultur, die im Rahmen gleich verteilter Bürgerrechte mit ihren Pluralisierungsfolgen unverändert vorherrscht, beruht nun einmal auf Mehrheit, die dauert – von strikt herrschender Religionsfreiheit begünstigt und von keinem auf Paritätsgewährleistung verpflichteten Staatskirchenrecht ernsthaft bedrängt.

Samstag, 29. Oktober 2011

Der Souverän will keine "Konfessionslose"


„Wahltag ist Zahltag“ spricht der Volksmund. Es soll hier darum der elektorale Erfolg des nicht gewählten Präsidenten der Zürcher Sektion der „Freidenker“ und Frontmannes der „Konfessionslosen“, Andreas Kyriacou („klinischer Linguist“, „Neuropsychologe“, Doktorand, Unternehmer oder je nachdem auch „Berater für Wissensmanagement“) untersucht werden. Zur Vorgeschichte: Andreas Kyriacou politisierte auch bei den Grünen des Kantons Zürich, wo er in verschiedenen Vorständen (Stadt, Kanton, Nationalpartei) anzutreffen ist. Die Wahl in den Zürcher Kantonsrat verpasste er aber auf der Liste der Grünen Partei, während die "Piraten" immerhin das beachtliche Resultat von 0,58 % (Nullkommafünfacht) erreichten. Nachdem er als Schulpfleger resignierte, verlegte er, der auch im Vorstand der Secod@s mitwirkt, seine Aktivitäten auf die „Freidenkerei“. Eine gute Wahl, denn der überalterte serbelnde Verein (gegr. anno 1908) schaffte es ab 2008 mit rührigem Aktivismus der neuen Geschäftsführerin Reta Caspar (NZZ-Porträt) sich in den Medien überaus effektvoll darzustellen („Club“, „Arena“, „Beobachter“, „NZZ am Sonntag“). Auch Andreas Kyriacou ist ein Meister der PR. Er durfte im „Mamablog“ und im edleren „NZZ-Votum“ für seine Anliegen der religionsfreien Gesellschaft werben. Ja die NZZ adelte den Freidenker-Präsidenten, der auch in der „Zeit“ von einer Journalistin porträtiert wurde (als Werbung zum denk-fest der Freidenker), in dem sie ihm als „Bildungsexperten“ die Spalten der renommierten Seite „Bildung und Gesellschaft“ (NZZ vom 26.Oktober 2011: „Missionarischer Alleingang“) füllen liess. Dies weil die Freidenker gegen das neue, mühsam geschaffene Fach „Kultur und Religion“ ein Sperrfeuer der Kritik erhoben. Kyriacou beschloss nach der Nichtwahl auf der Liste der Grünen und ermutigt durch mediale Aufmerksamkeit, eine Allianz der "Rationalisten". Zu der schon gut eingeführten "Alternativen Liste" (Grosser Erfolg Volksabstimmung gegen die Pauschalbesteuerung) wollte er mit dem Treibsatz der trendigen "Piraten" (in Winterthur schon ein Sitz im Gemeindeparlament, gemeinsames Ziel: "Laizismus") die Sache der Konfessionslosen verknüpfen.

Wie gesagt: Wahltag ist Zahltag. Es lohnt sich anhand der Panaschierstatistik die Wirkung Kyriacous im Parteispektrum zu prüfen. Wir stellen die Panaschierstimmen Kyriacous jenen der am meisten als „konfessionell“ exponierten Kandidatin einer Kleinpartei: der in den Nationalrat gewählten Winterthurer Stadträtin Maja Ingold (EVP) sowie dem berühmtesten Zürcher Kandidaten Christoph Blocher (SVP) gegenüber.

