Mittwoch, 15. Februar 2012

Kirche und Staat, das Gelöbnis (Vereidigung) und die „Basler Tradition“

Das Dienstpersonal soll schwören, der Grossrats-"Daig", weiss was sich "gheert" auch ohne "Scharade": Polizeiaspirant bei der Vereidigung vor Regierungsrat Hanspeter Gass in der Martinskiche am 14.Dezember 2010
Bekanntlich ist der eidgenössische Stand Genf einer der wenigen Kantone, in denen Kirche und Staat vollständig getrennt sind. In Basel-Stadt ist die Trennung bloss: „perfektioniert-hinkend“. Erstaunlicherweise hat gerade der als „Religionsterrorist“ verschrieene Genfer Reformator und brillante Jurist Johannes Calvin diese Lösung schon zu seinen Lebzeiten vorgespurt. Kein anderer reformierte Stadtstaat der Schweiz hat das Uhrwerk seiner republikanischen Institutionen so exakt austariert und justiert wie Genf, das „protestantische Rom“ (1555), das „neue Jerusalem der Völker“ (1919). Dieses fand gerade auch in dem von Calvin– in Rücksprache mit den übrigen reformierten Kirchen der Schweiz – bloss theologisch gebilligten, aber von der säkularen Justiz der „République de Génève“ nach der seit 1532 gültigen kaiserlichen Hals- und Gerichtsordnung (Carolina) auf dem Scheiterhaufen effektvoll inszenierten Todesurteil für den Ketzer Servet 1553 seinen drastischen Ausdruck.
Solche kalte Konsequenz blieb den anderen Reformierten erspart – und fremd. In Bern, Zürich und Basel blieben Staat und Kirche institutionell verbandelt: und weder ein Michael Servet, noch ein Hannibal Gaddafi bekamen je Probleme mit deren Justiz. Der Filz kennt softere Lösungen. Die Basler Philosophin, Ritualanbieterin, Verfassungsrätin und Grossrätin Martina Bernasconi regte 2011 in einem Anzug an, auch der Kanton Basel-Stadt möge von seinen Grossräten ein Gelöbnis (Amtseid) einfordern, wie es, bis auf Basel-Stadt und Innerrhoden, alle anderen Kantonsparlamente kennen. Nur die Basler Pietisten und die innerrhoder Katholen verzichten auf dieses zivile Ritual. In beiden frommen Halbkantonen macht das Vertrauen in den kuscheligen, konfessionellen „Daig“ eine Eidesformel beim Eintritt in ein weltliches Amt überflüssig (man kennt sich aus Gymi, Militär und Kirche): dumm sind die anderen: die Ausserrhödler, die Landschäftler. Wir meinen aber, eine solche Gelöbnisformel hätte vielen kirchenfernen und atheistischen Grossräten bei der Frage der „kleinen Anerkennung“ von Religionsgemeinschaften eine Wegleitung (guide) gegeben. Hätten sie die Genfer Formel schwören müssen:

Je jure ou je promets solennellement, de prendre pour seuls guides dans l‘exercice de mes fonctions les intérêts de la République selon les lumières de ma conscience, de rester strictement attaché aux préscriptions de la constitution et de ne jamais perdre de vue que mes attributions ne sont qu‘une délégation de la suprême autorité du peuple; d‘observer tous les devoirs qu‘impose notre union à la Confédération suisse et de maintenir l‘honneur, l‘indépendance et la prospérité de la patrie; de garder le secret sur toutes les informations que la loi ne me permet pas de divulguer. (siehe auch hier)
Die Basler Grossräte hätten als weltliche Behörde davor zurückgeschreckt, auf ihre historische Kirche (in Genf die église de Génève) und die weltberühmte Theologiefakultät (l’académie de Calvin!, in Basel: der Lehrstuhl Karl Barths!) als intellektuellen Standortfaktoren durch die Anerkennung von Christen-Sekten wie die esoterische „Christengemeinschaft“ und die auserwählte „neuapostolische Kirche“ auch nur den Schatten eines Zweifels fallen zu lassen.

Ohne diese Wegleitung im Amtseid (Gelöbnis) setzten sich die Partikularinteressen der Basler Grossräte hemmungslos durch. Die atheistische Juristin Tanja Soland (SP) findet Religionen gehören vom Staat kontrolliert (ein Genfer wäre entsetzt!), die Philosophin Martina Bernasconi (GLP) hofft auf vermehrte Kundschaft für ihre „philosophischen Rituale“ („Kirche und Religion spielen in unserer säkularisierten Gesellschaft eine immer kleinere Rolle“). Jede und jeder kocht auf der Zerstörung des in der Kirche Oekolampads und der theologischen Fakultät über Jahrhunderte gehüteten Basler Gemeinsinns sein individuelles Süppchen. Selbst deren emeritierter Pastor, Thomas Müry (LDP), übt sich im liberalen Athletismus der Berpredigt. Weder mit Naivlingen der Bergpredigt noch mit der „Niemandsnorm“ ist ein säkularer Staat zu machen. Ein Gelöbnis schüfe Klarheit, schärfte das Gewissen gegen Filz und Trägheit. Es wurde dann am 26. Oktober 2011 eine sehr baslerische Grossrats-Debatte.
Soll es mehr Disziplin im Rat schaffen? Da sehe ich schwarz, ich denke nicht, dass diejenigen Mitglieder des Rats, die am Morgen ihre Präsenz markieren und nach Sicherung des Sitzungsgeldes den Saal verlassen, wieder zurückholt.“
monierte der IV-Arzt und Menschenkenner Philippe Pierre Macharel (SP) und die grüne Frau, Brigitta Gerber (GB), erkannte richtig:
„Absicht scheint zu sein, die Grossräte und Grossrätinnen in ihrer Einstellung zu ihrem Amt zu verändern“.
(dies sei ferne! Solches geht nur für dumme Bullen!) um dann zu folgern:
„Wir müssen es für einmal nicht wie ein Grossteil der schweizerischen Kantone halten.“
Auch der liberale Conradin Cramer (LDP) kam zum Schluss:
„Aber es ist nun einmal keine Basler Tradition.“
Und kramte dann in der moralischen Mottenkiste des Pietismus:
„Vielmehr habe ich den Eindruck, dass es eine Selbstbespiegelung ist, wie wir sie meines Erachtens eher zu viel als zu wenig machen.“
Der Liberale, der das Gymnasium Bäumlihof durchlaufen hat, roch instinktsicher die Sünde der Eitelkeit aus dem Anzug der attraktiven Tessiner Ritualanbieterin aus dem katholischen Internat Berömünster („ich habe mich in mein Leben verliebt“!). Vor solch ausgeflippten Frauenzimmern hatte ihn seine Erbtante schon immer gewarnt.
Mit 40 gegen 25 bei 5 Enthaltungen wurde am 26. Oktober 2011 eine kluge Gewissens- und Bewusstseinsschärfung der Grossräte beim Beginn der Legislatur zum wiederholten Male im Rhein versenkt. Wie viele der 30 (dreissig von 100!) abwesenden Räte trotzdem Sitzungsgeld kassiert haben, wissen wir nicht. Ein lausiger Gemeinderat ist eine Strafe Gottes, pflegte die Mutter des Urner FDP-Urgesteins Franz Steineggers zu sagen. Säkular ausgedeutscht: jeder Kanton hat das Parlament, das er verdient.

Aber Martina Bernsconi darf hoffen. Sie liegt im Trend, als Frau, als Ethik-Dozentin und säkulare Ritualberaterin und vor allem als Listenzweite der trendigen Grünliberalen. Sie wird 2015 geloben. Nicht für Basel, sondern – nachdem sie den Eröffnungsgottesdienst der Legislatur im Berner Münster geschwänzt haben wird – „solennellement“ für die Eid-Genossenschaft. Wir wünschen ihr Glück! – - nicht der Ritual-Tante, nein der Eid – pardon -- der Gelöbnisgenossenschaft!
Giorgio Girardet

Freitag, 10. Februar 2012

„Wenn nur Gott da noch durchblickt …“

Was ist "Religionspolitik"? Ein Beispiel aus dem Basler Grossen Rat

Von Giorgio Girardet*

Die überaus knappe Vergabe der „kleinen Anerkennung“ an die „Neuapostolische Kirche“ am 11. Januar im Grossrat brachte ein tiefes Malaise an Text und Vollzug des Verfassungsartikels 133 ans Licht. 13 Grossräte fehlten, 16 enthielten sich  und 20 stimmten dagegen. Dass selbst das Präsidium sich in dieser heiklen Materie der Stimme enthielt sorgte für erleichterte Heiterkeit: Uff, 51, das Quorum geschafft, die Konfrontation umschifft. Jener Grossrat, der als einziger schon 2010 die Anerkennung der Christengemeinschaft ablehnte, ist ein Held. Wir erklären warum. 