Link

(Grafik zusammengestellt aus der Panaschierstatistik des Statistischen Amtes des Kanton Zürichs)

Die grafische Darstellung zeigt überdeutlich: der konfessionslose Kyriacou holte am meisten Panaschierstimmen bei den "Progressiven" links der GLP (Grüne, SPS), dort ist er - wenig überraschend - "wählbarer" als Chrisoph Blocher. Aber selbst bei bei diesen Parteien überwogen die Panaschierstimmen für die gestandene bürgerliche Politikerin der EVP haushoch. Einzig auf seiner eigenen Liste schlug Kyriacou (erwartungsgemäss) Christoph Blocher und Maja Ingold. Immerhin holte er mehr Panaschierstimmen auf der SVP Liste als Christoph Blocher. Was aber deutlich sichtbar wird: die Wahlempfehlung für Christoph Blocher des NZZ-Chefredaktors und Konsorten (Filippo Leutenegger &Co.) wurde deutlich gehört. Die FDP ist die einzige Partei, die - SVP inklusive!! - Christoph Blocher elektoral mehr honorierte, als die trockene, pragmatische Maja Ingold. Die Sache der "Konfessionslosen" ist aber trotz grossen medialen Lärms beim Stimmbürger - wie auch die Piratenpartei - als Spinnerei von Extremisten erkannt worden: Chancenlos. Noch am 1. Oktober 2011 schmeichelte sich der "Rationalist" Kyriacou auf dem Blog des Ständeratskandidaten der Grünen mit folgenden Worten ein:

Die Listenverbindung Konfessionslose, Piraten & AL hat den Sitz fast auf sicher. Wer auch immer aus dieser Listenverbindung das Rennen macht, die oder der Gewählte wird in Bern mit grösster Wahrscheinlichkeit zuallererst bei der grünen Fraktion anklopfen. Die Listenverbindung hat also das Potential, die Grünen auf schweizerischer Ebene zu stärken – und innerhalb der Fraktion das rationalistisch tickende Lager…

Die Zürcher Grüne Liste schafft es auch ohne Steigbügelhalter, den vierten Sitz zu halten.

Seit dem 24. Oktober wissen wir: weder gelang es seiner Listenverbindung den einen Nationalratssitz zu erobern, noch gelang es den Grünen ohne Unterstützung Kyriacous und seiner "Rationalisten" den vierten Sitz im Kanton Zürich zu sichern. Kyriacou scheitert auf der ganzen Linie. Schade um die AL (Alternative Liste), eine Partei die Erfahrung und kluge Köpfe hat. Aber man soll eben nicht im Trüben fischen wollen. Was ich schon immer vermutete: diese "Rationalisten" sind besoffen von der "Vernunft" aber sie haben wenig "bon sens" und schon gar keinen "common sense".



(bildquelle: Konfessionslose.ch offizielles Foto),

Dienstag, 25. Oktober 2011

#occupyparadeplaz in der reformierten presse

Liebe Besetzer des Lindenhofs, folgende Kolumne erschien am vergangenen Freitag, den 21. Oktober in der "reformierten presse", dem Organ, das alle Pfärrer, Kirchenpfleger, Kirchenleitungen und Angestellten der reformierten Landeskirchen (in allen Kantonen) der Schweiz zu sehen bekommen.
Hier im Blog ist auch die in der Kolumne erwähnte Karte beigefügt. Damit es alle sehen und lesen und nachvollziehen können. Zürich ist die Wiege der Reformation, wo der "Geist des Kapitalismus" (Max Weber) flügge wurde. Vielleicht kann hier aus den Aschen des alten Finanzplatzes ein neuer Phönix auferstehen.

Die Spitze von Manhatten 1703, einst "Neu-Amsterdam" dann "New York" mit der Wall-Street






Seit letztem Wochenende wird auch in Zürich demonstriert. Eine ältere Frau, die am Fusse des Bachtels vor allem der Kontemplation lebt, ist auch aufgebrochen und hat sich unter die demonstrierende Jugend gemischt. Ein grosser Umbruch sei im Gange, beschied sie mir. Ist Religion doch kein Opium, wenn diese Frau die Klause der Kontemplation verlässt und sich unter die Jugend mischt? Ist es Abrahams alter Ur-Durst nach Gerechtigkeit, der sich hier Bahn bricht und über den Atlantik wieder nach Zürich zurückbrandet? „Wall-Street“ ist zur Chiffre für das börsentechnische Babel geronnen. Die „Märkte“ sind der Moloch unserer Tage. Die „unsichtbare Hand“ - von Adam Smith als gütige Linke des Schöpfers gedacht - ist zur scheffelnden Schaufel ruchloser Gierhälse verkommen. Was sagen wir Reformierte dazu? Steht hier nicht die jüdisch-christliche Tradition des „Guten Hirten“ auf dem Spiel? Dieser in gefestigtem Gottvertrauen vorausschauende, gerechte Hüter und Heger, der auf dem Fünfliber prangt. Er ist umgeben von den 13 Sternen der 13 Orte der Alten Eidgenossenschaft und dem der Vulgata entnommenen Motto: „Dominus providebit“. Diesem Ethos des Guten Hirten dankt Wall-Street ihren Aufstieg zum Nabel des Finanzvertrauens. Im historischen Atlas von New York (Henry Holt&Company, 1994) ist auf Seite 40 ein Plan von New York um 1703 zu sehen. Wir sehen da, das geistliche Fundament der heutigen „Wall-Street“. Da lag südlich die „Old Dutch Church“ (Calvinisten), Richtung Broadway das „Presbyterian Meeting House“ (Calvinisten) am Broadway neben der Trinity Church war die „Lutheran Church“, weiter nördlich die „French Church“ (Hugenotten) und noch weiter die „New Dutch Church“ (Calvinisten). Die Wurzeln der „Wall-Street“ liegen also in Zürich, wo 1519 ein Hirtensohn aus dem Toggenburg ausgestattet mit Hirtenherz und -gewissen und dem besten Humanistenwissen seiner Zeit die Kanzel des Grossmünsters bestieg. „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes“ Wer hört ihn heute?

Freitag, 21. Oktober 2011

Schweizerspiegel: Am Tisch wider die Zeit




Die Oltener Intelligenzija hat sich eine Beiz gekauft


VON GIORGIO GIRARDET

Es gibt seit Kurzem ein Widerstandsnest, ein gallisches Bandenversteck. Und das mitten im verkehrstechnischen Herzen der Schweiz. Aber bis es so weit war, sahen sich die drei widerständigen Schweizer vor ein fast unlösbares Problem gestellt.

Der Schriftsteller Alex Capus, ungekrönter "König von Olten" und Präsident der SP-Ortsfraktion, ist als Erster am Ort des Geschehens und erklärt das Problem: "Am Namen Flügelrad wollten wir festhalten, aber heute wird ein Flügelpaar grafisch sofort mit Faschismus assoziiert darum mussten wir das Logo sehr wolkig gestalten."
Vier Jahre lang hing das Schild "Wegen Unfall geschlossen" in der grossen Fensterfront, dann setzten sich Capus und Werner de Schepper, die sich seit ihren Anfängen im Oltener Lokaljournalismus kennen, in Bewegung.

Pedro Lenz stiess zu den beiden Oltner "giue". Werner de Schepper wurde als "Schwiegermuttertraum" auf die hüftoperierte Besitzerin angesetzt. Lange hoffte sie, das Flügelrad, eine Traditionsbeiz der Eisenbahner zwei Schritte neben der Bahnhofshalle, wieder zu eröffnen. Schliesslich verkaufte sie. Als sie im Dezember bei der Neueröffnung im Rollstuhl über den versiegelten Riemenboden glitt, den sie einst mit dem Blocher bohnerte, weinte sie Tränen der Rührung.

Stolz zeigt Capus im Keller den schweren Eichentisch, den man aus dem Natursteingewölbe nicht wird entfernen können: "Hier wollen wir gut essen, gut trinken, erzählen und auf den Tisch klopfen." Man glaubt dem Hünen jede Silbe. Viertel vor zwölf, die ersten Gäste treffen ein.
Für 17 Frankengibt es ein Einheitsmenü à discrétion: 15 Franken darf der Steuerzahler in Solothurn für "Mehrkosten für auswärtige Verpflegung" abziehen: Es soll eine Büezer-Beiz bleiben. Chüschtige Älpler-Maggronen sind es heute am Montag, Gemüsesuppe und Salat inklusive. A la carte gibt es abends. "Das ist eben gut katholisch", verkündet der stellvertretende Chefredaktor der Aargauer Zeitung, Werner de Schepper, am Tisch, "es soll hier keiner hungrig vom Tische gehen, das ist burgundische Tradition."
Ein gemischtes Publikum, Freundinnen, Familien, Angestellte, Studenten findet sich ein. Unweit auch das Isebähnli, eine der ersten Genossenschaftsbeizen der alternativen Achtziger. Aber die drei Musketiere haben eine Aktiengesellschaft gegründet und, was sie mit Worten erworben, in die Rettung der Bähnler-Beiz gebuttert.