„Religionsfragen scheinen reine Frauenfragen zu sein“ so eröffnete Dominique König-Lüdin die Fraktionssprecherin der SP am 11. Januar ihre „durchzogene“ Stellungnahme. Tatsächlich hatte zuerst die Regierungsrätin der federführenden Finanzdirektion, Eva Herzog (SP) gesprochen. Ihr folgten Martina Bernasconi (GLP) und Eveline Rommerskirchen (GB): beide mit „durchzogenen Stellungnahmen“. Herzog stellte die Zusatznachforschungen ihrer Verwaltung vor und meinte dann, ganz die promovierte Historikerin, „da Staat und Kirche getrennt sind“, empfehle sie, den Neuapostolen, da sie alle Kriterien erfüllten, die kleine Anerkennung zu erteilen. Diesem fundamentalen Grundlagenirrtum, dass das Dogma von der „Trennung Staat und Kirche“ in der Schweiz und speziell im Kanton Basel-Stadt {mit seiner „perfektionierten hinkenden Trennung“ (sic!),} schon Verfassungsrealität sei, widersprach im Saale einzig die SP-Jutistin, Tanja Soland. Sie erinnerte daran, dass „Staat und Kirche“ keineswegs getrennt seien. Ihr Fachwissen blieb aber folgenlos, denn auch sie erteilte den Neuapostolen die Anerkennung. Es sei gut, wenn Religionsgemeinschaften der Aufsicht des Staates unterworfen würden. 

Menschheit in zwei Teilen
Die Debatte im Basler Grossrat wurde zum Exempel für Tucholskys böses Diktum: 
 Der Mensch zerfällt in zwei Teile: In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der nicht denken kann."
In Basel sind nicht nur „Staat und Kirche“ angeblich getrennt, wie schier  alle Grossräte bis auf auf Tanja Soland glauben, sondern auch Theologie und Kirche haben nichts mehr miteinander zu tun.
Die Geschäftsführung der theologischen Fakultät, Sabine Müller-Schneider, diktiert am Telefon:
„Wir sind eine akademische Bildungsstätte und machen zwischen Akademie und Kirche eine strikte Trennung bei klarem Bekenntnis zum Gespräch“. 
Das einst „bifakultäre“ religionswissenschaftliche Departement der Universität ist seit dem 1. Januar keiner Fakultät mehr zugeordnet und flottiert „völlig losgelöst“ zwischen Theologie und Geisteswissenschaften. Und nein, dieser Zustand sei nicht symptomatisch für Konzeptlosigkeit am Rheinknie, sondern „ergebe sich aus den Strukturen“. 

Freunde und Feinde
Die Frage nach der Religion ist eine politische. Es geht, mit Carl-Schmitt, um die Freund-Feind-Unterscheidung, oder, mit Peter Sloterdijk (2006), um die „zentrale Zornbank“. Die katholische Konzils- und Universitätsstadt Basel, trat 1501 der Eidgenossenschaft bei und erst 1529 eröffnete Basel mit dem Humanisten Oekolampad ihre eigene an Zürich (1525) und Bern (1528) angelehnte, landeskirchliche Zornbank. Von 1529 bis 1910 – ganze 381 Jahre – kannte man am Rheinknie eine einzige „öffentlich-rechtlich-anerkannte“ Religionsgemeinschaft: die evangelisch-reformierte Staats- und Landeskirche.
Die 1911 erfolgte Anerkennung der „Christkatholischen Kirche“ war kein Akt des Gutmenschentums, sondern eine politische Freund-Feind-Entscheidung der Basler Pietisten gegen die römische Zorn-Zentrale, die bis 1972 nicht gewillt war in das Korsett des schweizerischen Staatskirchenrechts zu schlüpfen.
Jacob Burckhardt wusste noch: 
„Der Protestantismus ist als Staatskirche entstanden, und wenn der Staat indifferent wird, ist er in dubioser Lage“ (aus "Neuere Geschichte von 1450 bis 1598" in "Historische Fragmente aus dem Nachlass" 7. Bd.der Gesamtausgabe S. 282 - 333)
Und in „dubioser Lage“ ist der Protestantismus Oekolampads am Rheinknie unübersehbar: eine Kirche die aus dem Schrumpfen eine Vision macht.
Es waren drei Männer, die klar gegen die Anerkennung der Neuapostolen votierten. Der EVP-Fraktionssprecher Christoph Wydler bezweifelte deren „gesellschaftlichen Bedeutung“. SVP-Sprecher Heinrich Ueberwasser, votierte für Ablehung, weil er, mit einer Katholikin verheiratet, am eigenen Leib erfahren hat, wie das „problemlose Austrittsrecht“ der öffentlich-rechtlich anerkannten Römisch-Katholischen Kirche beschaffen ist. Und der „kommende“ FDP-Mann Baschi Dürr erinnerte den Rat daran, dass die „kleine Anerkennung“ nach Artikel 133 kein Rechtsanspruch sondern eine willkürliche politische Entscheidung sei.
Doch neben Grünen und Linken, die „mit Unbehagen“ ja stimmten oder sich enthielten, gewann die von Liberalen und Grünliberalen vertretene Anschauung die Oberhand, der Rat habe sich mit der Anerkennung der Christengemeinschaft auf eine Praxis festgelegt, die er nun als Wurmfortsatz seiner eigenen Unbedarftheit, der fairen Verwaltung des religionsneutralen Staates, gestützt auf die wertfreie Wissenschaft, aus Gründen des Diskriminierungsverbotes willenlos fortzuschreiben habe. Damit hat sich der Grosse Rat religionspolitisch in die selbstverschuldete Unmündigkeit verabschiedet.