Der Verwaltungsrat in corpore sitzt mit dem Chronisten am Runden Tisch. "Du sorry, ig mues det chli lose", entschuldigt sich Lenz, der mit einer Migros-Tasche voller Bücher von seiner Agentin geschickt wurde, "die giue mache süsch gäng projekt oni mig."
Was im Flügelrad ausgeheckt wird, beschäftigt den Stadtrat von Olten. So geisselten Capus im Stadtanzeiger, dem amtlichen Publikationsorgan der Stadt Olten, und de Schepper in der Aargauer Zeitung im Zangenangriff den verpassten Ankauf einer Liegenschaft für die Museen der Stadt. Ob man eine Gegendarstellung einrücken könne, soll der Stadtrat interveniert haben. Unmöglich: Capus und de Schepper hatten nichts als die lauterste Wahrheit geschrieben.

Ein Leichtes wär es, aus der Gaststube, die 30 Bahnminuten vom Hauptbahnhof Zürich, 26 vom Bahnhof Bern und 25 von Basel SBB entfernt liegt, einen trendigen Literatentreff zu machen. Aber nichts da. Die an Stangen gehefteten Zeitungen lagern in den Original-Köchern, eine Ikone der biederen Solidschweiz.
Ein Verleger aus Weinheim, der Alex Capus in Deutschland lesen gehört hatte, ist mitsamt seiner Familie von der Autobahn nach Spanien abgewichen, um im Flügelrad einzukehren. Bankett-Gäste fragen, ob der Pedro, der aus seiner Wohnung über der Gaststube sein burgundisches Dialektreich regiert (Shortlist Schweizer Buchpreis 2010 Der goali bin ig, bald als Hörbuch und demnächst als Film), zum Dessert noch was lesen könnte. Alex Capus ist mit Léon und Louise auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Die Oltener Stadtväter knobeln schon, ob und wer, wenn der "freche Siech" es auf die Shortlist schaffen sollte, ein Reisli nach Frankfurt machen wird. Im Flügelrad ist die "Schwerkraft Olten" (SBB-Slogan) der suisse profonde zur Gaststube geworden, vielmehr: geblieben. Wider die Zeit.

Der Text erschien zuerst in der "Zeit (Schweizausgabe)". Text und Fotos: Giorgio Girardet.

Der fertige Text im Laptop, im Flügelrad mit Capus' Kolumne und einem Mass Rivella.


Ein letzter Blick zurück aus der Oltener Bahnhofshalle.


Sonntag, 9. Oktober 2011

Gender Studies: Meier, bei Ammann

von Giorgio Girardet

Der eheliche (der nicht der leibliche sein muss) Vater gibt dem Kind den Nachnamen. Dieser Grundsatz wird durch den Änderungsvorschlag der Rechtskommission des Nationalrates, im Streitfall den Nachnamen der Mutter dem Kind zu geben, auf den Kopf gestellt. Erstaunlich: Diese Regelung wurde auf Anraten eines alten Mannes (Prof. Cyril Hegnauer) in einer wohl männlich dominierten Kommission fast einstimmig getroffen.
Wie gehen aber emanzipierte Mütter mit dem Namen ihrer emanzipierten Töchter um? Eine kleine Beobachtung aus dem Alltag.
Wenn ich ehemalige Studienkolleginnen zu Hause anrufe, kommt es vor, dass ich auf deren haus- oder kinderhütende Mütter stosse. Wie melden sich diese Mütter emanzipierter Töchter, die entweder im Konkubinat leben oder ihren Ledignamen behalten haben, am Telefon? Zum Beispiel so: "Meier, bei Ammann." Wer ist Ammann? Der Schwiegersohn natürlich. Das Verwunderliche: So torpedieren gestandene, emanzipierte Frauen das Bemühen ihrer Töchter, ihren Ledignamen zu behalten. Erstaunt über diese Sabotage des von Frauen hart erkämpften Ledignamens durch die eigenen Mütter, begann ich mir Gedanken zu machen. Ich kam zum Schluss, in der Meldung "Meier, bei Ammann" komme ein gewisser Stolz und auch eine Erleichterung zum Ausdruck. "Gewiss, ich hüte hier Haus und Enkelkind, aber meine Tochter ist nicht alleinerziehend, sie ist in festen Händen, sie hat es gut, für dieses Haus bin nicht ich zutständig, dies ist das Haus von Herrn Ammann." Dies auch wenn an der Türglocke und auf dem Briefkasten der Wohnung in korrektester Gleichstellung beide Namen prangen: J.Meier/R.Ammann. Die enkelhütenden Mütter waren in beiden Fällen keine Huschelis. Nein, eine hat ihre Tochter allein im Feminismus erzogen, die andere ist eine tüchtige Geschäftsfrau. Die Töchter erzielten höhere Gehälter als ihre Lebenspartner.
Das Patronym, liebe Rechtskommission, hat eine gesellschaftliche Ordnungsfunktion, die offensichtlich von gestandenen, emanzipierten Frauen, wenn es um ihre eigenen Töchter geht, geschätzt wird. Die von feministischen Männern vorgeschlagene Regelung schüttet das Bad mit dem Kind aus. Sie wird - sollte sie das Parlament passieren - toter Gesetzesbuchstabe bleiben. Denn, wie Kinder und Familien heissen, entscheiden nicht alte Männer (Cyril Hegnauer) oder progressive Scheidungsanwälte (Daniel Vischer) in Kommissionen, sondern die enkelhütenden Grossmütter am Telefon. Und die halten auf Ordnung.
(girardet@uerte.ch)