In der Mitte der Gesellschaft
Wie weit diese Basler Begriffstrübung selbst in der Mitte der Gesellschaft wurzelt, zeigt der hochverdiente emeritierte evangelisch-reformierte Pfarrer, Thomas Müry (LDP), der im Grossrat bedenkenlos die Anerkennung der Neuapostolen befürwortete, wie auch der CVP-Vertreter André Weissen. Staatsklugheit hat es am Rheinknie schwer, wenn sie aus dem Munde eines SVP-Vertreters vorgetragen wird.
So dient nun der Artikel 133, von weisen Verfassungsvätern ersonnen, um die 20‘000 Basler Muslime allmählich an die Leine des Schweizer Staatskirchenrechts zu gewöhnen, dazu, die verarmenden und wegsterbenden christlichen Senioren aus den öffentlich-rechtlichen christlichen Kirchen in einen Zoo von billigeren charismatischen 500-Seelen-Sekten umzubetten. Den dreieinen Gott des Niceanums darf man in Basel mit Segen des „religionsneutralen Staates“ in drei öffentlich-rechtlich und in zwei privatrechtlich-anerkannten Darreichungsformen verehren. „Wenn nur Gott da noch durchblickt …“ kommentiert ein Leser auf „baz-online“.
In Basel zerstört sich die Leitkultur der Humanisten-Stadt an einer Überdosis Fairness-Fetischismus verbunden mit dem ihr eigenen Willen auch die zweite Wange dem säkularen Säkulum darzureichen. Und darum muss – gemäss Tucholskys Diktum – dieser unbekannte Grossrat, der schon 2010 wider die unbestrittene Anerkennung der Christengemeinschaft sein einsames „Nein“ einlegte, ein Kerl sein. Es war eines dieser mittlerweile raren Exemplare männlicher Männer, die nicht nur denken können und es auch wollen, sondern danach auch handeln: ein Held.

*Giorgio Girardet ist Historiker und lebt in Bubikon (ZH). Vgl. auch seinen Beitrag in der BaZ vom 11. Januar 2012

Der Text erschien in der "Basler Zeitung" vom 8. Februar 2012

Donnerstag, 12. Januar 2012

Religion als privates Accessoire



Der Basler Grosse Rat entscheidet über die Anerkennung der Neuapostolischen Kirche

Von Giorgio Girardet

Nach der 2010 anerkannten «Christengemeinschaft» soll die NeuapostolischeKirche die zweite evangelisch-charismatische Glaubensgemeinschaft sein, die im Kanton Basel-Stadt das Gütesiegel der staatlichen Anerkennung erhält. Aber: wird die «Kleine Anerkennung» im Geiste der Verfassungsdebatte gehandhabt?

Nicht nur für das British Commonwealth, auch für souveräne Republiken und liberale Rechtsstaaten ist das geordnete Verhältnis von Thron und Altar, von Kirche und Staat, entscheidend. Im Verhältnis von Staat und christlicher Religion gibt es seit dem Niceanum (325) sowohl anthropologische Konstanten als auch dramatische sozio-kulturelle Verwerfungen.
In den 1540er Jahren versuchte der Basler Rat, den Druck einer lateinischen Koranübersetzung im
Basler Stadtstaat zu verbieten. Der Koran sollte nur in einer handschriftlichen Version im Rathaus konsultierbar sein.

Um des Friedens willen
Ganz anders Basel in der Minarett-Abstimmung 2009: Der Koran kann als Reclam-Ausgabe für 20 Franken gekauft werden, die Regierung verbot aber das SVP-Plakat gegen Minarette auf der Allmend zu plakatieren (um den Religionsfrieden nicht zu gefährden). Regierungspräsident Guy Morin äusserte gar seine Vorfreude auf den Ruf des Muezzins. Basel-Stadt war der einzige deutschsprachige Stand der Eidgenossenschaft, der die Minarett-Intiative ablehnte. Welch dramatischer Wandel!

Es zeigt sich, dass die Religion zunehmend als privates, intimes Accessoire und nicht mehr als substantieller Aspekt der Konstitution eines Staatsbürgers begriffen wird. Selbst die Personalmarke («Grabstein») der Armee XXI kennt nur noch Namen und PIN-Nummer. Es öffnete sich ein Graben zwischen den vier als öffentlich-rechtliche «Religionsgemeinschaften» anerkannten «Kirchen» der Juden und Christen, deren kleinste weniger als ein Prozent der Einwohnerschaft erfasst, und den
neun Prozent in der Einwohnerkontrolle registrierten, nur marginal organisierten Muslimen. Die Umfrage der vorberatenden Kommission unter den Moslems förderte zutage, dass Finanzkraft, Bildungsressourcen, konfessionelle und ethnische Zusammensetzung dieser Bevölkerungsgruppe auf Jahrzehnte hinaus es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass sich diese auch nur annährend auf die Organisationsstufe der vier Religionsgemeinschaften aufschwingen können. Darum wurde das Institut der «Kleinen Anerkennung» geschaffen.

Die vier Kriterien
Da vor allem islamische Konfessionen im Blickfeld standen, wurde auf theologische Erwägungen verzichtet und vier pragmatisch-niederschwellige Kriterien festgesetzt: 1. geordnetes Finanzgebaren, 2. garantiertes Austrittsrecht, 3. Anerkennung von Demokratie und Rechtsordnung, 4.
«gesellschaftliche Bedeutung». Man unterliess es, eine quantitative Untergrenze für die «Kleine Anerkennung» festzulegen.  Nach gesundem Menschverstand ergibt sich als Untergrenze die Grösse der kleinsten Kirche mit «status publicus» der 1910 anerkannten Christkatholiken: 669 (2011).
Wie aber kam es, dass die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv in Basel präsenten Römisch-Katholiken erst nach über 100 Jahren als rein privatrechtlicher Verein den «status publicus» erlangten? Die Papstkirche war erst nach dem zweiten Vaticanum bereit, sich formal auf die
Bedingungen des säkularen Rechtsstaates und das Schweizerischen Staatskirchenrechts einzulassen.

Antiklerikaler Sündenfall
Aber mit der Anerkennung der 1873 abgesplitterten Christkatholischen Kirche und der Einführung der «hinkenden Trennung von Kirche und Staat» 1910 schuf der Basler Souverän in antiklerikalem Übermut jenen systemischen Sündenfall, der das Institut der «Landeskriche» (mit Besteuerung der juristischen Personen) und damit die theologische Hoheit über den Stadtkanton, die von 1529 bis 1910 bestanden hatte, preisgab.
Ihr Verschwinden wurde erst 1972 offensichtlich, als drei christliche Konfessionen sich den «status publicus» zusammen mit der israelitischen Gemeinde teilten. In der ersten Verfassung von 1833 war sie noch so gefasst:
«Die Landeskirche ist die evangelisch-reformirte; die Ausübung jedes andern christlichen Glaubensbekenntnisses ist unter Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen gewährleistet.» 
Die Basler Verfassungsväter von 2006 wollten den Muslimen unter allen Umständen jene Sonderbehandlung ersparen, welche katholische Eidgenossen in Basel zwischen 1803 und 1972, im Bund bis zur Abschaffung des Bistumsartikels erdulden mussten.

Weitere Kandidaten
Als erste bezog die anthroposophische «Christengemeinschaft» das Konstrukte der «Kleinen Anerkennung». Keine entfernte zu integrierende muslimischen Vettern von Abrahams Lenden, sondern die christlichen Jünger Rudolf Steiners. Weil sie bestens integriert sind, wurden sie 2009 diskussionslos durchgewinkt. Als zweite standen nun die «Neuapostolen» auf dem Teppich und hoffen auf Marketing für ihre Kirche, eine «Aussensicht» einholen, ein «Gütesiegel» zu bekommen, den Pestgeruch der «Sekte» loszuwerden.
Und die Muslime? Die Aleviten haben ihr Gesuch eingereicht. Ihr Präsident, Mehmet Kabakci, spricht gebrochen Deutsch, kein  Baseldytsch. Für seine 300 Familien, die in Fronarbeit das Zentrum an der Brombacherstrasse  aufgebaut haben, wäre die staatliche Anerkennung ein echter Integrationsschritt, sie könnten vom Feindbild «Muslim» erlöst werden, sich als «Aleviten» eintragen lassen. 120 Franken kostet der jährliche Mitgliederbeitrag pro Kopf. Das können alevitische Familien aufbringen, auch mit mehreren Kindern. Um bei der einstigen «Landeskirche» mitzumachen, muss ein Bebbi einen
Mitgliederbeitrag zwischen 250 und 800 Franken hinblättern. Darum sind in Basel die «Konfessionslosen», welche die Ansicht vertreten, man könne auch "ausserhalb der Kirche Christ sein", in Basel auf 43,9 Prozent angewachsen.