Erschien zuerst in "Das Magazin" Nr. 50 / 2006

Samstag, 1. Oktober 2011

Schweizerspiegel: Ein Held der Freiheit

"NZZ"-Chef predigt in Zürich

Die Kirche Neumünster könnte mit ihrem pompösen Klassizismus auch den Calvinisten Neuenglands dienen. Das Zürcher Englischviertel kündet in Sandsteinvillen von den Grosstaten der Gründerjahre. Und genau hier entwickelte Markus Spillmann, Chefredaktor derNeuen Zürcher Zeitung, im Abendglanz des eidgenössischen Bettags seine Gedanken.
Der brillante Leitartikler und weit gereiste Sicherheitsexperte sprach zum Thema Freiheit. Er begann mit dem gefühlten Unterschied zwischen den Überwachungskameras Grossbritanniens in der Liverpool-Station in London und jenen in dem Tiananmen-Platz in Peking. Hier der demokratische Rechtsstaat, der die Sicherheit seiner Bürger gewährleistet. Dort der diktatorische Machtstaat, der dem Genossen mit Misstrauen begegnet. Mit diesem Beispiel will er seine Definition von Freiheit erklären. Dass Markus Spillmann dies tut, ist der Hartnäckigkeit einer tauben Dienerin am göttlichen Wort zu verdanken, der Pfarrerin Katrin Müller.

"Freiheit" habe etymologisch einen intimen, innigen Kern und sei nicht nur Rechtsbegriff. Sie habe jedoch ihre Grenzen, zei zugleich Verpflichtung, Würde, Mahnung und Verantwortung. Spillmann wählte eine Kampagne der Stadtverwaltung Zürichs zur Auslegung: "Erlaubt ist, was nicht stört". Möglichst wenig soll verboten sein - vor allem in der Finanzwelt wird er später während des Apéros präzisieren. Der NZZ-Chef appelliert an die Vernunft des Menschen: der Rahmen müsse so gestaltet sein, dass dieser nicht breche.

Ein Bettagslied umrahmte die Predigt in der Kirche Neumünster, die im Quartier steht, wo der Chefredaktor wohnt und heimisch ist. Und es klang so schön:
Beschirm uns, Gott, bleib unser Hort
erhalt uns durch dein gnädig Wort
und sichre Freiheit, Fried und Recht
uns und dem spätesten Geschlecht.
Herrlich, wie das alles zusammenpasste!

Beim Abendmahl blieb der getaufte, aber nur bedingt gläubige Protestant Spillmann sitzen. Man wunderte sich kurz - um dann zu schlussfolgern: So frei fühlt sich offenbar einer der wichtigsten Journalisten des Landes unter Christen! So frei, dass er es wagt, der Tradition von deren Freiheits-Sakrament zu brechen - allein aus Respekt vor ihrem Glauben. Wahrlich, der Mann ist ein Held der Freiheit!
LinkGIORGIO GIRARDET

(Erschienen in der "Zeit" (Schweiz) vom 22. September 2011)