Der Grosse Rat muss sich beim zweiten Anlauf der «Neuapostolischen Kirche» bewusst sein, dass er mit jeder «kleinen Anerkennung» für eine niederschwellige (kostengünstigere) Religionsgemeinschaft, das finanzielle Fundament, aber auch die theologische Autorität seiner historischen Konfessionen und seiner theologischen Fakultät untergräbt. Das Institut der «kleinen Anerkennung» ist bisher nur von charismatischen Christen-Sekten genutzt  worden, die so einer theologischen Auseinandersetzung mit der akademischen Theologie auswichen. Dies mit dem Segen von Räten und Regierung. Ist das eine Religionspolitik, die der Stadtrepublik Burckhardts würdig ist?
erschien in der "Basler Zeitung" vom 11. Januar 2012 (hier zu abonnieren)


Ergebnis der Sitzung vom 11. Januar 2012 Protokoll

Bericht darüber auf "baz-online": "Die privatrechtliche Anerkennung der NAK wurde am Ende mit 51 gegen 20 Stimmen bei 16 Enthaltungen beschlossen." und unter allgemeiner Heiterkeit, weil selbst der Präsident des Grossrates sich der Stimme enthielt. 

Sitzverteilung im Basler Grossrat (100 Sitze)


SP                 32            eher dafür (mit Skepsis)
Grüne            13            eher dafür
GLP               5            dafür aus formaljuristischen Erwägungen
EVP               4            dagegen
CVP               8             ?
FDP              11            ?
LDP               9             ?
DSP               3             ?
AB                 1             ?
SVP              14            dagegen ("kleine Anerkennung" ist Fehlkonstruktion)



Mittwoch, 21. Dezember 2011

Handreichung zur Kirche für Journalisten

Liebe Kollegen, die ihr über die Schweizer Christen schreibet. Vermeidet den Unsinn, von der "Schweizer Kirche" zu schreiben und nur die Papstkirche zu meinen. Merkt auf! Dreierlei christliche Konfessionen kennt die Schweiz: die römisch-katholische (A: seit 325), die evangelisch-reformierte (B: seit 1523) und die christkatholische (C: seit 1873). Nur A anerkennt den Papst, nur A und C haben Bischöfe. Die Bischöfe von A sind in der Schweizerischen Bischofskonferenz zusammengefasst. Für C reicht ein Bischof für die ganze Schweiz. Die Landeskirchen (Kantone) von B sind föderal organisiert im SEK, "Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund", und haben eine Art siebenköpfigen "Bundesrat" mit Frauenmehrheit (!) und einem Präsidenten, der bleibt. Es ist derzeit Gottfried Locher, und wenn er sich "Bischof" von B nennt, dann will er provozieren! Der Sprecher der Bischofskonferenz ist Abt Martin (twitter!) von iSiedeln. Die Gurus von A heissen Priester, werden geweiht, dürfen weder Frauen sein noch welche heiraten.
In C dürfen auch Frauen Priesterweihe erhalten (geiles Thema!). In B werden die Orts-Gurus Pfarrer genannt, sie dürfen auch Frauen sein und auch heiraten. Sie werden nicht geweiht, sondern ordiniert (zu VDM = Verbi Divini Minister) durch die Landeskirchenleitung und dann installiert durch den Dekan ("Bezirksoberpfarrer", Leiter des Pfarrkapitels) nach Wahl durch die Kirchgemeinde. Alle diese Kirchen, die als öffentlichrechtliche Körperschaften nach Schweizer Staatskirchenrecht verfasst sind, haben demokratische Strukturen. A findet das nicht lustig. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist in jedem Kanton unterschiedlich geregelt. Das einzige Verbindende der drei Kirchen ist die Bibel und die gemeinsame Feier des eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettages seit 1832. Denn A und C feiern die Messe mit Eucharistiefeier (Hostie, Oblate), B feiert Gottesdienst manchmal mit Abendmahl (Toastbrot mit Traubensaft). Dies das Wichtigste. Haltet diese Lehren in Ehren. Studiert sie immer, bevor ihr zu Kirchlichem schreibt, auf dass eure Ignoranz verborgen bleibt.

Gedruckt in "reformierte presse"Nr. 48 2.12.2011 (online ref.ch)

Freitag, 9. Dezember 2011

Ulrich Ochsenbein (1811 - 1890): Vater des modernen Bundesstaates

Ulrich Ochsenbein ist eine prägende Figur der freisinnigen Regeneration und des frühen Bundesstaates. In diesem Post findet der Leser keine Eigenleistungen sondern nur gezielte Verweise auf die besten Informationsquellen im Netz. Nebst dem HLS , der "Encyclopedia Brittanica" und Wikipedia (auch alemannisch) ist hier vor allem die kürzlich veröffentlichte Biografie des Schweizer Journalisten Rolf Holenstein zu erwähnen. In 45 Sekunden orientiert dieses Video. Das Schweizer Radio kürzlich hat einen "Doppelpunkt" (8.12.2011, 20.03 Uhr, DRS 1) diesem herausragenden Schweizer der Regenerationszeit gewidmet. Zu seinem 200 Geburtstag hat sein Heimatort Nidau dem grossen Sohn einen Parcours gewidmet (Regionaljournal 11.11.2011). 1848 - 56 gehörte er dem ersten Bundesrat des Bundesstaates von 1848 an (Details zu seiner Wahl).

Flyer der Veranstaltung in Nidau

Interpellation von Philippe Messerli (EVP/Nidau)

Amazon-Kundenrezensionen


Notiz in "Journal 21"

Blocher referiert über Ochsenbein in Aarberg


Blocher referiert über Ochsenbein in Herrliberg (tele-blocher)

Dienstag, 6. Dezember 2011

Theologische Stellungnahme zum kirchlichen Gastrecht für die Occupy-Bewegung am Zürcher Stauffacher

Himmelshoergeraet I, 2007, Oel/Leinwand, Bild von Verena Mühlethaler

Pfrn. Verena Mühlethaler rechtfertigt das kirchliche Gastrecht der Occupy-Bewegung am Stauffacher

Folgende Erklärung wurde in der Zürcher City-Kirche "offener St.Jakob" am 26. November 2011 von Pfarrerin Verena Mühlethaler vorgetragen. Die Veröffentlichung in diesem Blog erfolgt mit der Einwilligung von Pfarrerschaft und Kirchenpflege der Kirchgemeinde Aussersihl.


Darf die Kirche politisch sein?
Das war eine der wichtigen Frage, die unser Entscheid, der Occupy-Bewegung Gastrecht zu gewähren, ausgelöst hat. Die Antworten gingen da ziemlich auseinander. Dazu möchte ich kurz Stellung nehmen.

Neben Gottesdienste feiern, Seelsorge, Bildung und sozialer Unterstützung (Diakonie) hat die Kirche meiner Meinung nach einen politischen Auftrag in unserer Gesellschaft.

Was meine ich mit politisch? Ich meine damit etwas ganz Grundsätzliches, wie es in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes „Politika“ zum Ausdruck kommt: Das meint alle Angelegenheiten, Tätigkeiten und Fragestellungen, die das Gemeinwesen („polis“, die Stadt), also die Allgemeinheit betreffen.

Der Grund, warum unsere Kirchen in diesem eben skizzierten Sinne einen politischen Auftrag hat, ist in der Bibel zu finden. Sie ist die Grundlegung und Richtschnur der Kirche. Die Bibel ist, nicht nur ein religiöses, sondern auch ein eminent politisches Buch ist. Ich möchte das an ein paar Beispielen ausführen:

Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch alle Schriften, die in der Bibel versammelt sind. In der Thora, dem Gesetz von Moses, stehen neben kultische auch Wirtschafts- und Sozialgesetze, die vor allem zum Schutze der Ärmsten da sind: den Sklaven, den Witwen, Waisen und Ausländer.

Deutlich wird das bei den Propheten: Das waren keine Wettervorhersager, sondern sie haben die gesellschaftlichen Missstände klar - und oft wortgewaltig – beim Namen genannt. Der Prophet Amos z.B. kritisiert, dass die wirtschaftlich Schwachen gepfändet, versklavt und unterdrückt werden, während die Reichen üppige Gelage feiern. Sie taten das im Namen jenes Gottes, für welchen die Armen und Unterdrückten Priorität haben. Des Gottes der will, dass in seinem Volk Recht, Gerechtigkeit und Güte verwirklicht werden.

Jesus stellte sich in diese Tradition. In seinen ersten öffentlichen Worten zitiert er den Prophten Jesaja und sagt: „ Der Geist Gottes ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen und das Jahr auszurufen, in dem alle von ihren Schulden befreit werden sollen“ (Lk 4, 18). Er nannte das auch das Reich Gottes. Ein Reich, in dem Gerechtigkeit und Frieden verwirklich sind. In der Bergpredigt sagt er, wir sollten uns nicht zu sehr um unseren eigene Bedürfnisse kümmern, sondern nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit suchen. Das Teilen und die gegenseitige Solidarität sind neben der Liebe Kennzeichen dieses Reiches. Diese Vision können wir ohne Gott nicht verwirklichen. Aber ebenso wenig kann Gott diese seine Vision ohne uns verwirklichen.

Unsere Kirche schafft das nie und nimmer alleine. Und darum freue ich mich sehr darüber, dass weltweit Menschen aufstehen und laut ein Halt rufen: So kann es nicht mehr weiter gehen. Und nach neuen Wegen suchen, wie der entfesselte Markt, insbesondere der Finanzmarkt, sich wieder mehr in den Dienst der Gesellschaft, nämlich der gerechten Verteilung des Wohlstanden, stellen kann. Und ich bin dieser Bewegung insofern dankbar, als dass sie unsere Kirche aus ihrer bürgerlichen Selbstgenügsamkeit aufweckt und sie an ihren eigenen, wichtigen Auftrag erinnert.

Schliessen möchte ich mit den Worten des Präsidenten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), Gottfried Locher: 

„Ohne Aussagen zum Hier und Heute ist das Evangelium von Jesus Christus kraftlos. Das Heil liegt nicht nur in der Zukunft, es beginnt jetzt: Christinnen haben sich gesellschaftlich einzumischen“


Presse: "Le Temps" (Genf), "Die Zeit" (Hamburg), Tristan Cef in "Tribune de Geneve" (Genf) via "Polit-blog", ref.ch, reformiert. de, " "Langenthaler Tagblatt", "Tages-Anzeiger", "wochenzeitung" "NZZ (16.11.2011)", "NZZ (28.11.2011)" "tele züri",

Predigten von Verena Mühlethaler im Netz:
Heiligabend 2011

Dienstag, 29. November 2011

Ein vergessener Mahner: Sigmund Widmer (1919 - 2003)

Dem "Stapi" Sigi Widmer einen Platz in der Willensnation zu sichern, scheint mir wichtig, denn er verkörpert idealiter den zwinglianischen Miliz-Bürger der vor 68er Jahre. Es ist kein Zufall, dass dieser Mann der bedachten Mitte 1982 aus dem Stadtpräsidium Zürichs schied (um der "bürgerlichen Wende" unter Thomas Wagner Platz zu machen), weil er den "Geist" der "Jugendbewegung der 80er" weder verstehen noch billigen konnte. Ich hole ihn hier aus der Versenkung, weil demnächst Texte von ihm hier wieder zugänglich gemacht werden sollen. Texte deren fundierte Eindringlichkeit vor dem Hintergrund der derzeitigen Vorgänge in der Welt an Aktualität gewonnen haben.

Sigmund Widmer war ein Vorbild meiner Jugend, in dem er Geschichte studierte, lehrte und auch machte als Offizier und Politiker. Seine Illustrierte Geschichte der Schweiz (1.Auflage 1965) bei Ex-Libris zeigt sein Engagement als kundiger Popularisator der vaterländischen Geschichte: sei war mein grosse Weihnachtsgeschenk 1977. Nach seinem Rücktritt 1982 wurde er Kolumnist im Züri-Leu. Der Chef-Redaktor Karl Lüönd druckte ihn in der erklärten Absicht "die linken Intellektuellen" zu ärgern. Tatsächlich wurden die Ausführungen des Mannes nur noch belächelt, auch wenn sie, gerade bezüglich seiner Skepsis gegenüber der Waldsterben-Hysterie im Nachhinein wahrhaft prophetisch waren.

Einen letzten Kampf focht Sigmund Widmer in der Zeit der Diskussion der Holocaust-Gelder. Er fühlte sich als durchaus kritischer Historiker von der Zeit überrollt und versuchte den Schaden von der Schweiz abzuwenden. Wir werden darum hier den einen oder andern Text von Sigmund Widmer demnächst einrücken.